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Fünftes Kapitel.
ОглавлениеDas Demi-Cotonbuch des Propstes Tuberozow.
Tuberozow betrachtete seinen Kalender von dem ersten Einschaltblatte an, auf dem zu lesen stand: »Nachdem ich am 4. Februar 1831 durch den Hochwürdigen Gawriil die Priesterweihe empfangen, erhielt ich von ihm dieses Buch als Belohnung für meine guten wissenschaftlichen Leistungen im Seminar und mein gutes Betragen.« Auf diese erste Notiz, die am ersten Tage nach der Ordination gemacht war, folgte als zweite: »Zum erstenmal im Dom gepredigt, nachdem der Bischof die Messe gehalten. Zum Thema der Predigt hatte ich das Gleichnis von den Söhnen des Weinbergsbesitzers genommen. Der eine sprach: ich gehe nicht, – und ging doch, der andere aber sprach: ich gehe, – und ging nicht. Ich bezog dieses auf die guten Handlungen und die guten Vorsätze, wobei ich mir einige Anspielungen auf die Beamten erlaubte, die ihren Diensteid ablegen und dann nicht einhalten. Dabei wies ich auch ganz vorsichtig auf die Machthaber und Vorgesetzten hin. Ich sprach fließend und weniger feierlich als natürlich. Seine Eminenz belobten diesen meinen Versuch. Aber später riefen Seine Eminenz mich zu sich und bemerkten nach einem allgemeinen Lobe meiner Rede im besonderen, daß ich mich hüten solle, in meinen Predigten direkt auf die Wirklichkeit hinzuweisen, vor allem aber die Herren Beamten aus dem Spiele lassen, denn je weiter man sie sich vom Leibe halte, desto gottwohlgefälliger sei das. Für das aber, was ich schon gesagt hatte, machte er mir keine Vorwürfe, sondern schien es sogar zu billigen.«
»1832 am 18. Dezember wurde ich zum Bischof gerufen und erhielt eine Ernennung nach Stargorod, wo das Schisma sehr stark sein soll. Ich erhielt die Weisung, ihm auf jede Art entgegenzuwirken.«
»1833 am 8. Februar fuhr ich mit meiner Gattin aus dem Dorfe Blagoduchowo nach Stargorod und gelangte am 12. zur Frühmesse daselbst an. Unterwegs wären wir fast von Wölfen gefressen worden. In der Gemeinde fand ich viel Unordnung vor. Die Altgläubigen sind im Besitz großer Macht. Nachdem ich mich etwas umgeschaut hatte, sah ich, daß der Kampf gegen das Schisma nach den konsistorialen Vorschriften wenig Wert hat. Ich schrieb das ans Konsistorium und erhielt einen Verweis.«
Der Propst überschlug ein paar Eintragungen und blieb dann wieder bei der folgenden stehen: »Nachdem ich einen Verweis für Untätigkeit erhalten, die man daraus zu ersehen meint, daß ich nicht mit reichlichen Denunziationen aufwarte, suchte ich mich zu rechtfertigen, indem ich darauf hinwies, daß die Schismatiker nichts anderes täten, als was man schon längst von ihnen wisse, und fügte diesem Bericht noch hinzu, daß vor allem der orthodoxe Klerus in äußerster Armut lebe, und infolgedessen, in Anbetracht der Schwäche der menschlichen Natur, gegen Bestechung nicht unempfindlich sei und sogar selber der Ketzerei Vorschub leiste, gleich anderen Verteidigern der Orthodoxie, indem er Spenden von den Ketzern annehme. Ich schloß damit, daß man mit der Befreiung der Geistlichkeit aus ihrer schweren Abhängigkeit beginnen müsse, wenn man die Schäden der Kirche heilen wolle. Für selbigen Versuch erhielt ich abermals einen Verweis und wurde zu einer persönlichen Aussprache zitiert, bei der ich ein »unehrerbietiger Ham« genannt wurde, der »die Blöße seines Vaters aufdeckt«.«
Etwas weiter, nach einigen anderen Notizen, stand zu lesen: »Ich war in Geschäften in der Gouvernementsstadt, und als ich mich dem Bischof vorstellte, berichtete ich ihm persönlich von der Armut des Klerus. Seine Eminenz zeigten sich sehr gerührt, aber sie bemerkten, daß auch unser Herr selber nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegen sollte, und doch nicht müde ward zu lehren. Er riet mir, ich solle den Klerikern das Buch ›Von der Nachfolge Christi‹ zur Lektüre empfehlen. Darauf erwiderte ich Seiner Eminenz nichts, und es wäre auch unnütz gewesen, denn bei unserer Armut können wir dieses Buch gar nicht beschaffen.
