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MARK CRIDDLE, Torbay, Devon, 2008 SPRUNG INS UNGEWISSE

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Der Wind heulte, und der Regen prasselte gegen die Station des Seenotkreuzers von Torbay. Ich sah auf meine Uhr.

Fast sieben.

Ich stellte die Teetasse hin und wandte meinen Blick ab vom Fernseher, auf dem gerade ein Darts-Wettbewerb lief, um aus dem Fenster zu schauen. Es war schon den ganzen Tag ziemlich wild da draußen. Sturmböen fegten über die normalerweise geschützte Horseshoe Bay und peitschten die Wellen hoch auf. Die See schäumte weiß. Trotzdem blieb das Funkgerät der Station still. Ich ließ meine Gedanken wandern und landete bei den praktischen Dingen des Familienlebens.

Ob die Wäsche im Trockner schon fertig war?

Seit unsere Kinder da waren, Marsden, vier, und Maitland, sieben, fühlten sich meine Frau und ich immer wieder überwältigt von den Bergen an Wäsche, die zwei kleine Jungs produzieren. In den Wintermonaten blieb mir oft nichts anderes übrig, als die vielen Ladungen tropfnasser Klamotten in den Waschsalon zu schleppen, um sie dort in den Trockner zu stopfen. Der gehörte zum Jachthafen von Brixham und stand zum Glück gleich neben unserer Station.

Ich steckte meinen Pager ein, zog den Reißverschluss meiner Regenjacke hoch und kämpfte mich durch den Wind zum Waschsalon. Vor zwanzig Minuten hatte ich diese Ladung reingesteckt.

Immer noch feucht.

Ich drückte die Tür des Trockners wieder fest zu und wollte mich gerade auf eine Bank vor der Maschine setzen, als mein Pager piepte. Es war Ken James, der stellvertretende Einsatzleiter unserer Station an der Tor Bay – ein Notruf. Da musste ich als Vormann des Kreuzers sofort los. Ich lief zum Bootshaus, um Ken anzurufen.

„Ist ein Küstenmotorschiff, 34 Meilen südöstlich von Berry Head“, sagte er. „Hat Schlagseite, und der Kapitän hat schon die Küstenwache um Unterstützung gebeten.“

„Wie viele Leute an Bord?“, fragte ich.

„Wir gehen von insgesamt zwanzig aus“, erwiderte er.

Berry Head war nur ein paar Meilen von Brixham entfernt, die Landspitze markierte die südliche Grenze der Tor Bay zur Grafschaft Devon. Die „Ice Prince“, ein mit 6395 Bruttoregistertonnen vermessener Frachter unter griechischer Flagge, hatte in Schweden Holz geladen und war auf dem Weg nach Ägypten. Sturmböen und Brecher hatten sie im Ärmelkanal voll erwischt, und jetzt lag sie mit Schlagseite in der See. Und je stärker sie sich zur Seite neigte, desto weiter verrutschte die Ladung.

So weit, so unkompliziert, dachte ich.

Für den Laien mag es vielleicht dramatisch klingen, aber so etwas kommt vor. Tatsächlich war mit dem Schwesterschiff dieses Kümos vor ein paar Jahren exakt dasselbe passiert. Der damalige Vormann des Kreuzers, David Hurford, und ich hatten den Dampfer sicher in den Hafen von Brixham eskortiert. Ich war also nicht übermäßig besorgt. Bei solchen Wetterbedingungen war ein Einsatz nie ganz ungefährlich, und das Schiff war auch eine Nummer größer als unsere gewöhnliche „Kundschaft“, zu der meist Fischer gehören. Doch letzten Endes war unser Job ja nur, den Havaristen in den nächsten Hafen zu begleiten.

Ich war nicht lange allein in der Station. Aus allen Richtungen kamen unsere Leute an. Ehe ich michs versah, standen dreizehn ehrenamtliche Retter vor mir, alle einsatzbereit, und sie konnten es kaum erwarten, dass es losging. Angesichts des harten Wetters waren sie noch mal enthusiastischer, als sie es sowieso schon waren. Sie freuten sich auf die Herausforderung, für die sie immer wieder trainiert hatten.

Unser Auftrag war es, mit unserem Seenotkreuzer der Severn-Klasse, der „Alec und Christina Dykes“, rauszufahren und beim Havaristen auf Stand-by zu bleiben. Das etwas kleinere und weniger leistungsstarke Schiff der RNLI-Station Salcombe, ein Boot der Tyne-Klasse, sollte zur Unterstützung gleich hinterherkommen. Ich schaute in die Gesichter der dreizehn Crewmitglieder, die vor mir standen. Alle gespannt, wie ich mich entscheiden würde.

Nur sieben von uns konnten rausfahren.

Ich war der Vormann, und es war mein Job zu entscheiden: Wer kommt mit?

Wie ich diesen Part hasste.

Als Mechaniker mit zwanzig Jahren Erfahrung bei den Seenotrettern von der RNLI hatte ich schon gelegentlich Witze darüber gemacht, wie es wohl sein würde, wenn sie mich zum Vormann machten, aber ernsthaft hatte ich nie damit gerechnet. Dann ging David in den Ruhestand, und ich wurde gefragt, ob ich seine Nachfolge übernehmen wollte. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Auch zwei Jahre nachdem ich den Job angetreten hatte, musste ich mich ab und zu noch zwicken, um sicherzugehen, dass ich das nicht alles nur träumte. Ich liebte diese Verantwortung. Für meine Crew, für den Kreuzer – und für die Leute in Not, die wir rausholen sollten.

Nur eines machte mir keine Freude: auszuwählen, wer mit mir rausfuhr.

Jeder dieser ehrenamtlichen Retter hatte buchstäblich alles fallen und liegen gelassen, um so schnell wie möglich beim Boot zu sein. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hatten sie ihre Jobs, ihre Partner und Kinder zurückgelassen. Allesamt waren sie bereit, ihr eigenes Leben zu riskieren, um anderen zu helfen. Genau wie ich, als ich mit den Einsätzen begonnen hatte, wollten sie jetzt da rausfahren. Und in meinen Augen hatten sie es auch alle verdient mitzukommen.

