Читать книгу Die Klerisei - Nikolai Semjonowitsch Leskow - Страница 6
Viertes Kapitel.
ОглавлениеDer Sommerabend hat sich über Stargorod herabgesenkt. Längst ist die Sonne untergegangen. Die Anhöhe, auf der sich die spitze Kuppel des Domes erhebt, liegt in bleiches Mondlicht getaucht, das stille, flache Ufer drüben versinkt in warmer Finsternis. Über die schwimmende Brücke, welche beide Stadtteile miteinander verbindet, bewegen sich ab und zu einsame Gestalten. Sie haben es eilig; denn die Nacht im stillen Städtchen treibt sie früh in ihre Nester und an ihre Herdfeuer. Schellenklingelnd fährt ein Postwagen über die Brückenbohlen, wie über Klaviertasten; dann ist alles wieder totenstill. Von den Wäldern draußen weht eine wohltuende Kühle herüber. Blau schimmert auf der von zwei Armen der Turitza gebildeten Insel das Gemüsefeld des uralten schiefnäsigen Sonderlings Konstantin Pizonskij, welcher von allen »Onkel Kotin« genannt wird.
»Molwoscha! Wo bist du, Molwoscha?!« schallt es von der Insel herüber.
Der Alte ruft den muntern Buben, seinen Pflegesohn, und so deutlich ist dieser Ruf im Hause des Propstes zu hören, daß man glauben möchte, es riefe jemand dicht unter dem Fenster, an welchem die Pröpstin sitzt. Von demselben Gemüsefeld schallt ein lautes Kinderlachen herüber, man hört das Wasser plätschern, nackte Kinderfüßchen laufen klatschend über die Brückenbohlen, und hellauf bellt ein spielender Hund. Alles das scheint so nah, daß die Mutter Pröpstin von ihrem Platz am Fenster aufspringt und die Arme nach vorn ausstreckt. Sie meint, das laufende und lachende Kind müsse ihr gleich in den Schoß fallen. Aber als sie sich umschaut, erkennt sie die Täuschung. Sie tritt vom Fenster in das Innere des Zimmers zurück, zündet eine der auf der Kommode stehenden Kerzen an und ruft ein kleines, etwa zwölfjähriges Mädchen zu sich heran.
»Weißt du nicht, Feklinka, wo unser Vater Propst ist?« fragt sie.
»Er spielt Dame beim Polizeichef, Mütterchen.«
»Ah so, beim Polizeichef. Schon recht. Wir wollen ihm das Bett machen, Feklinka, damit alles fertig ist, wenn er heimkommt.«
Feklinka bringt aus dem Nebenzimmer zwei Kissen in die Wohnstube, ein Bettuch und eine gelbe wollene Steppdecke; die Pröpstin einen weißen Pikee-Schlafrock und ein großes rotseidenes Tuch. Das Bett wird dem Propst auf dem großen, ziemlich harten Sofa aus Masernbirkenholz gemacht. Zu Häupten wird die Decke zurückgeschlagen; der weiße Schlafrock über einen Lehnstuhl zu Füßen des Bettes ausgebreitet, und auf den Schlafrock das Seidentuch gelegt. Sowie alles gemacht ist, schiebt die Pröpstin mit Feklinka einen ovalen Tisch auf massivem Fuße, ebenfalls aus Masernholz, neben das Kopfende des Bettes, und stellt eine Kerze, ein Glas Wasser, ein Tellerchen mit gestoßenem Zucker und eine Glocke darauf. Alle diese Vorbereitungen und die Genauigkeit, mit der sie vorgenommen werden, zeugen von der großen Aufmerksamkeit, mit der die Pröpstin allen Gewohnheiten ihres Gatten entgegenkommt. Erst als sie alles gewohnheitsmäßig geordnet hat, beruhigt sie sich wieder, löscht die Kerze aus und setzt sich an ihr einsames Fenster, um auf den Gatten zu warten. Wer sie hätte sehen können, würde eine gewisse Unruhe in dieser Erwartung bemerkt haben, welche ihre guten Gründe hatte: Tuberozow, der seit langem schon unfroh schien, war heute den ganzen Tag mürrisch gewesen und das beunruhigte seine treue Gefährtin. Er war auch sehr müde, denn er hatte heute auf die Felder der Vorstadtbewohner hinausgemußt, um einen Bittgottesdienst anläßlich der andauernden Trockenheit abzuhalten. Nach dem Essen hatte er sich etwas niedergelegt und war dann spazierengegangen. Später hatte er den Polizeichef aufgesucht, und war bei ihm sitzen geblieben. Die kleine Pröpstin wartete erst eine halbe Stunde und dann noch eine ganze, aber er kam nicht. Tiefe Stille herrschte überall. Plötzlich klingt es von der Hügelseite herüber wie Gesang. Die Pröpstin horcht auf. Es ist der Diakon Achilla; sie kennt diese angenehme tiefe Stimme gut. Er steigt den Batawin-Berg herab und singt:
Es ruht die Welt im Frieden
Der lauen Frühlingsnacht,
Längst haben alle Müden
Die Augen zugemacht.