Höchst politisch brachte ich bei der Abendtafel beim Vater Schließer von der Domkirche das Gespräch nochmals auf diesen Gegenstand. An der Tafel nahmen noch der Vater Propst und der Konsistorialsekretär teil. Aber sie zogen meine Worte ins Scherzhafte. Der Sekretär sagte spöttisch, daß der Arme leichter ins Himmelreich komme, – was wir auch ohne Seine Wohlgeboren schon wußten, der Vater Schließer aber erzählte bei dieser Gelegenheit eine nicht üble Anekdote von einem Studenten der Akademie, der später ein berühmter Gottesmann und Prediger wurde. Dieser hätte nämlich noch als Laie auf die Frage des Bischofs, ob er irgend Vermögen besitze, geantwortet:
»Freilich besitze ich welches, Eminenz.«
»Bewegliches oder unbewegliches?« fragte dieser, worauf jener erwiderte:
»Sowohl bewegliches, wie unbewegliches.«
»Was besitzest du denn an beweglichem Gut?« fragte abermals der Bischof, indem er des Jünglings ärmliches Gewand betrachtete.
»An beweglichem Gut besitze ich ein Haus im Dorf,« antwortete der Befragte.
»Wie kann denn ein Haus als bewegliches Gut gelten? Bedenke, wie dumm deine Antwort ist.«
Jener aber, nicht im geringsten verlegen, entgegnete, seine Antwort wäre ganz richtig, denn sein Haus sei solcher Art, daß, sobald der Wind es anblase, es in heftige Bewegung gerate.
Dem Bischof erschien diese Antwort so eigenartig, daß er den Studiosus nicht mehr für einen Dummkopf zu halten vermochte, sondern höchst interessiert weiterfragte:
»Was nennst du denn dein unbewegliches Gut?«
»Mein unbewegliches Gut,« sprach der Student, »ist meine Mutter, die Küstersfrau, und unsere braune Kuh, die beide ihre Füße nicht bewegen konnten, als ich die Heimat verließ, die Mutter vor Altersschwäche, die Kuh wegen Futtermangels.«
Alle lachten sehr darüber, obgleich ich an der Geschichte mehr Trauriges und Tragisches fand als Komisches. Ich beginne, bei allen eine große Lachlust und einen Leichtsinn zu bemerken, wovon ich wenig Gutes erwarte.
Mein Leben geht in Schlafen und Essen dahin. Das Schisma kann ich auf keine Weise bekämpfen, denn ich bin in allem gebunden, sowohl durch meinen halbverhungerten Klerus, als durch den allzu satten Polizeichef. Es empört mich, daß ich gleichsam zum Spott als Missionar hierher gesandt bin. Ich soll predigen – und keiner will mich hören; ich soll lehren – und keiner will lernen. Der Polizeichef predigt viel besser als ich, denn er hat so ein gewisses Missionsinstrument mit zwei Enden, – von mir aber verlangt man Denunziationen. Eminenz! Was sollen diese Denunziationen, was soll in sie eingewickelt werden? Mir verbietet, soweit ich die Sache verstehe, mein Amt, dergleichen zu schreiben. Lieber will ich, wenn es nötig ist, reines Papier hergeben …«
»Heute morgen, am 18. März 1836, deutete meine Pfarrerin Natalia Nikolajewna an, daß sie sich gesegneten Leibes fühle. O Herr, schenke uns diese Freude! Zu erwarten Ende November.«
»Am 9. Mai, dem Tage des heiligen Nikolaus, wurde auf obrigkeitlichen Befehl die altgläubige Kapelle in Dejewo zerstört. Es war ein schauerliches, unwürdiges und wahrhaft empörendes Schauspiel. Zu allem andern riß noch das Eisenkreuz von der Kuppel ab und blieb an den Ketten hängen. Als die Zerstörer mit ihren Feuerhaken es voller Erbitterung ganz herabzuzerren sich bemühten, stürzte es plötzlich herunter und zerschmetterte einem Feuerwehrsoldaten den Schädel, daß er tot liegen blieb. Er war ein Jude. O wie weh tat es mir, das alles mit ansehen zu müssen! Herr, mein Gott! Sie sollten doch wenigstens keine Juden beauftragen, das Kreuz herabzureißen! Abends versammelte sich das Volk auf der Trümmerstätte und ihre und unsere Geistlichkeit kam auch hin, und alle haben wir geweint und zuletzt fielen wir uns in die Arme.«