Bei dreizehn Leuten und nur sechs freien Plätzen musste ich leider ein paar enttäuschen. Und wie sich das anfühlte, daran konnte ich mich nur zu gut erinnern.

Was der Einsatz auf dem Seenotkreuzer für seine Crew bedeutete, hatte ich schon in jungen Jahren kapiert. Damals wusste jeder im Ort, was Sache war, wenn man den Knall der roten Signalraketen hörte: Jetzt fuhr das Boot raus.

Pager waren zu der Zeit noch eine absolute Rarität. Der Einsatzleiter hatte einen, außerdem der Vormann und der für die Maschine verantwortliche Mechaniker. Alle anderen mussten immer auf die Signalraketen achten.

Stiegen sie auf, wenn ich gerade im Haus meiner Großeltern war, hatte ich einen Zuschauerplatz in der ersten Reihe. Meine Großeltern wohnten an einer Haarnadelkurve mit Blick auf die Werft, so um die hundert Meter von der Station der Seenotretter entfernt. Wir waren so nah dran, dass wir die Spannung förmlich in den Knochen spürten. Erst der Knall, und dann die quietschenden Reifen in der engen Kurve, wenn die Retter in ihren Autos zur Station rasten. Wenn der Alarm kam, wollten alle dabei sein.

Unsere Gemeinde lebte von der Fischerei, von der Schifffahrt, vom Tourismus an der Küste. Die meisten von uns waren auf Booten aufgewachsen, auf dem Meer. Der Rettungskreuzer war unsere Lebensversicherung. Und die Freiwilligen, die als Crew mitfuhren, kamen aus unserer Mitte. Unsere Eltern waren das, unsere Lehrer, der Klempner und viele andere. Aber in dem Augenblick, wenn die roten Signalraketen losdonnerten, waren sie nur noch Crew der RNLI. Alles andere war Nebensache.

Mich riss das jedes Mal mit. Manchmal rannte ich runter zur Werft, ganz vorne an die Pier, nur um dicht dabei zu sein, wenn sie auf dem Rettungskreuzer die Maschine anschmissen und zum Einsatz losbrausten.

Wie es wohl wäre, da mitzumachen?

Mit 19 Jahren fasste ich mir ein Herz und fragte den Vormann, Arthur Curnow war das damals, ob er mich in seiner Mannschaft gebrauchen könnte. Vormänner galten als harte Typen, geradezu furchterregend, und es hatte zwei Jahre gedauert, bis ich endlich den Mut aufbrachte, ihn anzusprechen. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, was ich damals zu Arthur gesagt hatte, aber seine Antwort werde ich nie vergessen:

„Was hast du morgen vor?“, fragte er mich.

„Nichts eigentlich“, erwiderte ich verblüfft.

So einfach konnte es doch nicht sein, oder?

„Bring einen Schlackenhammer mit und komm zu meinem Schlepper rüber“, sagte er. „Ich hab einen Job für dich.“

Arthur war nicht nur Vormann auf dem Seenotkreuzer, er hatte auch selbst ein paar Boote und beschäftigte Leute aus dem Ort als Crew. Am nächsten Tag bekam ich zwar immer noch keine Antwort auf meine Frage. Aber ich durfte auf seinem Schlepper Rost klopfen. Und es blieb nicht bei dem einen Mal.

Warum mache ich das? Ohne Bezahlung malochen?

Die Frage stellte ich mir natürlich irgendwann. Aber tief in mir wusste ich natürlich, warum. Für Arthur war ich nicht nur eine billige Arbeitskraft. Das Ganze war ein Test. Würde ich auch morgen wieder da sein mit meinem Schlackenhammer? War ich bereit, eine Aufgabe zu übernehmen, egal was, ohne lange Fragen zu stellen? Würde ich auch ohne Bezahlung anständige Arbeit abliefern? Wenn ja, das wusste er, dann taugte ich auch als Crew auf seinem Kreuzer. Also machte ich, was er von mir verlangte.

Es dauerte dann fast noch ein Jahr, bis ich meine Antwort bekam. Arthur lud mich zu einer Übung auf See ein. Die Mannschaft trainierte Mann-über-Bord-Manöver. Es war ein ungemütlicher Tag, viel Wind. Und dann rief er mich zu sich.

„Los dann“, sagte er zu mir und winkte mich ins Ruderhaus der „Edward Bridges“. Der Seenotkreuzer war ein altes Schiff der Arun-Klasse, noch ganz aus Holz gebaut. „Komm her und zeig mal, was du draufhast.“

Ich traute meinen Ohren nicht. Ich holte einmal tief Luft und packte das Steuerrad mit dem bisschen Selbstvertrauen, das ich gerade noch zusammenbekam.

Ich steuere den verdammten Rettungskreuzer. Wie cool ist das denn? Das waren meine Gedanken, als ich mit einem breiten Grinsen durch die Wellen pflügte.

Ich konnte mich kaum einkriegen, als ich zu Hause von meinem Tag erzählte. „Arthur hat mich heute das Boot steuern lassen“, rief ich, als ich noch nicht ganz zur Tür rein war. Und dann mussten sich meine Eltern die ganze Geschichte anhören. Jedes noch so kleine Detail.

Damit gehörte ich ab sofort zur Crew. Einfach so.

Was nicht bedeutete, dass ich jetzt ständig im Einsatz war, noch lange nicht. Damals hatten wir eine Mannschaft von rund dreißig Ehrenamtlichen, und Alarm gab es im Schnitt um die 18-mal im Jahr. Ich war also nicht besonders oft an der Reihe. Aber ich machte es mir zur Pflicht, immer da zu sein.

So wie meine Crew an diesem Abend.

Viel hat sich geändert, seit ich 1988 als Ehrenamtlicher angefangen hatte. Die Masche, mit der mich Arthur auf die Probe stellte, kennen meine Leute nur noch als Legende. Die Anekdote sorgt immer wieder für Gelächter. Heutzutage ist die Anwerbung von Nachwuchs ein strikt reglementierter Prozess. Auch die Signalraketen steigen nicht mehr auf, denn jeder in der Crew hat längst seinen eigenen Pager. Aber selbst wenn wir inzwischen mehr als hundert Einsätze im Jahr haben, ist es nicht ausgemacht, dass man auch ausgewählt wird, um rauszufahren.

