Читать книгу Ende der Kreidezeit - Niki Glattauer - Страница 9

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Die beste Freundin der Lehrerin Reingard Söllner, 48, war nicht Lehrerin, sondern diplomierte Krankenschwester in einem Pensionistenwohnheim. Einmal stellte Reingard Söllner ihrer Freundin, der Krankenschwester, die rhetorische Frage, ob sie wisse, welche Krankheit all die Männer zwischen ihren Beinen hätten: „Kannst du mir sagen, welche Krankheit die ganzen Männer zwischen ihren Beinen haben?“, fragte Reingard Söllner, als sie mit ihrer Freundin am südöstlichen Rand der großen Stadt auf einer städtischen Grünfläche Bärlauch pflücken war. „Meinst du die Männer auf meiner Station?“, fragte die diplomierte Krankenschwester, die die Rhetorik nicht auf Anhieb verstand, zurück.

—Nein, ich meine alle Männer. Alte und junge, Inländer, Ausländer, Lehrer – alle Männer.

—Krank zwischen den Beinen?

—Ja, haben die da etwas, das ich nicht kenne? Ich meine, abgesehen von du weißt schon?

Da kam ein attraktiver Streifenpolizist und unterbrach das einseitig rhetorisch geführte Gespräch, indem er die zwei Frauen grüßte und dann ansatzlos und ganz und gar nicht rhetorisch fragte, was sie hier täten.

„Guten Tag. Was tun Sie da in der Wiese?“, fragte der attraktive Streifenpolizist, er war aus einem fernen Bundesland, man verstand ihn kaum.

—Bärlauch pflücken.

—Was?

—Wie bitte, heißt das.

—Sie pflücken wie bitte?

—Nein, Bärlauch. Es heißt nur wie bitte und nicht was.

—Das Gras, das Sie da in der Hand haben?

—Ja, das ist Bärlauch. Man kann ihn essen. Zum Beispiel kann man Dumplings damit füllen, also Teigtaschen.

—Was für Taschen?

—Welche Taschen, heißt das.

—Sind Sie Lehrerin?

—Ja.

—Deutsch?

—Nein Mathematik und Physik.

Warum fragen Sie? Weil wir Bärlauch pflücken?

So ging das Gespräch noch eine Weile hin und her, dann gab sich der attraktive Streifenpolizist aus dem fernen Bundesland einen Ruck und sprach eine Ermahnung aus: Bei der Grünfläche handle es sich um eine städtische Grünfläche, deren Betretung verboten sei, infolgedessen es auch zu keiner Pflückung von Gras kommen dürfe, welchen Ursprungs und Namens auch immer. Ausnahmsweise belasse er es das eine Mal noch bei einer Verwarnung und sehe er von einer Konfiszierung des … ab.

„Wissen Sie, dass wir hier in meiner Kindheit Rettich aus dem Boden gegraben haben und dass es hier sogar Himbeerstauden gab?“, schrie die frisch verwarnte Lehrerin Reingard Söllner. Sie war traurig und ihr war zum Schreien überhaupt nicht zumute, aber sie musste den attraktiven Streifenpolizisten aus dem fernen Bundesland anschreien, sonst hätte er sie nicht gehört, denn eben rasten links zwei Gigaliner brüllend an der städtischen Grünfläche vorbei, jeder 25 Meter lang, jeder 16 Räder, jeder 157 m3 Ladevolumen, einer rot, einer blau. Sie sei nämlich hier aufgewachsen, schrie sie, damals sei das, wo sie jetzt stünden, noch eine ruhige G’stättn gewesen, hier hätten sie als Kinder in den Büschen Verstecken gespielt, sie und die zwei Söhne des berühmten Schauspielers G., Aaron und Nikolaus. Das konnte der attraktive Streifenpolizist jetzt bei bestem Willen nicht mehr verstehen, denn auf der Fahrbahn rechts neben ihm brach plötzlich mit Riesengebrüll ein selbstfahrender EuroCombi aus der Kolonne, 60 Tonnen Lebendgewicht, 25,25 Meter lang, mit 7 Meter langen Stoßzähnen. Ein Auto nach dem anderen kippte er damit von der Straße, manche hob er auch einfach aus der Fahrt und wirbelte sie in die feinstaub- und CO2-belasteten Lüfte, vermutlich, um schneller vorwärtszukommen, vielleicht auch nur aus Rache oder Langeweile. Wild flogen jetzt überall Autos durch die Luft, gelbe Skodas und blaue BMWs, ein roter VW Golf krachte keine fünf Meter neben ihnen zu Boden. Zum Glück stieg die junge Fahrerin unverletzt aus dem Wrack. Schnell machte sie ein Selfie, ehe sie ihren Weg zu Fuß fortsetzte, sie schaffte jedoch nur ein paar Schritte, dann sank sie in den grün sprießenden Bärlauch. Bald war kein Auto mehr auf den sechsspurigen Fahrbahnen rund um die städtische Grünfläche, und das Gebrüll des selbstfahrenden EuroCombis und der Gigaliner verebbte in der Ferne.