»10. Mai. Die Obrigkeit hat einen großen Fehler begangen. Kurz vor Mitternacht verbreitete sich das Gerücht, das Volk habe eine heilige Lampe auf die Steine gestellt und halte eine Gebetsversammlung beim zerstörten Gotteshaus ab. Wir gingen alle hinaus und fanden die Leute wirklich beim Gebet. Ein alter Mann hielt die Lampe in der Hand und sie erlosch nicht. Der Stadthauptmann gab leise Befehl, die Feuerspritzen heranzufahren und die Menge mit Wasser zu begießen. Das war höchst unbedacht, ich kann sogar sagen: dumm – denn das Volk zündete Kerzen an und ging heim. Dabei sang es vom »grausamen Pharao« und rief: »Der Herr hilft dem verfolgten Glauben und der Wind verlöscht die Lichter nicht!« Ich machte den Stadthauptmann darauf aufmerksam, wie unvorsichtig seine Verordnung gewesen, die Kapelle zu zerstören, das Kreuz herabzureißen und das Marienbild fortzuschaffen. Aber was kümmert er sich drum?«
»12. Mai. Die Eitelkeit hat mich übermannt: ich habe mir von der Wirtschafterin der Frau Adelsmarschall zwei seidene Kleider der Gnädigen auf Kredit geben lassen und habe sie in die Stadt zum Färben geschickt. Daraus will ich mir dann eine seidene Kutte machen lassen. Es geht nicht anders, man muß sich akkurat kleiden. Ich komme allmählich in alle adeligen Häuser, und ich will nicht über die Achsel angesehen werden.«
»17. Mai. Die Pfarrerin Natalia Nikolajewna deutete heute an, daß sie sich betreffs ihres Zustandes getäuscht habe.«
»20. Juni. Auf einen Bericht des Stadthauptmanns, daß ich zu Ostern nicht auch in die Häuser der Altgläubigen mit dem Kreuze gegangen, wurde ich wieder nach der Gouvernementsstadt zitiert. Ich legte die ganze Sache dem Bischof eingehend dar. Nicht aus Fahrlässigkeit hätte ich die Häuser der Altgläubigen gemieden, denn auch meine Tasche hätte ja davon Schaden gehabt. Ich tat es, um die Schismatiker fühlen zu lassen, daß ihnen die Ehre nicht gebühre, von mir und dem gesamten Klerus besucht zu werden. Der Bischof wurde nachdenklich und ließ sodann diese meine Erklärung gelten. Allein nicht umsonst sagt das Volk, daß, wenn der Zar auch gnädig sei, sein Hundejunge es noch nicht zu sein brauche. Weil die Sache meiner unterlassenen Amtshandlung zum Teil auch die weltliche Obrigkeit angeht, schickte der Bischof mich zum Gouverneur, damit ich ihm eine Erklärung in der hochwichtigen Angelegenheit abgebe … War das eine Erklärung! … Wehe mir armen Sünder, was ich auszustehen hatte! Wehe auch euch, ihr meine Nächsten, meine Brüder, Vertrauten und Freunde, ob der Schmach und Erniedrigung, die ich von diesem kurzschwänzigen Glaubensfeind erdulden mußte! Der Gouverneur, der als Deutscher die Ambitionen seines Luther hochhalten zu müssen wähnt, ließ den russischen Popen überhaupt nicht zu sich heran, sondern schickte mich zur Erörterung der Angelegenheit zu seinem Kanzleivorsteher. Dieser, ein Pole, war aber nicht geneigt, die Sache wie der Bischof anzusehen, sondern er fiel über mich her mit Geschrei und Gebrüll, sagte, ich leiste den Ketzern Vorschub und widersetze mich dem Willen meines Kaisers. Wehe dir, du aussätziger Pole, daß du mit deinem löcherigen Gewissen dich unterstehst, mir Widersetzlichkeit gegen meinen Kaiser vorzuwerfen! Allein ich nahm es hin und ging schweigend von dannen, des Sprichwortes gedenkend: Wie der Herr, so's Gescherr. Und so gewinnt es den Anschein, als wäre alles Geschilderte nur geschehen, um meine neue seidene Kutte einzuweihen, welche, wie ich hier bemerken will, sehr akkurat gefertigt ist, und der man es nur bei Sonnenschein ein wenig ansieht, daß sie aus zwei verschiedenen Stoffen gefertigt ist.«
»23. März 1837. Heute, am Karsamstag, kamen die Kleriker und der Diakon zu mir. Prochor bittet, wir sollten zu Ostern durchaus auch in die Häuser der Altgläubigen mit dem Kreuz gehen, denn es brächte ihnen zu viel Schaden, wenn wir es unterließen. Ich gab ihnen vierzig Rubel von meinem Gelde, weil ich mich der Schmach nicht unterziehen wollte, vor den Türen der reichen Bauern um Almosen zu bitten. Jetzt scheint es mir eine Torheit, daß ich mir die seidene Kutte machen ließ; ich wäre auch ohne sie ausgekommen und hätte dann mehr für den Klerus übriggehabt. Ich gedachte eben: Kleider machen Leute.«