Ein paar Dinge allerdings haben sich in all den Jahren nie geändert: der Kameradschaftsgeist. Das Verlangen rauszufahren, egal unter welchen Bedingungen. Die Bereitschaft, immer da zu sein – auch wenn man wieder und wieder nicht den Zuschlag bekommt.


Und genau diese unbedingte Bereitschaft sah ich in den Gesichtern der dreizehn tapferen Leute, die jetzt vor mir standen. Sie warteten auf meine Entscheidung, das war jetzt meine nächste Aufgabe. Wir waren klar zum Auslaufen.

Wer war für diesen Einsatz am besten geeignet?

Ich schaute mich im Raum um und traf meine Wahl.

„Roger Good“, sagte ich, das war mein Stellvertreter als Vormann.

„Mat Tyler.“ Unser Schiffsmechaniker, wie ich in Vollzeit fest angestellt bei der RNLI.

„Alex Rowe und John Ashford.“ Alex war Arzt und John Sanitäter. Mit ihren beruflichen Fähigkeiten waren sie eigentlich auf jedem Einsatz von großem Nutzen. Dann rief ich die letzten beiden Namen auf.

„Nigel Coulton und Darryl Farley.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zogen wir unsere Montur an und liefen zu unserem Kreuzer, der „Alec and Christina Dykes“. Um 7.44 Uhr legten wir ab.

Unmittelbar war uns klar, wie hart dieser Einsatz werden würde. Mit 15 Knoten Speed krachten wir durch die Wellen. „Wir müssen uns anschnallen“, brüllte ich gegen den Lärm an und nahm Kurs auf den Havaristen. Vor uns lagen zwei Stunden Fahrt. Ich durfte es nicht riskieren, dass sich einer meiner Leute schon auf dem Weg verletzte, wenn wir einen besonders üblen Brecher abkriegten.

Es sollte eine lange Nacht werden.


Wir kamen gut voran, als es keine 15 Minuten später im Funkgerät knisterte und rauschte. Der Kapitän der „Ice Prince“ war dran, und der Ton seiner Stimme ließ mich sofort aufhorchen.

„Wir haben Wasser in der Maschine“, sagte er. „Maschine läuft nicht mehr.“

Es waren nur wenige Worte, aber die Panik war nicht zu überhören.

Aber eben gerade habt ihr doch nur Schlagseite gemeldet, dachte ich.

„Keine Maschine mehr?“, fragte ich, um mir bestätigen zu lassen, dass ich es richtig verstanden hatte.

„Ja“, kam die Antwort. „Ich drifte.“

Damit hatten wir eine ganz andere Lage.

Denn jetzt hatte der Vorfall sofort eine viel höhere Dringlichkeit. Ohne Antrieb hast du keine Kontrolle über dein Schiff. Der Havarist war jetzt Seegang und Wind noch mehr ausgeliefert als zuvor.

Wir mussten noch einen Zacken zulegen.

„Rauf mit der Geschwindigkeit, auf 20 Knoten“, sagte ich. Roger reagierte sofort. Mit mehr Tempo würden wir unsere Fahrtzeit um rund zwanzig Minuten abkürzen können. Während Roger unser Boot beschleunigte, ging ich in Gedanken unsere Optionen durch.

Was für Bedingungen werden wir vor Ort vorfinden?

Ich war von einem Routinefall ausgegangen, einer Eskorte für ein angeschlagenes Schiff. Doch jetzt wusste ich, dass es um viel mehr ging. Sie hatten sogar einen Hubschrauber der Küstenwache angefordert, und die „India Julia“ war auch schon in der Luft, um einen Teil der Crew abzubergen. Je näher wir der Unglücksstelle kamen, desto heftiger wurden die Bedingungen. Dann knisterte es wieder im Funkgerät.

„Einer meiner Leute wurde gegen sssschchch, ssschchch“, hörten wir die Stimme des Kapitäns. „Er ist chchchchch.“

Ich versuchte, aus dem Rauschen und gegen den Lärm bei uns auf dem Boot herauszuhören, was passiert war. Aber ich konnte auch so schon die Angst hören.

„Können Sie das wiederholen?“, sagte ich.

„Er hat sich sssschchch gebrochen ssssschchcchch Bein …“

Jetzt wusste ich zwar immer noch nicht genau, was sich zugetragen hatte, aber ein Mann hatte sich verletzt, so viel war klar. Und wenn wir einen Verletzten hatten, konnten es bald mehr sein. Das bedeutete: Fahrt unter Volllast, Höchstgeschwindigkeit. Als Roger den Hebel auf den Tisch legte, waren wir etwa 15 Meilen östlich von Berry Head. Endlich kam die „Ice Prince“ in Sicht.


Ich trat aus dem Schutz des Ruderhauses und stieg hoch zur Flybridge, zu unserem Außensteuerstand, um mir ein besseres Bild von der Lage zu machen. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und dann sah ich die Umrisse des Havaristen vor mir. Mir fiel fast die Kinnlade runter – denn so etwas hatte ich in meiner gesamten Laufbahn als Seenotretter noch nicht gesehen.

Die „Ice Prince“ stöhnte und ächzte fürchterlich, und sie lag in einem Winkel von mehr als vierzig Grad auf der Seite, sodass die Reling von den Wellen überspült wurde. Von der anderen Seite drückte der Wind mit 50 Meilen pro Stunde, also etwa zehn Beaufort.

„Dass der Kahn überhaupt noch schwimmt“, stieß ich hervor.

Ich konnte meinen Leuten ansehen, dass ihnen dieser Gedanke auch schon gekommen war. Über uns nahmen wir das charakteristische Wummern eines Helikopters wahr. Der Suchscheinwerfer der „India Julia“ strich über das Wasser und kreuzte gelegentlich das noch stärkere Licht der „HMS Cumberland“. Die Fregatte der Royal Navy stand ebenfalls auf Warteposition bereit, um den Frachter in Seenot zu unterstützen. Das Drama, das sich vor uns abspielte, war jedenfalls auf der einen Seite der Bühne bestens ausgeleuchtet.

