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DREI

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Sven Gunnar Kjeldsen mochte Christiansborg so, wie man einen Arbeitsplatz nach vierzehn Jahren eben mag. Das Schloss war zur Gewohnheit geworden, zu einem Teil des Lebens. So sehr, dass er es nicht mehr im Bauch spürte, wenn er an den Ort als Dreh- und Angelpunkt des politischen Lebens des Landes dachte. So sehr, dass er sich nicht mehr an der großen Treppe und den historischen Gemälden früherer politischer Helden erfreute. Allerdings war er auch schon so lange hier, dass er – fast – nicht mehr über die ewige Konkurrenz zwischen Parteigenossen spekulierte, über die ständige Jagd nach fünfzehn Zeilen und einem Bild in der Zeitung, über die Unsicherheit, nicht mehr wiedergewählt zu werden oder die Angst, Stimmen zu verlieren.

Christiansborg war alltäglich geworden. Eine Tatsache, die weder gewogen noch gemessen oder sonst wie bewertet wurde.

In den letzten acht Jahren war Kjeldsen der politische Sprecher seiner Partei gewesen. Die Ernennung war seine bisher größte politische Enttäuschung gewesen. Sie folgte daraus, dass er kein Minister wurde, als die Demokratische Partei die Regierung übernahm. Er hat nie herausfinden können, wieso Aksel Bruun damals keinen Platz für ihn hatte. Alle hatten damit gerechnet. Er hatte sich einen schwarzen Anzug besorgt, für den Antrittsbesuch bei der Königin.

Die Wartezeit hatte er zusammen mit seiner Frau in seinem Haus in Charlottenlund verbracht. Der zukünftige Minister und die Ministerfrau hatten an diesem Abend einen besonders guten Rotwein getrunken, einen Bordeaux, den sie selbst bei einer ihrer vielen Reisen nach Südfrankreich im Weinschloss gekauft hatten. Sie sprachen darüber, dass die Reisen etwas Besonderes werden würden, wenn er Minister wäre. Heimlich hatte sie eine Flasche Champagner ganz hinten in den Kühlschrank gelegt. Die Zeit zog sich. Sie ließen es sich gut gehen, doch warum rief Aksel denn nicht an? Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, pochte Kjeldsens Herz. Jetzt geschah es. Jetzt kam alles zusammen. Jetzt ging sein Traum in Erfüllung. Und jedes Mal war es ein Parteifreund oder ein Journalist, der „nur mal hören wollte, ob sich was getan hat“. Alle warteten auf das Ergebnis der Verhandlungen zwischen dem Vorsitzenden der Volkspartei, dem zukünftigen Ministerpräsidenten und dem Vorsitzenden der Demokratische Partei, dem zukünftigen Außenminister. Einige warteten auf einen Anruf und das Angebot eines Ministerpostens, Unsterblichkeit, Macht, Ministerwagen, Chauffeur, doppeltes Gehalt und ungeheures Prestige.

Sven Gunnar Kjeldsen hatte viel darüber nachgedacht, welcher Ministerposten es wohl werden würde. Wirtschaftsminister war am wahrscheinlichsten, da er doch Ökonom war. Andererseits hoffe er auf das Kulturministerium. Leute aus der Kulturbranche waren ihm immer lieber gewesen als Unternehmer und Finanzleute. In diesen Kreisen war mehr Leben und Luft. Außerdem wünschte er sich ein Haltungsministerium anstelle eines Sachministeriums. Aksel wusste um sein Wissen und sein Interesse an der Kultur, auch wenn er nie Sprecher für Kultur gewesen war.