»24. April. Eine Schmach ist mir widerfahren, die mich weinen und schluchzen ließ. Ich bin erneut denunziert worden. Nochmals stand ich vor jenem Gouvernementskanzleivorsteher und mußte mich wegen Nichtbesuches der Altgläubigen verantworten. Mein eigener Klerus hat mich denunziert. Wie ertrag' ich diese Niedrigkeit und Undankbarkeit! Du Denker und Administrator! Betrachte in deinem aufgeklärten Geiste, woraus das Leben eines russischen Popen sich zusammensetzt! Auf dem Heimwege haderte ich die ganze Zeit mit mir selber, daß ich nicht auf die Akademie gegangen war. Von dort wäre ich zur Klostergeistlichkeit gegangen, wie so viele andere. Mit der Zeit wäre ich Archimandrit geworden und Bischof. In einer Kutsche wäre ich gefahren und hätte selber kommandiert, statt daß man mich kommandierte. Es war mir eine boshafte Freude, mich diesen eiteln Gedanken hinzugeben; immer wieder sah ich mich als Bischof. Aber als ich heimgekehrt war, wurde ich so zärtlich von meiner Pfarrerin empfangen, daß ich Gott dem Herrn dankte, der alles so gefügt hat, wie es ist.«
»25. April. In der Gouvernementsstadt haben sie mir Schmach angetan; allein das ist nichts dagegen, wie ich heute zu Hause beschämt worden bin. Einem Schulbuben gleich. Gestern erst schrieb ich die Memorabilien meiner Bekümmernisse und Ärgernisse nieder. Heute stand ich früh auf, setzte mich ans Fenster, und in Gedanken versunken schaute ich auf das Gemüsefeld des bettelarmen Pizonskij, das sich gerade vor meinem Fenster ausbreitet. Voriges Jahr wurde auf diesem Felde ein schwachsinniges Mädchen, eine gewisse Nastia, die ein vorüberziehender Soldat verführt hatte, von einem Knäblein entbunden, worauf sie sich in den Fluß stürzte und ertrank. Pizonskij hatte dieses Kind als Trost seines einsamen Alters zu sich genommen, und dann hatten alle die Geschichte bald vergessen. Ich als einer der ersten ebenfalls. Heut aber blicke ich von oben herab auf das Land dieses Pizonskij und denke an meine Angelegenheiten, da bemerke ich, daß dieser frisch aufgerissene, schwarze, sogar ein wenig bläuliche Erdboden ganz ungemein lieblich anzuschauen ist, wie er so von der Morgensonne übergossen daliegt. Die Furchen entlang schreiten hagere schwarze Vögel und stärken ihren hungernden Leib mit frischem Gewürm. Der alte Pizonskij selbst, den kahlen Kopf im hellsten Sonnenlicht badend, stand auf einer Treppe vor einem auf Pfählen befestigten Treibbeet, hielt in der einen Hand eine Schale mit Samen und legte mit der andern die Körner in die Erde, immer kreuzweise in ganz kleinen Prisen. Und dabei blickte er zum Himmel empor und sprach bei jedem Korn ein Wort des Spruches: »Herr, laß wohlgelingen, wachsen und gedeihen, auf daß ein jeder sein Teil habe, der Hungernde und der Verwaiste, der Wünschende, der Bittende und der Fordernde, der Segnende und der Undankbare.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, da schrien alle schwarzglänzenden Vögel, die auf dem Acker umhergingen, die Hühner gackerten, der Hahn krähte aus vollem Halse und schlug laut mit den Flügeln, und von seiner Matte schob sich jenes Kind, das Söhnlein der Blödsinnigen, das der alte Sonderling zu sich genommen. Es lachte hell auf in kindischer Freude, klatschte in die Händchen und kroch lachend über den weichen Erdboden. Es war mir wie eine Vision. Der alte Pizonskij war glückselig und sang laut Halleluja! … Halleluja, Herr mein Gott! – sang auch ich still für mich vor Entzücken, und Tränen der Rührung entströmten meinen Augen. In diesen heilenden Tränen löste sich mein Groll und ich sah ein, wie töricht mein Kummer gewesen war. Vermehre und laß wachsen, Herr, deine Gaben auf dieser Erde, daß ein jeder sein Teil erhalte, der Wünschende, der Bittende, der Fordernde und der Undankbare. … Mir ist ein solches Gebet in keinem gedruckten Buch vorgekommen. Gott, mein Gott! Dieser alte Mann gedachte auch des dem Diebe zukommenden Teiles und betete für ihn! O du mein weichherziges Rußland, wie bist du schön!«