Die Mannschaft der „Ice Prince“ hatte sich auf der Brücke versammelt. Von dort hangelten sie sich, immer einer nach dem anderen, raus auf die Nock, wo der Mann an der Seilwinde im Helikopter sie erreichen konnte. Um in dem brutalen Sturm überhaupt jemanden sicher nach oben ziehen zu können, hatte die Crew des Helikopters eine zusätzliche, mit einem Gewicht am Ende beschwerte Leine ausgebracht, eine sogenannte Hi-Line, die dafür sorgen sollte, dass die Männer in der Rettungsschlinge nicht ins Pendeln gerieten und gegen den Mast des Frachters oder seine Antennen schlugen.

Ursprünglich war der Plan gewesen, zuerst den Verletzten vom Schiff zu holen und dann weitere elf von seinen Kollegen. Eine Rumpfmannschaft von acht Leuten hatte an Bord bleiben und einen Versuch starten sollen, die Pumpen in Gang zu setzen. Zusammen mit dem Boot von der RNLI-Station Salcombe sollten wir den Havaristen in den nächsten Hafen lotsen.

Aber ohne Maschine funktionierte das nicht, und nun kam über Funk obendrein die Nachricht, dass der Generator den Geist aufgegeben hatte. Die „Ice Prince“ war ein totes Schiff. Aus eigener Kraft kam sie keinen Meter mehr vorwärts, ihre Aggregate und Instrumente hatten keinen Saft mehr. Was ihre Lage zusätzlich verschlimmerte: Sie lag quer zu den Wellen – ungünstiger konnte ihre Position nicht sein. Auf der einen Seite war alles ruhig, und auf der anderen Seite rannte die See an und drückte der Wind. Alle Mächte hatten sich gegen die „Ice Prince“ verschworen, um sie zum Kentern zu bringen.

„Jetzt fehlen nur noch ein paar ordentliche Brecher, und dann schmeißt es sie um“, sagte ich zu Roger. „Vielleicht nur noch eine Frage von Minuten.“

„Viel länger wird sich der Kahn kaum halten können“, stimmte er mir zu. „Und es sind noch Leute an Bord.“

Während die „India Julia“ weiter Männer von der Brücke hievte, steuerte ich unseren Kreuzer einmal im Kreis um das Schiff.

Wenn ich da Leute runterholen will, wie muss ich das anstellen?

Unser Boot war viel kleiner als die „Ice Prince“. Ich musste also einen Punkt finden, wo ich sicher an das große Schiff herankommen konnte – und der ungefähr auf unserer Höhe lag. Ich ging meine Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten Seenotrettung durch. Was hatte ich über solche Situationen gelernt? Was hatten mir erfahrene Vormänner berichtet, die solche großen Einsätze schon selbst erlebt hatten?

Geh längsseits. Lass die Crew in die Rettungsinsel steigen. Und hol sie dann aus der Insel.

Nein, das war keine Lösung. Eine Rettungsinsel würde in dieser wilden See herumgeworfen werden wie ein Papierschiffchen, und auch für meine eigenen Leute wäre das viel zu riskant. Das war keine machbare Option.

Die Crew trägt Überlebensanzüge. Wenn sie ins Wasser springen, kannst du ihnen eine Leine zuwerfen und sie rausziehen.

Aber im Wasser trieben schon zu viele Trümmer, und der Seegang war unberechenbar. Außerdem standen die Chancen nicht besonders gut, dass ich auch nur einen einzigen Mann überzeugen konnte, in die kochende See zu springen.

Im selben Augenblick hörte ich über Funk die Stimme des Hubschrauberpiloten. Es war für den Mann an der Winde immer schwerer geworden, die Kontrolle über sein Seil zu behalten. Außerdem hatte sich das Wetter weiter verschlechtert. Regen peitschte nun in wilden Böen über das Schiff und nahm dem Retter an der offenen Tür des Hubschraubers die Sicht. Aber jetzt war es geschafft. Mehr passten nicht rein in den Chopper.

„Wir haben unsere zwölf Verunglückten“, meldete der Pilot. „Wir fliegen zurück nach Portland.“

Das war schon mal eine gute Nachricht. Doch noch befanden sich acht Seeleute auf dem Schiff. Auf den Helikopter konnten wir so schnell nicht wieder zählen. Bis er unter diesen Bedingungen sein Ziel erreicht, die Geretteten abgesetzt und nachgetankt hatte, würde mehr als eine Stunde vergehen. Als der Pilot abgedreht war und Kurs auf die Küste genommen hatte, funkte ich den Kapitän der „Ice Prince“ an.

„Wie sehen Ihre Pläne aus?“, fragte ich. Ich wusste, wie die Antwort ausfallen sollte, aber es war nicht meine Entscheidung. Die konnte allein der Kapitän treffen.

Auf den Heli warten. Oder sofort runter vom Schiff.

„Es ist meine Absicht, das Schiff aufzugeben“, sagte er, ohne zu zögern. „Ich muss meine Leute so schnell wie möglich in Sicherheit bringen.“

Wer wollte ihm das verdenken? Ich persönlich hätte mich auch nicht dafür entschieden, an Bord zu bleiben. Die Schlagseite war inzwischen so groß, dass die Reling unter Wasser verschwand.

Jetzt braucht es nur noch ein paar größere Brecher und dann …

Ich schob den Gedanken sofort wieder weg. Die Entscheidung des Kapitäns war gefallen, jetzt lag es an uns.

Wie zum Teufel sollte ich die Leute da runterbekommen?

Unter anderen Umständen, bei anderen Einsätzen wäre es das Mittel der Wahl gewesen, die Crew ins Wasser springen zu lassen. Aber mir war klar, dass die Seeleute von der „Ice Prince“ zu erschöpft und zu verängstigt waren. Nein, es musste einen anderen Weg geben.