—Jetzt kann ich Sie wieder gut verstehen, Frau Mathematiklehrerin, was haben Sie vorhin gesagt?

—Ich habe gesagt, dass wir hier früher Verstecken gespielt haben, und im Winter sind wir über den Hügel gerodelt, der früher einmal hier war. Den haben sie weggebaggert, weil sich die Bewohner des neuen Hochhauses dort – sie deutete auf das neue Hochhaus dort – von dem Lachen und Quietschen der rodelnden Kinder gestört gefühlt haben.

—Gerodelt? Das kenne ich. Wir sind als Kinder auch gerodelt.

—Dort, wo Sie eigentlich herkommen?

—Ja, dort, wo ich eigentlich herkomme.

—Gibt es das Dort, wo Sie eigentlich herkommen, auch nicht mehr?

—Nein, gibt es nicht mehr. Den ganzen Ort gibt es dort nicht mehr. Angefangen hat es mit dem Verschwinden des Ortskerns. Nach und nach ist alles verschwunden. Jetzt gibt es dort nur noch Schneekanonen und achtspurige Sesselliftanlagen mit automatischer Sitzheizung und Hotels mit Gratis-WLAN oder mit Code.

—Aber immerhin keine Gigaliner.

—Doch, die auch. Sie fahren geradewegs durch das Nachbardorf, in der Nacht fast ununterbrochen, man hört sie kilometerweit. Niemand kann dort mehr schlafen. Jetzt hat der Bürgermeister das alte Kohlebergwerk wieder aufsperren lassen. Jetzt wird nachts wieder Kohle abgebaut, untertag, und obertag schlafen die Leut’ tagsüber, weil weniger Verkehr ist.

Also wie gesagt. Keine Pflückung von …

—Bärlauch.

—Ja, das. Ich muss unser Gespräch jetzt leider abbrechen. Ich muss mich um den gesetzwidrig auf dem Rücken parkenden roten VW Golf hier kümmern. Das Parken und Halten auf städtischen Grünflächen ist nämlich für Pkws ohne Ausnahme verboten.

—Ich verstehe. Auf Wiedersehen.

—Auf Wiedersehen, Frau Lehrerin.

Als der attraktive Streifenpolizist gegangen war, wandte sich Reingard Söllner wieder ihrer Freundin, der diplomierten Krankenschwester, zu: „Wo waren wir stehen geblieben?“ Und schnell fügte sie hinzu: „Habe ich jetzt stehen geblieben gesagt? Lustig. Das ist genau das Stichwort. Stehen bleiben. Wenn die Männer in den Öffis nur öfter stehen blieben! Aber sie setzen sich, wenn sie können.“

—Und?

—Und dann bricht spontan ihre Krankheit aus, sie kriegen ihre Beine und Füße nicht zusammen. Als würden ihnen unsichtbare Kniesperren wachsen, sobald sie sich setzen. Sie sitzen mit breit gegrätschten Beinen da und scheren sich einen Dreck darum, dass sie damit gleich zwei Sitzplätze brauchen, was sage ich: missbrauchen. Sitzplatzmissbrauch. Gibt es dagegen kein Gesetz?

—Ach, das meinst du! Manspreading.

—Manspreading?

—Ja. Manspreading.