Als er mitten in der Nacht zu Bett ging, hatte er noch die kleine Hoffnung, dass die Liste noch nicht endgültig war, dass Aksel Bruun immer noch verhandelte. Doch morgens um sechs wussten die Radionachrichten, dass Dänemark in der Nacht eine neue Regierung bekommen hatte. Er hörte auch, wer Minister geworden war. Wieso zum Teufel war Herdis Kulturministerin geworden? Wieso konnte er nicht Wirtschaftsminister oder wenigstens Wohnungsbauminister werden? Wieso fand Aksel nicht, dass er Teil der Mannschaft sein sollte? Die Gedanken quälten ihn. Nach außen ließ er sich natürlich nichts anmerken. Nein, er hatte gar nicht daran gedacht, Minister zu werden. Ja, natürlich könnte das auch spannend sein. Aber nein, er war mit seiner parlamentarischen Arbeit so glücklich, dass er gar keinen Gedanken daran verschwendete. Sven Gunnar Kjeldsen hätte fast gekotzt, als er sich durch diesen Tag kämpfte und neidisch zusah, wie seine früheren Kollegen in ihren schwarzen Anzügen durch die Flure schwebten. Es war nur ein kleiner Trost, dass er ein paar Tage später zum politischen Sprecher gewählt wurde. Die Ministerliste hatte so viele Leute aus der Fraktion gezogen, dass es ein Hohn gewesen wäre, hätte er den Posten nicht bekommen. Politischer Sprecher einer Regierungspartei ist nicht gerade der attraktivste Posten der dänischen Politik. Einerseits repräsentiert man eine abgemagerte Gruppe, die nach Aufmerksamkeit hungert. Andererseits darf man nicht mal mit einem Halbsatz andeuten, dass die Politik der Regierung oder der Minister nicht hundert Prozent korrekt ist. Sven Gunnar Kjeldsen lernte schnell, mit viel Gewicht und Entschlossenheit, absolut nichts zu sagen. Gleichzeitig bestand ein großer Teil seiner Arbeit darin, die Opposition als unverantwortlich zu beschimpfen. Das war nicht schwer.

„Wie kannst du das sagen? Ihr wisst doch, dass sich das nie umsetzen lässt“, sagte er manchmal ehrlich erstaunt und empört zu Kollegen anderer Parteien, wenn sie sich im Flur oder im Büro trafen. Und der Kollege öffnet meist bloß die Arme, errötete leicht und murmelte irgendwas, wie „wir sitzen ja alle im selben Boot.“ Manch anderes Mal war die Antwort bloß die leidenschaftslose Feststellung, dass es in der Opposition halt so war. So lief das politische Spiel.

Kjeldsen schwor sich, niemals so tief zu sinken, wenn sich die Demokratische Partei wieder in der Opposition befinden würde.

Die Regierung war nie erfolgreich. Und als die Demokratische Partei endlich aus ihr austrat, machte er als politischer Sprecher weiter. Jetzt war seine Stellung innerhalb der Fraktion plötzlich viel herausragender als die vieler früherer Minister. Jetzt wurde es lustig, fand Kjeldsen. Jetzt würde er sie überholen.

Und an diesem Dienstagmorgen war er näher dran als jemals zuvor. Aksel Bruuns Unfall war noch keine vierundzwanzig Stunden her. Sven Gunnar Kjeldsen war, wie die meisten anderen in der Fraktion, erschüttert, doch er würde lügen, würde er behaupten, dass er persönlich tief betroffen war. Er hatte Aksel Bruun nie nahegestanden. Übrigens hatte das kaum jemand. Wegen seiner Unbestechlichkeit, seiner Integrität und seiner hohen Moral. Und doch war Sven Gunnar Kjeldsen traurig. Er freute sich keine Sekunde über die Chance, die dieser Unfall für ihn persönlich bedeutete. Auch ohne Unfall war die Zeit so oder so nicht auf Aksels Seite. Allerdings zögerte er auch nicht, zuzuschlagen. Wenn er es nicht tat, würde es bloß ein anderer tun.

Der politische Sprecher der Demokratischen Partei und vielleicht zukünftige Vorsitzende nickte der Wache hinter Glas am Haupteingang zu. Von allen in Christiansborg mochte er die Wachen am liebsten. Nicht, weil die ihn mochten. Im Gegenteil, sie würdigten ihn kaum eines Blickes. Und genau deswegen mochte er sie so sehr und bestand darauf, sie jeden Morgen zu grüßen.

An diesem Morgen gaben die Wachen vor, eine Wählergruppe aus Ældre Sagen in Horsens zu beobachten, die gerade angekommen war.

Zwanzig Minuten zu früh. Ihr regionaler Abgeordneter, mit dem sie einen Termin hatten, war noch nicht da, aber das machte nichts. Sie standen auch gern im Eingang und schauten sich um. Ein paar besonders Neugierige gingen in Richtung des Restaurants Snapstinget. Einer hatte eine große Tasche in der Hand. In den meisten anderen Parlamenten hätten zwei Wachen und ein Metalldetektor schon längst festgestellt, dass sich darin bloß eine Thermoskanne Kaffee und Käsebrote befanden. In den meisten anderen Parlamenten hätte man sie, wenn sie überhaupt so weit gekommen wären, gebeten, zurückzugehen und auf ihren Reiseführer zu warten und außerdem sofort ihre Besucherschilder anzustecken! Die beiden Alten waren nun die kleine Treppe hinaufgegangen. Rechts von ihnen lag das Büro der Wachen. Durch mehrere Bildschirme hatte man den Eindruck, dass man aus diesem Büro das Parlament komplett im Blick hatte. Die beiden Alten lächelten die Wachen an, die desinteressiert zurückblickten.