Bei meiner Erkundungsrunde um das Schiff fiel mir eine andere Lösung ein. Einfach würde auch das nicht werden, aber ich war mir sicher, dass es so klappen könnte. Ich kehrte ins Ruderhaus zurück und rief Roger zu mir.

„Also, Rog. Wir machen das folgendermaßen“, fing ich an. „Wir sagen dem Kapitän, dass er seine Leute auf dem Achterschiff versammeln soll. Und zwar an der Winde für den Heckanker. Die ist ungefähr auf derselben Höhe wie unser Bug.“

„Okay“, bestätigte Roger. Er registrierte jedes Detail ganz genau.

„Ich fahre ran ans Schiff, Bug immer im Wind“, fuhr ich fort. „Und wenn sie dann über die Reling klettern, sollten wir sie uns da schnappen können.“

Wir beschlossen, fünf Mann nach vorn zu schicken, um der Crew von der „Ice Prince“ beim Übersteigen zu helfen: Roger, Nigel, Alex, John und Mat. Darryl würde bei mir auf der Flybridge bleiben und mir beim Manövrieren helfen. Vor allem musste er unseren Suchscheinwerfer bedienen, unsere einzige Lichtquelle, um auf der finsteren Seite des Schiffs überhaupt etwas zu sehen. Sobald wir nahe genug am Heck des Havaristen waren, sollten unsere fünf Männer die Schiffbrüchigen packen, einen nach dem anderen, und auf unser Vorschiff ziehen.


Eine Szene aus der Erinnerung von Vormann Mark Criddle: Die Seenotretter nähern sich dem Havaristen und riskieren alles, um einen Fremden aus Not zu befreien.

„Für den Fall, dass dabei doch jemand ins Wasser fällt“, sagte ich zu Roger, „haben wir unser Boot aus Salcombe auf Stand-by.“

„Alles klar, verstanden“, bestätigte Roger.

„Auf keinen Fall anfangen und Leute rüberholen, bis ich das Signal gebe, dass ich bereit bin“, stellte ich klar. „Und auch dann erst, wenn du sicher bist, dass du sie heil zu uns rüberkriegst.“

Roger wusste, was auf dem Spiel steht, aber der Job war auch so schon gefährlich genug. Ich wollte auf keinen Fall, dass irgendwer ein unnötiges Risiko einging.

Während er unsere Leute aufs Vorschiff führte, ging ich unseren Plan mit den Kollegen aus Salcombe durch. Dann rief ich den Kapitän der „Ice Prince“ auf UKW an und erklärte ihm Schritt für Schritt, was wir vorhatten. Mir war bewusst, dass jede weitere Kommunikation schwierig sein würde, wenn er und seine Crew die Brücke verlassen hatten. Wir würden uns weitgehend mit Handzeichen verständigen müssen. Oder so laut brüllen, dass wir auch gegen den Lärm des Sturms ankamen.

Glücklicherweise war der Kapitän sofort mit meinem Vorschlag einverstanden.

„Wir machen uns auf den Weg“, bestätigte er.

Es ging los.

Wir hatten einen Plan. Jetzt mussten wir uns nur noch daran halten.

Ich kletterte raus in Sturm und Regen. Schnell hoch zur Flybridge. Ohne Gegensprechanlage konnte ich nur hoffen, dass der Kapitän und seine Crew machen würden, was wir verabredet hatten. Und dass auch meine Leute dem Plan folgten.

Das Gefühl, unter Druck zu stehen, konnte einen lähmen. Aber ich hatte im Laufe der Jahre gelernt, gelassen zu bleiben. In dem Moment, in dem das Funkgerät verstummte, wurde es auch in meinem Kopf ganz ruhig.

Keine weiteren Diskussionen. Jetzt einfach den Job erledigen.

Genau so funktionierten erfolgreiche Rettungseinsätze. Volle Konzentration, Fokus, nur ein Ziel. Und dafür sorgen, dass der eigenen Crew, den Verunglückten und dem Kreuzer nichts passierte. Safety first, immer.

Bring sie alle heil nach Hause.

Ich hörte meinen eigenen Puls, als ich die ersten Probeanläufe machte. Ich musste genauer abschätzen können, aus welchem Winkel ich am besten auf den Havaristen zuhielt, in welcher Position wir die Leute von der „Ice Prince“ runterholen konnten. Nach ein paar Versuchen blickte ich zu Roger und der Crew auf dem Vorschiff. Augenkontakt, Daumen hoch. Antwort: Daumen hoch. Wir waren bereit.

Adrenalin pulsierte durch meinen Körper, als sie vorne nach dem ersten Mann brüllten. Er hangelte sich an den Ankerwinden vorbei und kroch auf allen vieren über das Deck, das sich in einem Winkel von 45 Grad zur Seite neigte, zur Reling hin, wo wir ihn übernehmen wollten. Mir pochte das Herz bis zum Hals, als er über die Schanz kletterte. Ich hatte alle Hände voll zu tun, den Kreuzer im Schwell auf seiner Position zu halten, und hoffte, dass der Mann genau den Bruchteil einer Sekunde abpassen würde, in dem er in die Arme meiner Leute springen musste. Langsam, ganz vorsichtig, schob sich der Kreuzer vor, und ich hielt den Atem an, als der Seemann auf dem großen Schiff die Hand von der Reling nahm.

Fünf Armpaare, alle im Neongelb der RNLI-Uniform, streckten sich dem Mann entgegen, um ihn zu packen. Fünf tapfere Freiwillige, mit Gurten gesichert, auf einem kleinen Boot, das beängstigend in stürmischer See taumelte. Fünf, die bereit waren, diesen fremden Menschen in ihre Arme zu nehmen und in Sicherheit zu ziehen.

Im Englischen haben wir ein Sprichwort, das die Situation perfekt beschreibt. Es war für den Mann ein „leap of faith“, ein Sprung des Glaubens. Du weißt nicht, ob etwas klappen wird. Du musst einfach daran glauben. Oder in diesem Fall: Der Mann musste uns einen ordentlichen Vertrauensvorschuss geben.

Glücklicherweise ging alles gut.