Einmal wollte sich die Lehrerin Reingard Söllner, nachdem sie einen ganzen Unterrichtstag in dem denkmalgeschützten Schulhaus verbracht hatte, in der Straßenbahn auf einen vermeintlich freien Sitzplatz setzen. Sie hatte nicht nur einfach einen ganzen Tag in der Schule verbracht, sondern einen ganzen Unterrichtstag, das ist ein Unterschied wie zwischen Michael Jackson und Prince oder Gotthold Ephraim Lessing und Doris Lessing oder Nescafé Classic und Nescafé Gold, Cap Colombie. Eine ganzen Unterrichtstag lang hatte sie gleichzeitig, hintereinander und übereinander 77.000 Schüler gehabt, die alle zusammen nichts von ihr wollten. Tapfer brachte sie den bereits im Dämmerlicht liegenden Fußweg bis zur Straßenbahnstation hinter sich, tapfer wartete sie zwölf Minuten auf den nächsten Zug, tapfer erklomm sie den Triebwagen und erspähte in einer letzten Kraftanstrengung ihrer müden Augen den letzten noch freien Sitzplatz. Doch als sie sich setzen wollte, war da dieses rechte Bein eines links am Fenster sitzenden Mannes, weit abgegrätscht, starr und steif, und es bewegte sich um keinen Millimeter nach links, als Reingard Söllner Platz nahm. Das war an diesem Abend zu viel für sie. „Sind Sie Zwilling?“, begann Reingard Söllner und tastete nach der Glock in ihrem Rucksack (Magazin in den Griff stecken). Der Mann reagierte nicht (Schlittenfang nach vorn: Klick).

—Ich habe Sie gefragt, ob Sie Zwilling sind, weil Sie zwei Sitzplätze brauchen? (Lauf auf das Ziel richten) Oder haben Sie Fahrscheine für zwei Sitzplätze gekauft, einen Fahrschein für sich und einen Fahrschein für Ihr rechtes Bein? (Zeigefinger an den Abzug)

Der Mann drehte sich langsam zu ihr. Er trug ein Hitlerbärtchen über der schmalen Oberlippe und ein Che-Guevara-T-Shirt über dem dicken Bauch.

—Hast du was gesagt, Mama?

Schuss!

Da sich die Sitzhaltung des nun toten männlichen Fahrgasts mit dem Hitlerbärtchen über der schmalen Oberlippe und dem Che-Guevara-T-Shirt über dem dicken Bauch von der des vormals gelebt habenden nicht unterschied – Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, rechtes Bein abgegrätscht und tief in den Raum vor den Nachbarsitz gestellt –, blieb das Verbrechen Ewigkeiten unbemerkt. Der attraktive Streifenpolizist aus dem fernen Bundesland, der aufgrund akuten Personalmangels bei der Polizei abwechselnd Streife ging, Straßenbahnen, Botschaften und Prostituierte kontrollierte, Parkraumüberwachung betrieb und Cyberkriminalität bekämpfte, wurde erst alarmiert, nachdem der Zug 13277 der Linie 37 bei Betriebsschluss in die Remise gefahren worden war und alle Passagiere ausgestiegen waren, bis auf einen Mann mit einem Hitlerbärtchen und weit gegrätschten Beinen.

„Müssen wir dieses Verbrechen aufklären?“, fragte der Streifenpolizist in sein Handy, nachdem er das Opfer beschrieben hatte. „Hitlerbärtchen?“, kam es zurück.

—Ja. Und ein T-Shirt mit, ich glaube, Castro.

—Fidel Castro?

—Genau.

—Also rechtsnationalistische Wiederbetätigung und Linksterrorismus?

—Vermutlich.

Wenn Sie das sagen.

—Dann nicht aufklären. Meldung an die CIA.

—CIA in Amerika?

—Dallas.

—Sofort?

—Umgehend. Aber berücksichtigen Sie die Zeitverschiebung, roger?

—Wer?

Leider kam Reingard Söllner auch durch ihre Verzweiflungstat nicht an ihr selbstgestecktes Ziel, einen vermeintlich freien Sitzplatz leibhaftig benutzen zu können. Erschöpft hing sie Berlin–Krakau an den Haltegriffen und versuchte, in einem lindgrünen Liegebett im Thermenhotel Niederpullenkirchen bedürftigen Menschen beim Kommen und Gehen auf ihren Wegen seelischen Beistand zu leisten. Vergeblich. Soll nie wieder einer behaupten, dachte sie, dass ein erfolgter Schusswaffengebrauch, und sei er noch so gut begründbar, für den Schützen ohne Wirkung bleibe.