»6. August, Christi Verklärung. Was für ein entzückendes Weib ist meine Pfarrerin Natalia Nikolajewna! Wieder frage ich: wo, außer im heiligen Rußland, kann es solche Frauen geben? Ich sagte ihr einmal, wie mich die Zärtlichkeit des bettelarmen Pizonskij zu den Kindern rühre, und gleich verstand oder erriet sie meine Gedanken und meine Sehnsucht: sie umarmte mich und mit der Schamröte, die ihr so schön zu Gesichte steht, sprach sie: »Warte nur, Vater Sawelij, vielleicht schenkt uns Gott doch noch – –« ein Kindlein wollte sie sagen. Aber ich hab' es zu oft schon erfahren, daß diese ihre Hoffnungen sich als trügerisch erwiesen, daher fragte ich sie gar nicht nach den Einzelheiten, – – und es kam auch wirklich wieder so, daß man sich nur vergeblich gefreut hatte. Aber auch aus diesem blinden Lärm ward mir ein rührendes Erlebnis. Heute predigte ich von der Notwendigkeit einer beständigen inneren Wandlung, daß man Kraft gewinne, in allen Kämpfen gleich einem starken und geschmeidigen Metall geschmiedet zu werden, und nicht dem Ton gleichwerde, der sich plattdrücken läßt, und wenn er trocken wird, noch die Spur des Fußes zeigt, der zuletzt auf ihn trat. Und wie ich so redete, ließ ich mich zu einer Improvisation hinreißen und wies das Volk auf Pizonskij hin, welcher an der Tür stand. Zwar nannte ich nicht seinen Namen, aber ich redete von ihm als von einem, der sich in unserer Mitte befinde, der zu uns gekommen sei nackt und bloß und von allen Narren ob seiner Armut verspottet, der aber doch nicht nur selbst nicht zugrunde gegangen sei, sondern auch das Größte getan habe, was ein Mensch tun könne, da er unbefiederte Vöglein gerettet und aufgezogen habe. Ich sprach davon, wie süß das sei, den wehrlosen Leib der Kleinen zu wärmen und in ihre Seelen die Saat des Guten zu streuen. Als ich das ausgesprochen hatte, fühlte ich meine Wimpern von Tränen feucht und sah, daß auch viele von den Zuhörern ihre Augen trockneten und jenen suchten, den meine Seele meinte, Kotin den Bettler, Kotin den Ernährer der Waisen. Und als ich merkte, daß er nicht mehr da war, denn er war demütig hinausgegangen, weil er meine Andeutung verstanden hatte, da ergriff mich eine gewisse Beklemmung, daß ich ihn durch mein Lob verwirrt hatte, und ich sprach: »Er weilt nicht mehr unter uns, liebe Brüder! Denn er bedarf dieses meines schwachen Wortes nicht, weil das Wort der Liebe längst schon mit dem Flammenfinger Gottes in sein demütiges Herz geschrieben ist. Ich bitte euch,« sprach ich und neigte mich tief, – – »ihr alle, die ihr hier versammelt seid, ehrenwerte und angesehene Mitbürger, vergebt mir, daß ich in meiner Ansprache euch keinen hochberühmten Feldherrn als Muster der Kraft und als Beispiel zur Nachahmung hingestellt habe, sondern einen von den Geringen, und wenn euch das ärgern sollte, so legt das meiner Armut zur Last, denn euer sündiger Pfarrer Sawelij hat oft, wenn er auf diesen Geringen schaute, gefühlt, daß er neben ihm kein Priester des höchsten Gottes sei, sondern in diesem Gewande, das meine Unwürde verhüllt, nichts als ein übertünchter Sarg. Amen.«
Ich weiß nicht, was in diesen meinen schlichten Worten, die ich ganz ex promptu gesprochen hatte, Weises und Schönes enthalten war. Ich muß aber sagen, daß meine andächtige Gemeinde etwas dieser Art herausgehört hatte, und als ich bei der Entlassung meine Hand den einzelnen darreichte, fiel mehr denn eine Träne darauf. Doch das ist noch nicht alles: das Wichtigste sollte für mich erst kommen.