Er sprang und landete auf unserem Vorschiff, etwas mitgenommen, aber jetzt war er in Sicherheit. Wenn ich Zeit gehabt hätte, darüber nachzudenken, wäre ich stolz gewesen auf unser gelungenes Manöver. Aber es gab noch so viel zu tun.

Einer gerettet. Noch sieben drüben.

Darryl leuchtete den Weg vor meinem Bug aus, und das machte er meisterhaft. Ich ließ den Kreuzer ein Stück zurücksacken und bereitete mich auf den nächsten Anlauf vor. Auch der dritte klappte perfekt. Jedes Mal war es uns gelungen, im Seegang einen sicheren Abstand zum großen Schiff zu halten und im richtigen Moment an der Absprungstelle zu sein. Drei Männer von der „Ice Prince“ waren jetzt bei uns an Bord. Nigel brachte sie unter Deck und untersuchte sie kurz: Schnittwunden und blaue Flecken, aber keine ernsten Verletzungen.

Ich gönnte es mir, einmal tief durchzuatmen.

Läuft doch.

Oder genauer: bis eben jedenfalls. Denn beim vierten Versuch merkte ich sofort, dass es dieses Mal nicht passte. Der Mann an der Reling ließ nicht los, er stand wie angewurzelt. Selbst durch Gischt und Regen konnte ich in seinem Gesicht lesen, dass er vor Schreck gelähmt war. Ich setzte zurück und nahm einen neuen Anlauf.

„Wir müssen dichter ran“, schrie Roger von vorn. „Damit wir ihn greifen und rüberziehen können.“

„Okay“, brüllte ich.

Darryl und ich tasteten uns wieder vor und versuchten, noch näher ranzukommen, ohne das andere Schiff zu touchieren. Doch es langte immer noch nicht.

„Noch weiter ran!“, rief Roger durch die Dunkelheit.

Jetzt wird es aber riskant, dachte ich, als ich das Schiff in Position manövrierte. Wenn wir nämlich zu nah rankommen und …

Bevor ich meine Befürchtung zu Ende gedacht hatte, war sie auch schon Wirklichkeit: Von Steuerbord gab mir die See einen unerwarteten Schubs.

Krawumm.

Mit einem kräftigen Stoß krachte unser Seenotkreuzer in die Bordwand der „Ice Prince“. Das ohrenbetäubende Kreischen von Metall auf Metall übertönte sogar den Sturm. Alex und Mat hatte es auf dem Vorschiff umgeschmissen, die anderen hatten es noch irgendwie geschafft, sich festzuklammern. Darryl war gegen unseren Scheinwerfer geknallt; er blutete aus einer Kopfwunde.

„Seid ihr alle okay?“, brüllte ich.

„Alle okay“, kam das Echo von meiner Crew.

Noch mal gut gegangen.

Aber was war mit unseren Schiffbrüchigen?

Ich schaute zurück zur „Ice Prince“, und mir drehte sich der Magen um. Der Seemann, der sich eben noch an die Reling geklammert hatte, war aus meinem Sichtfeld verschwunden. Meine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen.

War er ins Wasser gefallen? Zwischen Schiff und Kreuzer geraten?

Der Gedanke ließ mich erschaudern.

Dann wäre er sofort erdrückt worden.

Mir blieb nichts anderes übrig, als auf Abstand zum Havaristen zu gehen. Ehrlich gesagt rechnete ich schon damit, einen leblosen Körper im Wasser treiben zu sehen. Aber als ich freie Sicht hatte, hielt ich verdutzt den Atem an.

„Da ist er nicht!“, rief Alex.

Aber wo dann?

Sekunden zogen sich wie Minuten, während wir mit dem Suchscheinwerfer das Wasser um uns herum absuchten. Dann hatte Mat ihn entdeckt.

„Da drüben ist er, an Backbord!“, schrie er. Der Mann war wieder aufgetaucht, ein Spielball der Dünung, die auch den Frachter heftig rollen ließ. Und er bewegte sich von uns weg!

Trotzdem gönnte ich mir einen Seufzer der Erleichterung. Er war okay. Für den Moment wenigstens.

Wieder einmal hatte sich unsere Lage blitzschnell geändert. Jetzt hatten wir einen Verunglückten im Wasser, zwischen den beiden Rettungskreuzern und allerhand Trümmern, die vom Havaristen herabgestürzt waren. Verabredet war, dass sich RNLI Salcombe bereithielt, um aufzufischen, was bei unseren Manövern über Bord ging. Das musste ich also abwarten.

Immer beim Plan bleiben.

Doch dann tat uns die See einen Gefallen. Plötzlich ergriff eine Welle unseren Mann und beförderte ihn zurück in Richtung „Ice Prince“. Irgendwie schaffte er es, seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren und sich an die Schanz zu krallen. Er krabbelte das schiefe Deck hoch zurück zu seinen Kollegen am Heck des Schiffs. Dann schlängelte er sich wieder in seine Position an der Reling.

Wir schoben unseren Bug also erneut zum Punkt, an dem er übersteigen sollte. Doch wie zuvor stand er regungslos, wie angefroren.

Wer wollte ihm das verdenken?

Die übrigen vier Seeleute auf der „Ice Prince“ schienen ebenfalls bis ins Mark erschüttert. Sah nicht so aus, als würde heute Nacht überhaupt noch jemand den Sprung wagen.

Nicht nachdem sie Zeugen dieses Dramas geworden waren.

Wir mussten sie wohl abholen und buchstäblich von der Reling pflücken. Und es gab nur einen Weg, wie wir das bewerkstelligen konnten.

„Ich muss längsseits gehen und versuchen, unseren Kreuzer gegen den Frachter zu drücken“, rief ich Roger zu. „Dann müsst ihr euch schnappen, was ihr zu greifen bekommt, und die Leute zu uns rüberziehen.“

Das war schon eine riskante Nummer. Ich musste so lange wie möglich Kontakt zu dem großen Schiff halten, um meinen Leuten ausreichend Zeit zu geben, und trotzdem jederzeit bereit sein, der nächsten Welle auszuweichen, die uns mit Wucht gegen die „Ice Prince“ werfen konnte. Beim ersten Mal hatten wir noch Glück gehabt. Aber wer wusste schon, ob die nächste Kollision nicht größeren Schaden anrichten würde?