Für Reingard Söllner begann ein Arbeitstag in der Regel bereits am Vortag, meistens zwischen 21:45 und 22:15 Uhr. Dann startete eine der inneren Stimmen ohne Rücksicht auf die Umstände mit der Logistik für den nächsten Morgen. Zum Beispiel so: Wecker um zehn nach sechs, nein, halt, morgen hast du die Mutter von Magomed für nullsiebendreißig in die Schule bestellt, also musst du Sami in die Frühaufsicht bringen, schon zum dritten Mal diese Woche, armer Sami! Und die Jause hat ihm heute auch nicht geschmeckt, du musst den Schinken auftauen, den musst du noch heute aus dem Gefrierfach nehmen. Wecker also besser fünf vor sechs. Wann hat Marie morgen Schule? Heute hätte sie verschlafen, wenn du sie nicht aus dem Bett geworfen hättest. – Lass sie doch verschlafen, meldete sich dann die andere innere Stimme zu Wort, Marie ist vierzehn, sie muss lernen, Verantwortung für sich zu übernehmen. – Papperlapapp! – Wieso Papperlapapp? – Ach, seid jetzt still, innere Stimme!

—Marie, bist das du?

Putzt du gerade die Zähne?

Kommst du bitte nach dem Zähneputzen noch zu mir? Wir müssen über dein Aufstehen sprechen. Du hörst in letzter Zeit deinen Wecker nicht.

—Was hast du gesagt?

Wo bist du überhaupt?

—Im Bett.

—Jetzt schon?

—Was heißt jetzt schon? Es ist fünf vor zehn.

—Fünf vor zehn ist doch keine Zeit, um zu Bett zu gehen. Um fünf vor zehn ist nicht einmal die Schachtel zu Bett gegangen.

Schachtel war eine Verkürzung für „die alte Schachtel“. Gemeint war damit die Mutter von Reingard Söllner, Maria Söllner, 93. Reingard Söllner hatte sie für einige Zeit bei sich untergebracht, ehe sie ihre Freundin, die diplomierte Krankenschwester, bat, sich nach einem Heimplatz für sie zu erkundigen. Man fand schließlich ein Zwei-Bett-Zimmer in einem, wie es hieß, besonders guten Haus, wenn auch nicht in jenem, in dem die beste Freundin von Reingard Söllner, die diplomierte Krankenschwester, arbeitete. In der großen Stadt gab es 7777 Pensionistenwohnheime, jedes mit 777 Stockwerken, in jedem Stockwerk 7777 Betten, davon 770 Betten in Seniorenwohnungen und 7007 Betten in den Bettenstationen.

Genau genommen wohnte Maria Söllner dort, wo sie lebte, weniger, als sie dort lag. Reingard Söllner besuchte ihre Mutter inzwischen nur noch einmal im Monat. Ein Besuch lief so ab.

—Hallo Mami.

—Hallo. Wer bist du?

—Ich bin es. Reingard, deine Tochter.

Wie geht’s dir, Mami?

—Was sagst du?

Maria Söllner war nahezu taub, also begann Reingard Söllner bei ihren Besuchen früher oder später zu schreien.

—WIE GEHT ES DIR?

—Liebst du mich?

—Ja, Mami, ich liebe dich.

—Ich liebe dich auch.

Komm, gib mir deine Hand.

—---

—---

—MARIE UND SAMI SIND IN DER SCHULE, SIE LASSEN DICH GANZ LIEB GRÜSSEN.

—Wie alt bin ich?

—Dreiundneunzig.

—Wie alt?

—Dreiundneunzig!

—Schon neunzig?

—---

—---

—---

—---

—---

—Liebst du mich?

Sehr viel mehr an Gespräch kam nicht mehr zustande. Wenn Reingard Söllner das Zimmer ihrer Mutter wieder verließ, war sie leer und wollte am liebsten sterben.

Ende der Kreidezeit

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