Sven Gunnar Kjeldsen freute sich täglich, dass er Politiker in einem der wenigen noch übrigen offenen Parlamente war. In Dänemark konnten alle direkten Kontakt zu ihren Politikern aufnehmen. Sie waren nicht bloß Sprücheklopfer. Kjeldsen war davon überzeugt, dass ein Terrorist die Wachen dazu bringen würde, ihm dabei zu helfen, die Bombe in den zweiten Stock zu schleppen, wenn er nur ordentlich gekleidet und nicht unverschämt war. Kjeldsen war auch davon überzeugt, dass die Zeit des offenen Parlaments ablief. Irgendwann würde etwas passieren. Irgendwann würden Besetzer oder andere Idioten die Tradition beenden. Es musste gar nichts schrecklich Ernstes sein. Es würde bloß ein Zeitpunkt kommen, an dem die Medien nichts anderes mehr zu schreiben hatten. Dann würden die Türen geschlossen, die Wachen aufgeweckt und Metalldetektoren aufgestellt. Und dann gab es kein Zurück mehr. Entweder war man Jungfrau oder nicht. Eines Tages würde es passieren. Das wusste Kjeldsen. Jeden Tag bis dahin empfand er als ein Geschenk, das das Land eigentlich gar nicht verdiente. Daher nickte er den Wachen hinter dem Fenster jeden Morgen zu, eben weil sie ihn kaum wahrnahmen. Wie eine Art Vertrag, der abgelaufen war, ohne dass jemand es bemerkt hatte. Wenn er nur weiterhin nickte und die Wachen ihn weiterhin ignorierten, dann konnten sie sich einbilden, dass es auch so in Zukunft weitergehen würde, dachte er.

Sven Gunnar Kjeldsen fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock. Eigentlich nahm er immer die Treppe. Er bewegte sich zu wenig und hatte trotz seines schlanken einhundertzweiundachtzig Zentimeter langen Körpers einen Bauchansatz. Nur einen kleinen, wie ihn ein Zweiundfünfzigjähriger durchaus haben kann. Aber trotzdem. Ein Journalist – er erinnerte sich an das Gesicht, aber nicht an den Namen und fand ihn sehr nervig – grüßte kameradschaftlich.

„Guten Morgen, Sven. Die Fraktionssitzung ist immer noch um zehn Uhr?“

„Guten Morgen. Ja, ja, natürlich“, antwortete Sven freundlich, ging aber weiter, ohne sich auf ein längeres Gespräch einzulassen. Vielleicht hätte er es tun sollen. Andere Politiker nahmen sich immer Zeit, um mit den Christiansborg-Journalisten zu sprechen, nahmen sie immer ernst. Selbst die dümmsten Kommentare und Fragen wurden beantwortet, als wären sie superoriginell. Genauso plötzlich konnten Journalisten nämlich zum Politikchef einer großen Zeitung werden. Und dann musste man sich besonders gut mit ihnen stellen. Er war in diesem Spiel noch nie sonderlich gut gewesen. Kjeldsen ging schneller am Fraktionszimmer unten im Flur vorbei in die Sicherheit seines Büros. Heute Morgen schaffte er es nicht mehr, alle möglichen Kollegen und Reinigungskräfte zu grüßen. Anders als die Wachen am Eingang würden die nämlich reden wollen, kondolieren, bedauern und nachfragen. Dazu hatte er wirklich weder Zeit noch Lust. Es war kurz vor neun. Er könnte vor der Fraktionssitzung gerade noch die Nachrichten im Radio hören, ein paar Tassen Kaffee trinken und die acht Zeitungen lesen.

„Morgen“, sagte er und trat in sein viel zu kleines Vorzimmer ein. Erst als er auf dem Weg in sein eigenes Büro war, fiel ihm auf, dass Inger, seine Sekretärin, nicht da war. Unbeirrt setzte er sich an seinen Schreibtisch. Die Zeitungen lagen bereit. Wie üblich in der Reihenfolge, die er mochte. Oben lag das Dagbladet. Unfall löst Führungskrise aus, stand oben auf der Titelseite. Er hatte den Artikel schon zu Hause gelesen. Es ist unklar, wer die Führung der Demokratischen Partei nach Aksel Bruun übernehmen wird. Der politische Sprecher Sven Gunnar Kjeldsen und der Fraktionsvorsitzende Erik Pingel werden wohl um den Posten konkurrieren.