Nicht zu unterschätzen waren auch die Gefahren durch die Trümmer und die Decksladung des Frachters. Ein großer Teil der „Ice Prince“ lag bereits unter Wasser. Große Baumstämme trieben im Wasser, und wer weiß, was sonst noch.

Ganz schön knifflig, das Manöver.

Aber ich hatte jetzt ein Ziel vor Augen. Wir hatten uns eine neue Strategie überlegt, und die musste ich nun durchziehen. Mit vollem Schub voraus drückte ich den Rettungskreuzer gegen den Havaristen, und versuchte so zu verhindern, dass sich das größere Schiff bewegte. Es gelang nicht gleich beim ersten Versuch, aber Aufgeben war keine Option. Wieder und wieder legte ich den Kreuzer neben das unkontrolliert rollende Schiff und wartete auf meine Gelegenheit. Mit Gurten gesichert, versuchte meine Crew, über die Reling nach den Seeleuten von der „Ice Prince“ zu greifen. Sie standen da in Wind und Gischt und probierten es nach jedem Fehlversuch gleich noch einmal.

Am Ende brauchten wir fünfzig Anläufe. Dann zogen wir endlich den letzten Mann an Deck. Es war der Kapitän der „Ice Prince“.

Geschafft!

Zum Feiern war es allerdings noch zu früh. Wir mussten die Geretteten ja auch noch zurück an Land bringen. Ich nahm Kurs auf unsere Station. Nigel quartierte sie unter Deck ein. Sie wirkten erleichtert, hatten allerdings ziemlich schnell mit Seekrankheit zu tun. Wahrscheinlich setzte auch mit Verspätung die Erkenntnis ein, wie lebensgefährlich die Situation war, der sie gerade entkommen waren.

Wir allerdings auch …

Mein Adrenalin-Level war immer noch hoch, und ich wusste, dass ich solche Gedanken im Moment gar nicht gebrauchen konnte. Als Vormann war es meine Verantwortung, die Überlebenden, meine Crew und mein Schiff heil im Hafen abzuliefern.

Meine Arbeit war noch nicht getan.

Es war Viertel nach eins, als wir an der Pier in Brixham festmachten. Wir spürten Erleichterung, aber auch Erschöpfung, als wir unseren Schiffbrüchigen halfen, an Land zu kommen. Zwei wurden von einem Krankenwagen abgeholt, weil sie unter Schock standen und kleinere Verletzungen davongetragen hatten. Die anderen bekamen eine Kostprobe, was die Seenotretter von der Station Torbay unter Gastfreundschaft verstanden.

„Jetzt wird euch Ken erst einmal ein Frühstück auftischen“, sagte ich. Wie es schon Tradition war, hatte unser stellvertretender Einsatzleiter eine Feier unserer Rückkehr vorbereitet. Es gab Tee und köstliche Sandwiches. Ich lehnte mich zurück und sah den anderen dabei zu, wie sie sich über das Essen hermachten und dabei die Härten dieses Einsatzes noch einmal durchgingen.

„Ich bin jetzt seit 26 Jahren bei der Crew“, sagte Nigel. „Und das war mein Meisterstück. Der beste Job von allen.“ Er konnte kaum verbergen, wie stolz er war auf seinen Einsatz, und er hatte ja auch recht.

Die Mannschaft hatte das großartig gemacht.

Sie hatte acht Menschen das Leben gerettet.

In meinem Kopfkino sah ich einen Schlüsselmoment immer wieder: wie ich den Seenotkreuzer ganz sachte vorwärtsmanövrierte und meine Crew auf dem Vorschiff stand, dem prasselnden Regen und den Sturmböen ausgesetzt, und mit ausgestreckten Armen die Schiffbrüchigen packte.

Diesen Moment, da war ich sicher, würde ich nie wieder vergessen.

So wie wir Stolz fühlten, war die Crew der „Ice Prince“ von Dankbarkeit erfüllt. „Ich danke euch, dass ihr mein Leben gerettet habt“, sagte einer der Jüngeren mit einem breiten Lächeln und nippte an seinem Tee. Ein anderer sprach im Namen all derer, die kein Englisch konnten: „Von mir und allen anderen ein großes Dankeschön“, sagte er.

Nachdem alle Sandwiches verspeist waren und ich meinen Einsatzbericht geschrieben hatte, musste ich noch Interviews geben. Lokalreporter hatten Wind von der Geschichte bekommen. Aber danach hatte ich nur noch einen Job zu erledigen, bevor ich nach Hause zu Melanie und den Kindern fuhr.

Ich musste noch die Wäsche aus dem Trockner holen.

Als die Haustür hinter mir ins Schloss fiel, war es 4:30 Uhr. Wir waren neuneinhalb Stunden im Einsatz gewesen. Ich schlich mich ins Schlafzimmer, so leise ich konnte. Melanie wachte trotzdem auf.

„Ihr hattet einen Notruf, oder?“

Sie wusste natürlich, dass wir im Einsatz waren. Als klar wurde, was Sache war, hatte Ken unsere Familien kontaktiert und sie vorgewarnt, dass es für uns eine lange Nacht werden würde.

„Allerdings“, erwiderte ich.

„Alle heil zurückgekommen?“, fragte sie.

„Ja.“

„Gut.“

Dann, nach einer kurzen Pause, hakte sie nach: „Aber du hast doch die Wäsche mitgebracht, oder?“

Da konnte ich nicht anders und musste laut lachen.

„Klar, alles erledigt.“

Nach der Nacht, die wir gerade durchgestanden hatten, war ich fast schon froh, dass ich eine solche banale Frage beantworten durfte.


Am nächsten Morgen wachte ich auf und schaltete vom Bett aus den Fernseher ein. Es fiel mir schwer, die Energie aufzubringen, um sofort aufzustehen, so erschöpft war ich. Aber ich wusste auch, dass es auf der Station noch viel zu tun gab.

Noch mehr Berichte schreiben. Videos sichten. Checken, ob das Boot einen größeren Schaden abbekommen hatte.