Gewissermaßen als Belohnung für mein aufrichtiges Wort über das Glück, nicht bloß für die eigenen, sondern auch für fremde Kinder sorgen zu können, hat der Allgegenwärtige und Allwaltende auch meine Unwürdigkeit in seine Vaterhand genommen. Er hat mir heute den ganzen wahren Wert des Schatzes offenbar gemacht, den ich dank seiner unermeßlichen Milde besitze. Eben komme ich mit fünf nach der Messe geweihten Äpfeln heim, da erwartet mich an der Schwelle eine alte gute Bekannte: meine Pfarrerin Natalia Nikolajewna. Sie war während des Schlußgesanges leise hinausgeschlichen und hatte mir daheim nach Gewohnheit den Tee nebst einem leichten Frühstück bereitet. Nun steht sie kerzengerade auf der Schwelle, nicht mit leeren Händen, sondern mit einem Strauß von Wasserlilien und Gartenlevkojen. »Nun, bist du nicht ein hinterlistiges Weib, Natalia Nikolajewna!« sage ich, der ihr sonst nie Hinterlist vorgeworfen. Aber sie begriff, daß es im Scherz gesagt war, umhalste mich und begann leise zu weinen. Woher diese Tränen? – Das ist ihr Geheimnis, allein für mich ist dieses dein Geheimnis nicht geheimnisvoll, liebes Weib, daß du nicht weißt, wie es seinen Gatten trösten soll, und das ihm den Trost Israels, den kleinen Benjamin, nicht schenken darf. Ja, nur mit Wasserlilien und Gartenlevkojen begrüßte mich an diesem Tage ihr in Liebe und Wohlwollen weit aufgetanes Herz! In stiller Bekümmernis setzten wir zwei Kinderlosen uns an den Teetisch, doch nicht der Tee, sondern unsere Tränen wurden uns zum Trank; und Hand in Hand sanken wir nieder vor dem Bilde des Heilandes und lange und heiß beteten wir zu ihm um den Trost Israels. Natascha entdeckte mir später, daß sie gleichsam eine Engelstimme vernommen habe, und ob ich gleich verstand, daß dieses nur eine Frucht ihrer Phantasie gewesen, so wurden wir doch beide froh wie die Kindlein. Ich muß aber bemerken, daß auch in dieser Stimmung Natalia Nikolajewna mich, den rohen Mann, an Findigkeit des Geistes und an Würde der erhabenen Gefühle weit übertraf.
»Sage mir, Vater Sawelij,« fragte sie lieblich kosend, »sage mir, Lieber, hast du nicht irgendeinmal, ehe du mich gefunden, gegen das Gebot der Keuschheit gesündigt?«
Eine solche Frage, muß ich gestehen, machte mich äußerst verlegen, denn ich begriff plötzlich, warum meine unartige Gattin etwas ihr so wenig Geziemendes erfahren wollte.