Kjeldsen blätterte schnell die anderen Zeitungen durch. Der Expressen hatte sich anscheinend schon für Erik entschieden. Kjeldsen fehlt es an Format, lautete die Überschrift eines politischen Kommentars. Geschrieben von einem Kommentator, mit dem er sich mehrfach gestritten hatte. Inger kam herein, stellte den Kaffee hin und legte fünf Telefonnachrichten dazu.

„Herdis möchte, dass du sofort zurückrufst. Es klang recht wichtig. Und dann habe ich Bescheid bekommen, dass Erik die Fraktionssitzung auf zwölf Uhr verschoben hat.“

Kjeldsen schaute auf.

„Ohne Begründung. Bloß die Nachricht. Sie lag heute Morgen in meinem Zimmer.“, sagte sie.

„Ruf ihn an. Auf der Stelle. SOFORT!“ Die Wut drang ihm aus den Fingerspitzen. Er erkannte nicht, was dahintersteckte, aber es war kein Zufall. Nichts, was Erik Pingel tat, war zufällig.

Das Telefon klingelte. Bei ihm, nicht bei Inger.

„Ja!“

„Hans-Erik hier. Entschuldige, dass ich dich direkt anrufe, aber bei Inger war besetzt.“

„Das ist okay.“

„Warum wurde die Fraktionssitzung auf zwölf Uhr verschoben?“

„Das weiß ich nicht. Inger hat es mir gerade gesagt. Erik will mir etwas anhängen. Das weiß ich. Ich spüre es.“

Hans-Erik wollte ihn beruhigen, soweit es ihm als Jungen mit erst drei Jahren Erfahrung als Abgeordneter möglich war.

„Vielleicht gibt es ja einen vernünftigen Grund dafür.“

„Ja, und ich kann Papst in Rom werden“, kanzelte Kjeldsen ihn ab. „Hast du sonst noch was gehört?“

„Nein. Gestern Abend habe ich mit Karsten, Ejnar, Frank, Birgit und Elsebeth telefoniert. Sie alle unterstützen dich.“

„Das sollten sie auch. Was ist mit Knud?“

„Das weiß ich nicht. Ich glaube schon, aber er ist ein merkwürdiger Kerl. Wenn er sich unter Druck gesetzt fühlt, kann er schnell auf stur schalten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er Erik unterstützt.“

„Kannst du Elsebeth bitten, so bald wie möglich mit ihm zu reden? Vor ihr hat er keine Angst. Sie sollte ihm klarmachen, dass auf jeden Fall die Mehrheit der Fraktion hinter mir steht. Er ist nicht der Typ, der zur Minderheit gehören will. Apropos Typ: Was ist mit Svenningsen?“

„Ich habe gestern mit ihm gesprochen. Er kam zufällig in mein Büro und wollte, dass ich ihn lobe. Spontan meinte er, dass du und Erik umstritten wärt. Dass wir nach einem Kompromisskandidaten suchen sollen und dass ich ja ‚leider‘ zu jung sei.“

Kjeldsen und Hans-Erik lachten beide laut.

„Aber er ist dabei. Ich habe ihm versprochen, dass er beim nächsten Finanzplan eine kleine Umgehungsstraße in seinem Wahlkreis einbauen kann.“

„Na ja“, wandte Kjeldsen ein.

„Nur ruhig! Daraus wird ja doch nie was. Wir können Svenningsens Umgehung ja in drei Zeilen im Finanzplan erwähnen, dann weiß das Finanzministerium, dass wir das nicht ernst meinen.“

„In diesem Finanzplan gibt es bald eine Umgehungsstraße oder ein Stück Autobahn für jeden Abgeordneten“, beschwerte sich Kjeldsen.

„Na und? Das machen die anderen doch genauso. Das ist schon in Ordnung. Svenningsen kann nicht als einziger in seinem Landkreis keine Umgehungsstraße in der Hinterhand haben.“

„In Herr Gotts Namen, okay.“

„Svenningsen ist mit auf unserer Straße, der Umgehungsstraße …“, sagte Hans-Erik Kolt und lachte auf. Obwohl erst dreiunddreißig, war er schon ein erstklassiger Politiker. Er war noch nicht hundert Prozent betriebssicher, aber das alles war, wie es sein sollte. Hans-Erik hatte den ganzen Abend daran gearbeitet.