Der Diakon ist unten angekommen, geht über die Brücke und singt weiter:
Da klopft mit seinem Stecken
Cupido an mein Tor,
Und ich in jähem Schrecken
Fahr' aus dem Traum empor.
Die Pröpstin hört dem Gesang des Achilla mit Vergnügen zu. Sie hat den Mann gern, weil er ihren Gatten so liebt, und sie mag auch seinen Gesang. In Träumerei versinkend merkt sie gar nicht, wie der Diakon die Brücke hinter sich läßt und immer näher und näher kommt. Als er endlich dicht vor ihrem Fensterlein steht, donnert er plötzlich mit schauerlichem Pathos:
Wer – frag ich – ist der Kühne,
Der da zu klopfen wagt?
Die aus ihren Träumen aufgeschreckte Pröpstin schreit leise auf und eilt in das Innere des Zimmers zurück.
Als der Diakon ihren Schreckensruf hört, unterbricht er sofort seinen Gesang.
»Ihr schlaft noch nicht, Natalia Nikolajewna?« fragt er, packt dabei mit beiden Händen das Fensterbrett und schwingt sich auf das Gesimse.
»Wir haben Frieden!« ruft er.
»Was?« fragt die Pröpstin.
»Friede,« antwortet der Diakon, »Friede.«
Achilla fährt mit der Hand durch die Luft und fügt hinzu:
»Der Vater Propst … hat ein Ende gemacht.«
»Was redest du da. Was für ein Ende?« fragt die Pröpstin erregt.
»Schluß! … Der Streit mit mir hat ein Ende! … Von nun an herrscht Frieden und Wohlgefallen. Den wievielten haben wir heute? Den vierten Juni. Notiert's Euch: ›am vierten Juni Frieden und Wohlgefallen‹. Denn Friede soll mit allen sein. Der Lehrer Warnawka kriegt's jetzt aber zu spüren.«
»Was hast du? Nach Branntwein riechst du nicht und schwindelst doch.«
»Ich schwindeln! Ihr sollt bald sehen, wie ich schwindle! Heut ist der vierte Juni, der Tag des heiligen Methodius von Pesnosch, – notiert Euch das auch, denn mit diesem Tage geht es los.«
Der Diakon richtet sich auf den Ellenbogen noch höher auf und flüstert, sich fast bis zum Gürtel ins Fenster hineinschiebend:
»Ihr wißt wohl gar nicht, was der Lehrer Warnawka getan hat?«
»Nein, Freundchen, ich habe nichts gehört. Was hat der Tunichtgut denn getan?«
»Etwas Entsetzliches! Er hat einen Menschen im Topf gekocht.«
»Diakon, du lügst!« ruft die Pröpstin.
»Nein, er hat ihn gekocht!«
»Ganz gewiß, du lügst! Ein Mensch hat doch in einem Kochtopf nicht Platz.«
»Er hat ihn im Aschenkasten gekocht,« fuhr der Diakon unbekümmert fort, »und obgleich ihm diese greuliche Tat vom Polizeichef und vom Arzt gestattet war, wird er doch dafür meinen Händen ausgeliefert.«
»Diakon, du lügst. Das sind alles Lügen.«
»Nein, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, nicht eine Silbe ist gelogen,« erwiderte der Diakon mit heftigem Kopfschütteln und die Worte wirbelten noch schneller von seinen Lippen. »Warnawka hat tatsächlich einen Menschen mit Genehmigung der Obrigkeit, das heißt: des Arztes und des Polizeichefs, gekocht. Es war eine Wasserleiche. Aber dieser Gekochte quält jetzt ihn und seine Mutter, die Frau Hostienbäckerin, aufs grausamste, und ich habe das alles in Erfahrung gebracht und beim Polizeichef dem Vater Propst erzählt, und der Vater Propst hat dem Herrn Polizeichef dafür ein tüchtiges – coppe vachée heißt's auf französisch – gemacht. Der Polizeichef hat gesagt: ›Ich will – sagt er – Soldaten holen und der Sache ein Ende machen.‹ Ich aber fügte dazu: ›Hol du nur deine Soldaten, ich bin selber Soldat!‹ Und von morgen ab, Euer Hochwürden, ehrenwerteste Frau Pröpstin Natalia Nikolajewna, werdet Ihr sehen, wie der Diakon Achilla den Lehrer Warnawka strafen wird, ihn, den Gotteslästerer, der die Lebenden irre macht und die Toten martert. Jawohl, heute ist der vierte Juni, der Gedächtnistag des heiligen Methodius von Pesnosch! Ihr solltet Euch das notieren …«
Hier wurde der Redestrom des Diakons Achilla plötzlich unterbrochen, denn aus der Ferne vom Hügel ließ sich ein Husten vernehmen, das nur vom Vater Propst kommen konnte.