Mir war schon klar, dass es ein großer Einsatz gewesen war. Aber wie groß, das verstand ich erst, als mein schlaftrunkenes Hirn endlich registrierte, was die Nachrichten gerade zeigten. „In der vergangenen Nacht ist es im Ärmelkanal zu einer groß angelegten Rettungsoperation gekommen“, berichtete der Reporter.

Oh, was ist das denn? Jetzt hörte ich genauer hin.

„Ein 6395-Tonnen-Kümo war in Seenot geraten. Involviert waren die RNLI- Rettungskreuzer der Stützpunkte Torbay und Salcombe“, fuhr der Reporter fort. Unscharfe Bilder zeigten ein großes Schiff, das mit Schlagseite in schwerer See rollte, und ein winziges Boot, das direkt daneben in den wilden Wellen tanzte.

Moment mal. Das war nicht irgendein Boot.

Das war unser Rettungskreuzer.

Erst jetzt, auf diesen wackligen Schwarz-Weiß-Bildern, die offenbar der Hubschrauber aufgenommen hatte, wurde mir wirklich das Ausmaß unseres Einsatzes bewusst. Ein Gänsehaut-Moment. Es war ein bizarres Gefühl.

Oh. Mein. Gott. Das waren wir!

Ich schaltete durch die anderen TV-Sender. Dieselbe Geschichte überall. Ein Teil der Decksladung von dem Frachter, riesige Holzstämme, waren an der Küste angespült worden. Und Reporter hatten sich sofort darangemacht herauszufinden, woher das ungewöhnliche Treibgut stammte.

Melanie musste die ganze Aufregung auch mitbekommen haben, aber sie hatte nichts gesagt. Wir waren heil zurückgekommen. Mehr wollte sie nicht wissen. Das war schon immer ihre Methode gewesen, mit unserem Job umzugehen. Sie ahnte wohl, wie gefährlich unsere Einsätze oft waren. Doch sie wusste auch, wie sehr ich diese Arbeit auf See liebte.

Für unsere Ehe war es immer ein Tabu gewesen, und es funktionierte: keine Details über den Job des Seenotretters. Niemals.

Ich konnte es ihr nicht übel nehmen, dass sie es nicht so genau wissen wollte. Mein Hochgefühl über den erfolgreichen Einsatz wich im Laufe des Tages der Erkenntnis, wie groß die Gefahr war, in die wir uns begeben hatten. Das Gefühl war überwältigend. Ich schaute mir das Video an, immer wieder, auf den verschiedenen Kanälen, und mein Puls raste. Es war nicht länger nur eine Erinnerung, es war da vor mir, ich konnte jedes riskante Manöver und jede Beinahe-Katastrophe klar sehen. Meine Beine und meine Hände zitterten noch heftiger als bei der ersten Nachricht über den Vorfall im Fernsehen. Jetzt kamen die Emotionen hoch.


Der Frachter „ICE PRINCE“ sinkt nach der dramatischen Rettung der Crew im Englischen Kanal.

Wir hatten solches Glück gehabt.

Als ich den Frachter mit dem Seenotkreuzer rammte. Als der Seemann von der Reling ins Wasser stürzte. Und erstmals wurde mir klar, wie unglaublich klein und unbedeutend unser Boot wirkte, wie es da von den Wellen herumgeworfen wurde. David und Goliath.

Wir hatten wirklich großes Glück gehabt.

Dass unser Kreuzer der Kollision standgehalten hatte. Dass wir alle von dem Frachter runterbekommen hatten. Dass sich keiner unserer Leute verletzt hatte.

Bei dem Gedanken wurde mir jetzt noch übel: Bei der Arbeit unter diesen Bedingungen hätte es jeden aus meiner Crew erwischen können. Es hätte Tote geben können.

Und das wäre dann meine Schuld gewesen.

Ich schaute mir das Video noch mal von vorne an und nahm mir jede einzelne Szene kritisch vor. Überprüfte jede einzelne Entscheidung, die ich in der Situation getroffen hatte. Im Einsatz selbst war mir mein Handeln fokussiert vorgekommen, die einzelnen Schritte klar und konsequent. Das stellte sich jetzt ganz anders dar. Meine Verantwortung galt meiner Crew – und zwar vor allen anderen Überlegungen. Es war mein Job, sie unversehrt zu ihren Frauen, Partnern und Kindern zurückzubringen.

War ich doch zu große Risiken eingegangen?

Es war richtig und wichtig, die eigenen Entscheidungen zu hinterfragen, doch ich durfte bei aller Selbstkritik den Ausgang des Einsatzes nicht vergessen. Wir hatten acht Leben gerettet. Und ich hatte eine Crew von sieben Mann heil wieder am Stützpunkt abgeliefert. Müde waren wir alle, ein paar blaue Flecken hatte es gegeben, aber sonst hatte keiner größere Blessuren davongetragen. Selbst unser Seenotkreuzer war fast unbeschadet geblieben. Kein Leck im Rumpf, keine ernsten Probleme, nur ein paar Stücke aus den Fendern gerissen, aus dem Aufprallschutz. Ein paar Tage später erhielt die Crew einen Brief vom Kommandanten der „HMS Cumberland“, der Fregatte, die in der Nacht des Einsatzes auf Stand-by war, um uns zu unterstützen. Ich strahlte vor Stolz für meine Leute. Denn in dem Brief hieß es: „Es war ein Privileg, Ihnen – sozusagen von einem Platz in der ersten Reihe – zuschauen zu dürfen, wie Sie keine Anstrengung scheuten, um auch noch die verbliebenen acht Mann von dem Schiff zu bergen. Sie hatten mit Ihrem Seenotkreuzer extrem schwierigen Bedingungen zu widerstehen. Mit Ihrem Handeln schreiben Sie die großartige Tradition des RNLI fort und haben den Respekt aller Beteiligten verdient.“

Vormann Mark Criddle wurde für seinen Einsatz mit der Verdienstmedaille in Silber der RNLI geehrt. Es war die erste Auszeichnung dieser Art in drei Jahren.

Überleben im Sturm

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