Inger stand in der Tür.

„Ja?“

„Herdis hat noch mal angerufen. Sie sagt, es sei wichtig. Und Ulrik Torp vom Dagbladet will vor der Fraktionssitzung gern mit dir sprechen.“

„Wusste er denn, dass die erst um zwölf Uhr stattfindet?“

„Offensichtlich.“

„Das ist doch unglaublich! Bin ich der Letzte, der es erfahren hat? Hast du Pingel erreicht?“

„Nein. Seine Sekretärin ist noch nicht da. Er ist weder zu Hause noch auf seinem Handy erreichbar. Und Peder Schou ist noch nicht im Sekretariat. Die Mitarbeiter wissen nicht, wo er ist. Sagen sie.“

Kjeldsens Durchwahl klingelte schon wieder.

„Ja!“

„Hier ist noch mal Hans-Erik, hast du die Ritzau-Meldungen gelesen?“

„Nein, ich habe Ritzau nicht gelesen. Seit ich hergekommen bin, werde ich ständig gestört.“

„Dann tu das“, sagte Hans-Erik und legte auf.

Kjeldsen schaltete den Computer an und fluchte, weil der eine Minute benötigte, um hochzufahren und die Verbindung zu Ritzau herzustellen. Endlich! Vor zwei Minuten, um 09:32 Uhr, war ein Telegramm mit folgender Überschrift gekommen:

Pingel: Aksel war mein Lehrmeister.

Darunter stand:

Der Fraktionsvorsitzende der Demokratischen Partei, Erik Pingel, besuchte am Dienstagmorgen Aksel Bruun, der aufgrund eines Autounfalls, bei dem am Montagmorgen Bruuns Frau ums Leben kam, immer noch im Koma liegt. Zusammen mit Parteisekretär Peder Schou und einem großen Blumenstrauß kam Pingel ins Rigshospital, wo er mit dem behandelnden Arzt von Aksel Bruun sprach. Nachdem er fast eine Viertelstunde allein am Bett des alten Parteivorsitzenden verbracht hatte, trat ein sichtlich bewegter Erik Pingel vor die zahlreich versammelten Pressevertreter:

„Ich habe mit den Ärzten über Aksels Zustand gesprochen. Es ist zweifellos ernst. Er liegt im Koma, aber er lebt und hat die Chance, wieder aufzuwachen, heißt es. Ich hatte gerade die Gelegenheit, allein an seinem Bett zu sitzen, und mache keinen Hehl daraus, dass ich denke, das Leben kann manchmal grausam sein. Er hatte noch so viel zu geben. Persönlich kann ich sagen, dass ich alles, was Politik betrifft, von ihm gelernt habe. Und ich glaube, das gilt für viele.“

Ein bewegter Erik Pingel brach daraufhin das Treffen mit den Journalisten ab, entschuldigte sich mehrfach und verschwand durch eine Hintertür. Der Parteisekretär Peder Schou informierte dann darüber, dass – entgegen anderslautender Gerüchte – bei einer Fraktionssitzung heute noch nicht über die zukünftige Leitung der Partei entschieden werde. Noch hofft man, dass Aksel Bruun überleben und als Vorsitzender weitermachen kann, erklärte Peder Schou.

Sven Gunnar Kjeldsen starrte stumm den Computerbildschirm an. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Das war ja fast Leichenfledderei. Kjeldsen ließ sich auf den Stuhl fallen. Erst die Fernsehnachrichten gestern Abend und nun das. Alle würden glauben, dass es ihm egal war und Pingel wie ein Sohn für Aksel war.

„Du musst nicht nach Erik suchen. Ich habe ihn gefunden“, sagte Kjeldsen ruhig zu Inger, die in der Tür stand.

*

Peder Schou war ein sicherer und dynamischer Autofahrer. Er schaltete in den dritten Gang runter, fuhr schnell am Lkw vorbei und dann, noch knapp bevor der Querverkehr grün bekam, über die Kreuzung. Die Rushhour war überstanden. Jetzt konnte er etwas freier fahren.