»Halloh! Da kommt der Propst Sawelij!« ruft Achilla, springt vom Gesims auf die Erde und geht seines Weges.
Die Pröpstin erhebt sich, zündet zwei Kerzen an und blickt bei ihrem Scheine den eintretenden Gatten scharf an. Der Propst küßt die Frau leise auf die Stirn, nimmt die Kutte ab, zieht den weißen Schlafrock über, bindet das rote Seidentuch um den Hals und setzt sich ans Fenster. Die Pröpstin hat alles vergessen, was ihr eben noch der Diakon vorgeredet, und fragt den Gatten gar nicht danach. Sie geleitet ihn in das kleine längliche Nebenzimmer, das ihr als Schlafzimmer dient und wo sie jetzt den Abendimbiß für den Vater Sawelij bereitgestellt hat. Vater Sawelij setzt sich an den kleinen Tisch, verzehrt die zwei weichgekochten Eier, spricht sein Dankgebet und wendet sich dann seiner Frau zu, um ihr Gute Nacht zu sagen. Die Pröpstin selbst ißt abends nie etwas. Sie sitzt ihrem Gatten gegenüber und leistet ihm allerhand kleine Dienste, indem sie ihm bald etwas reicht, bald etwas fortträgt. Dann erheben sich beide, beten vor dem Heiligenbild und beginnen unmittelbar darauf, sich gegenseitig zu bekreuzigen. Diesen Abendsegen erteilen sie einander immer zu gleicher Zeit und mit solcher Gewandtheit und Geschwindigkeit, daß man sich nur wundern kann, wie ihre hin- und herwirbelnden Hände kein einziges Mal gegeneinander stoßen oder aneinander hängen bleiben.
Hierauf wechseln die Gatten den Abschiedskuß, wobei der Propst seiner kleinen Frau die Stirne, sie ihm aber das Herz küßt. Dann trennen sie sich. Der Propst geht in sein Wohnzimmer, um sich niederzulegen.
Aber heute konnte der Alte keine Ruhe finden. Schon war eine Stunde vergangen, und immer noch ging er auf und ab in seinem weißen Pikeeschlafrock, mit dem roten Seidentuch um den Hals. Endlich trat er an einen kleinen roten Schrank, der auf einer hohen Kommode mit abgezogener Platte stand. Aus diesem Schränkchen nahm er ein in dicken blauen Demi-Coton mit gelbem Juchtenrücken gebundenes Exemplar des »Kalenders« des Eugenios, legte das Buch auf den ovalen Tisch, der vor seinem Bette stand, zündete zwei Sparkerzen an und horchte auf: es schien, als ob seine Frau noch nicht schliefe. So war es auch.
»Willst du noch lesen?« fragte in diesem Augenblick aus dem Nebenzimmer die sanfte, besorgte Stimme der Pröpstin.
»Ja, liebe Natascha, ich will noch ein wenig lesen,« antwortete Vater Tuberozow. »Du aber tu mir den Gefallen und schlafe –«
»Gewiß werde ich schlafen, gewiß, mein Lieber,« erwiderte die Pröpstin.
»Ja, ich bitte dich, schlafe.« … Und mit diesen Worten setzte der Propst eine große silberne Brille auf seine stolze römische Nase und begann langsam in seinem blauen Buch zu blättern. Er las nicht, sondern blätterte nur, und dabei interessierte ihn nicht das, was in dem Buch gedruckt stand, sondern die von seiner eigenen Hand beschriebenen Einschaltblätter. Diese Notizen waren zu verschiedenen Zeiten gemacht und weckten in dem alten Priester eine ganze Welt von Erinnerungen, zu denen er hin und wieder gern zurückkehrte.
Da wir nun zwischen den Propst Sawelij und seine Vergangenheit geraten sind, wollen wir auch still und ehrfürchtig dem leisen Flüstern der Greisenlippen lauschen, das durch die dumpfe Stille der Mitternacht dringt.