„Ich finde, du solltest mitkommen.“

„Auf keinen Fall.“ Erik Pingel stand kurz vor einem Wutausbruch. Es war das dritte Mal seit Mitternacht, dass Peder Schou ihn zu überreden versuchte. „Wenn herauskommt, dass ich dabei bin, bin ich erledigt. Das musst du doch verdammt noch mal einsehen.“

Das wusste Peder Schou sehr wohl. Allerdings wusste er auch, wenn Pingel nicht dabei wäre und es herauskäme, dass er – der Parteisekretär der Demokratischen Partei – an so etwas teilnahm, dann konnte niemand – besonders Pingel nicht – ihn schützen. Schou suchte nach einer Versicherung. Er hatte sie noch nicht gefunden.

„Setz mich etwas entfernt von Christiansborg ab. Dann sehen wir uns in zwei Stunden bei der Fraktionssitzung. Die Radionachrichten fangen an!“

Peder Schou schaltete genau zu Beginn ein. Es war der erste Beitrag. Er schaltete aus, als der Sprecher über einen drohenden neuen Krieg auf dem Balkan sprach.

„Siehst du, dass es eine gute Idee war, schon jetzt ins Rigshospital zu gehen.“ Peder Schou war stolz, wie immer, wenn er eine gute Idee gehabt und sie gegen Widerstände oder Skepsis durchgesetzt hatte. Erik Pingel hörte ihm kaum zu.

„Er war ein guter Kerl, der Aksel. Das war er wirklich.“

„Er war schwach“, sagte Schou und betonte schwach. Er ignorierte die gelbe Ampel am Rådhusplads, fuhr über den H.C. Andersens Boulevard und halb auf den Radweg vor der Ny Carlsberg Glyptotek.

„Er war schlau, Peder. Er war schlau. Täusch dich nicht.“ Pingel charakterisierte Aksel Bruun in einem warnenden Tonfall. Offensichtlich sollte niemand was Schlechtes über den Alten sagen. Erik lebte sich wirklich in die Rolle ein, dachte Schou, als der Fraktionsvorsitzende aus dem Wagen stieg.

„Bis später.“

Peder Schou verabschiedete sich zu spät. Die Tür war bereits zu. Pingel hatte gesehen, dass die Fußgängerampel über den H.C. Andersens Boulevard grün leuchtete. Schou nutzte die Gelegenheit, wieder zurück auf den Boulevard zu fahren, weiter Richtung Amager. Zum Teufel mit dem Treffen. Es war ihm egal.

Erik Pingel eilte über die Ny Vestergade nach Christiansborg. Er wusste, dass die vierhundert Meter bis zur Haupttreppe die einzige frische Luft waren, die er heute bekommen würde, und genoss sie umso mehr. Der Regen und der Wind von letzter Nacht waren verschwunden. Jetzt herrschte eine angenehme Herbstkühle. Die Sonne setzte sich gerade durch. Er schaute auf die Uhr. Noch fast zwei Stunden bis zur Fraktionssitzung. Es sollte wohl reichen, aber er hatte viel zu tun. Er ging an Ridebanen vorbei, sah dort die Reiter, die mit ihren Pferden trainierten, und wunderte sich darüber, in einem Land zu wohnen, in dem königliche Pferde mitten in einer Großstadt lebten, direkt neben einem Parlament, dem es trotz der über 30.000 Quadratmeter und 1.500 Zimmer in Christiansborg an Platz fehlte.

Pingel stieg die große Treppe immer zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf, sog die letzte frische Luft ein, strich mit der linken Hand die Haarsträhne aus den Augen, ging an den Wachen vorbei zur Treppe und hoch zum

Parlamentssaal. „Tag“ und „Hallo“ sagend ging er weiter, am kleinen Durchgangszimmer mit den Porträts von Ministerpräsidenten und Parlamentssprechern vorbei, bis zum Aufzug und hoch in den zweiten Stock.

Die meisten, die Erik Pingel nicht persönlich kannten, sahen in ihm einen fröhlichen, unbesorgten und doch seriösen Politiker. Dass er anscheinend uneitel war, machte ihn nur noch beliebter. Dass er gerade so die überkämmte Glatze vermied, war der Verdienst seiner Frau. Ihm selbst war das egal. Sein ganzes Leben lang hatte er sich neutral und leidenschaftslos gekleidet, bis er zum Minister für Handel und Industrie ernannt worden war. Damals gab er mithilfe seines Ministerialsekretärs das komplette erste Gehalt für neue Kleidung aus. Er selbst fand das irre, aber akzeptierte, dass es sein musste.

Pingel liebte Christiansborg. Es war eine heiße und leidenschaftliche Beziehung. Wie eine Hochzeitsnacht, die nie endete. Er liebte sein Büro, seine Sekretärinnen und Mitarbeiter, die taten, was er sagte. Er liebte es, Strategien für Verhandlungen auszuarbeiten, Sprecherposten in der Fraktion zu verteilen, sodass genau die Richtigen sauer, enttäuscht, froh oder erleichtert waren. Er liebte es, einen Vorsitzenden einer Branchenorganisation, der sich für jemanden hielt, Idiot zu nennen. Er liebte es, bis spät in die Nacht in Verhandlungen zu sitzen, mit der Möglichkeit, schließlich den Stecker zu ziehen. Er liebte das Gefühl, dass die Macht schon groß war, aber noch größer werden könnte. Er liebte es, bei Konferenzen mit dem Ministerpräsidenten über „diesen schönen Tag“ zu träumen. Er liebte den unverschämten Service im Snapstinget, der historisch war und nur noch vom schlechten Essen übertroffen wurde. Er liebte Brydesens Cafeteria im zweiten Stock und die ewigen Kartoffelgerichte. Er liebte das Klingeln im gesamten Schloss, wenn zur Abstimmung gerufen wurde. Er liebte die kleinen Lautsprecher in allen Büros und Zimmern, an denen man nur einen Knopf drehen musste, um der Debatte im Saal zu folgen. Er liebte die Journalisten – auch die, die er nicht mochte. Er liebte die wenigen kompetenten, die ihm – fast – das Wasser reichen konnten und das Spiel – fast – durchschauten. Er liebte es, sie alle an der Nase herumzuführen – besonders so, dass sie es nicht merkten. Er liebte seine politischen Gegner. Sogar Kjeldsen liebte er. Er konnte morgens Christiansborg inhalieren, es ganz tief in die Lunge einatmen und den Genuss und die Zufriedenheit im Körper noch abends spüren, wenn er schlafen ging. Er hatte nicht das Bedürfnis, auszuatmen. Im Gegenteil. Im Geschäftsleben hieß es immer, die erste Million sei die schwerste. So war es auch in der Politik. Das Schwerste – also Parteivorsitzender zu werden – stand jetzt ganz nah. Der nächste Schritt, Oppositionsführer zu werden, wäre dann eine klare Sache. Dann fehlte ihm nur noch das letzte bisschen und dann wäre er angekommen!

Jetzt durfte nichts mehr schiefgehen, dachte er und bog scharf nach links ab.

„Hallo Bente!“

Seine Sekretärin sah auf und öffnete den Mund.

„Ich weiß schon“, unterbrach Pingel, „Siebenundvierzig Telefonnachrichten, davon elf sehr wichtige, sechs Parteimitglieder, die sofort mit mir sprechen wollen, einen Stapel Post und die Fernsehnachrichten dazu. So in etwa?“

„So in etwa“, sagte Bente und lächelte.

„Gib mir eine Viertelstunde für mich, dann legen wir los.“ Pingel schwang seinen Baumwollmantel über den Schreibtisch seiner Sekretärin, sodass die Telefonnachrichten und Papiere zur Seite flogen. Der Fraktionsvorsitzende verschwand in seinem riesigen Büro, das wie eine kleine Einzimmerwohnung eingerichtet war, mit Sofas, Esstisch, Arbeitsecke und einem Fernseher samt Sessel.

Ausnahmsweise schloss er selbst die Tür hinter sich.

„Jetzt ist er da.“

Obwohl Pingels und Kjeldsens Büros nicht mal fünfzig Meter auseinanderlagen, sprachen die Sekretärinnen fast ausschließlich am Telefon miteinander. Und das auch nicht oft. Sie hatten nie ein enges, kollegiales Verhältnis zueinander gehabt. Es war, als wüssten sie, dass die langjährige Rivalität ihrer Chefs es erschwerte. Aber die beiden Sekretärinnen waren immer freundlich und korrekt zueinander.

„Gut. Ich soll von Sven ausrichten, dass Erik gern vorbeikommen kann.“

Inger hielt die Luft an. Sie wusste, dass es jetzt Probleme gäbe.

„Am besten wäre, er käme her – und zwar erst in einer Viertelstunde“, antwortete die Sekretärin des Fraktionsvorsitzenden.

Es war der ewige Kampf darum, wer zu wem ging. Die Sekretärinnen verstanden manchmal nicht richtig, wieso mächtige Männer, die um die höchsten Posten des Landes buhlten, so einen Wert darauf legten, wer die fünfzig Meter über den Flur ging und wer den Kaffee ausgab. Sogar die Telefonate wurden manchmal aufgeschoben, weil der eine wollte, dass der andere anrief. Manchmal nahmen die Sekretärinnen die Sache selbst in die Hand. Sie stellten die Verbindung her, und zwar so, dass sowohl Pingel als auch Kjeldsen glaubten, der jeweils andere hätte angerufen.

Heute war es besonders ernst, das wussten sie.

„Ich habe damit jedenfalls die Nachricht weitergegeben“, sagte Inger. Sie legten beide auf.

Erik Pingel hatte gerade das wichtigste Telefonat des Tages beendet, da steckte Bente vorsichtig den Kopf zur Tür herein.

„Sven möchte gern mit dir sprechen. Er … ist in seinem Büro.“

„Damit habe ich gerechnet. Ich gehe schnell zu ihm rüber“, sagte Pingel.

Bente schaute verwundert zum Fraktionsvorsitzenden, der das Büro verließ und die berüchtigten fünfzig Meter den Flur entlangging.

„Guten Morgen, Inger. Jetzt scheint die Sonne aber so richtig, was!“ Pingel lächelte und ging direkt weiter zu Sven Gunnar Kjeldsens Bürotür. Er öffnete sie, ohne anzuklopfen, ohne auf eine Antwort der Sekretärin und auf ein „Herein“ von drinnen zu warten.

„Hallo Sven! Du musst entschuldigen, weil ich dich heute Morgen wegen der Fraktionssitzung nicht erreicht habe. Ich hoffe, Inger hat dir rechtzeitig Bescheid gesagt. Ich dachte, es wäre für uns alle am besten, wenn wir den Vormittag frei hätten, um etwas über den Tag gestern zu sprechen.“

Kjeldsen fühlte sich überrumpelt. Er stand gerade und wollte sich eine Tasse Kaffee eingießen.

„Ja, das ist schon in Ordnung. Kein Problem. Willst du einen …“ Kjeldsen konnte den Satz nicht beenden, bevor Pingel einen Becher gefunden und sich selbst einen Kaffee eingeschenkt hatte.

„Ich habe gesehen, dass du im Rigshospital warst?“

„Ja, es sieht nicht gut aus.“ Pingel setzte sich in den niedrigen Stuhl vorm Schreibtisch. „Die Frage ist, ob er überlebt. Und dann sind da auch noch sein Sohn und die Enkel. Ich wollte dich zuerst anrufen und fragen, ob du mitkommen willst, aber dann dachte ich, dass du wahrscheinlich schon da gewesen warst oder später noch hingehen willst.

„Nein. – Ich wollte eigentlich heute Nachmittag hin. Vielleicht mit meiner Frau.“

„Gute Idee. Ich war mit Peder dort, wie du vielleicht gehört hast. Damit hat die Partei praktisch auch einen Strauß überbracht.“

„Ja, ja. Das ist schon klar.“

„Na, aber das war ja eigentlich nichts für die Fraktionssitzung.“ Pingel erwartete keine Antwort. „Wir werden Aksel vermissen, sollte er jetzt von uns gehen. Das werden wir verdammt sicher.“

„Ja, das stimmt.“

„Aber die Ärzte haben deutlich gesagt, dass die Chance besteht, dass er aufwacht. Daher finde ich, dass wir Aksel noch eine Weile eine Chance geben sollten. Sowohl gegenüber den Journalisten als auch gegenüber der Partei. Stimmst du mir zu, Sven?“

„Ja, solange er lebt, besteht noch Hoffnung“, hörte Sven Gunnar Kjeldsen sich sagen. Irgendetwas stimmte bei diesem Gespräch nicht. Das heißt, Kjeldsen könnte gleich mehrere Dinge nennen, die an dem Gespräch merkwürdig waren. Es war nicht nur hektisch. Es verlief einfach nicht so, wie er es geplant hatte. Pingel, dieser Dreckskerl, schaffte es immer, alles umzudrehen. Nein, irgendetwas war ganz grundlegend verkehrt. Er konnte bloß nicht den Finger darauf legen.

„Dann machen wir das so. Ich muss gehen. Unglaublich viele Anrufe. Wir sehen uns beim Fraktionstreffen um zwölf Uhr.“ Erik Pingel stand auf, drehte sich um und verließ das Büro.

Den Kaffee hatte er nicht angerührt.

Königspatience - Intrige im Parlament

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