Aber mit ihrer ganzen ausgezeichneten Bescheidenheit und all jener weiblichen Koketterie, die sie auch als Pfarrersfrau von der Natur geerbt hat, begann sie mich mit Erinnerungen aus meiner verflossenen Jugendzeit zu locken, und wies darauf hin, daß das, was sie angedeutet, sehr leicht hätte geschehen können, denn ich sei damals so schmuck gewesen, daß alle Mädchen, nicht nur aus geistlichen, sondern auch aus weltlichen Häusern, mir nachgeseufzt hätten, als ich in die Stadt Fatesh gekommen sei, um bei ihrem Vater um sie anzuhalten. So erheiternd das auch war, so suchte ich doch alle ihre Zweifel über meine Jugend zu zerstreuen, was mir auch nicht schwer fiel, denn ich brauchte nur die reine Wahrheit zu sagen. Allein je eifriger ich sie beruhigte, desto betrübter ward sie, und ich konnte nicht fassen, warum meine Rechtfertigung sie gar nicht erfreute, sondern nur immer trauriger machte, bis sie endlich sagte:
»Denke nach, Vater Sawelij, vielleicht, wenn du doch leichtsinnig gewesen … gibt es irgendwo noch ein Waisenkind …«
Nun erst verstand ich, was sie klar auszusprechen sich geschämt hatte: sie will mein illegitimes Kind ausfindig machen, das gar nicht vorhanden ist! Welche Herzensgüte! Wie ein Stier, den die Bremse gestochen hat, riß ich mich von meinem Platze, stürzte nach dem Fenster und richtete meine Blicke in die himmlische Ferne hinaus, daß nur der Himmel mich sehe, mich, den sein Weib so durch seine Güte und Sorglichkeit beschämt hatte. Sie aber, meine Lilien- und Levkojenfreundin, meine weiße, keusche, süß duftende Rose, mit leichten Schritten schlich sie mir nach und legte ihre kleinen Pfötchen mir auf die Schultern und sprach:
»Denke nach, Liebster: vielleicht ist irgendwo ein Vöglein vorhanden, und ist es so, dann lasse uns gehen und es holen!«
Nicht nur aufsuchen will sie das Kind, – sie hat es schon lieb, sie bemitleidet es wie ein noch unbefiedertes Vöglein! Das ward mir zu viel, ich biß mich in den Bart, fiel vor ihr in die Knie, neigte mich tief zur Erde und brach in jenes Schluchzen aus, das keiner auf Erden zu schildern vermag. Und in Wahrheit, saget mir, alle Zeiten und Völker, – wo außer in unserem heiligen Rußland, werden Frauen geboren, wie diese Tugend? Wer hat sie das alles gelehrt? Wenn nicht Du, allgütiger Gott, der Du sie deinem unwürdigen Knecht gegeben hast, daß er Deine Größe und Deine Güte näher fühlen solle!«
Hier war im Tagebuch des Vaters Sawelij fast eine ganze Seite mit Tinte begossen und unter dem Fleck standen die Zeilen:
»Weder will ich diesen Fleck entfernen noch eine gewisse Ungeschicklichkeit und Monotonie des Ausdrucks, die ich in den letzten Zeilen finde, verbessern; mag alles so bleiben, denn alles, was dieser Augenblick mir geschenkt hat, ist mir in seiner gegenwärtigen Gestalt teuer. Meine Pfarrerin konnte heut von ihren Schelmereien nicht lassen, obgleich es schon auf Mitternacht geht und sie gewöhnlich um diese Zeit schon zu schlafen pflegt. Ich aber ziehe es vor, mich in der Stille der Nacht noch an einem passenden Buch zu erquicken, oder auch meine Memorabilien aufzuzeichnen, und oft, wenn ich etwas geschrieben habe, trete ich an ihr Lager und küsse die Schlafende, und wenn mich etwas betrübt hat, so schöpfe ich aus diesem Kusse neuen Mut und neue Kraft, und schlummere dann friedlich ein. Heut aber ist es anders gegangen. Nach diesem Tage, der mir eine solche Menge verschiedenartigster Empfindungen gebracht hat, war ich so in die Schilderung alles dessen, was auf den vorhergehenden Blättern geschrieben steht, vertieft, daß ich mein arges Weiblein gleichsam in meiner Seele selbst fühlte, und da meine Seele sie küßte, dachte ich nicht daran, an ihr Bett zu treten und sie zu küssen. Sie aber, die Feine und Arglistige, hatte diese meine Unterlassung wohl bemerkt und machte sie in unglaublich eigener Weise gut: vor einer Stunde kam sie zu mir, legte mir ein reines Schnupftuch auf den Tisch, gab mir einen Kuß und ging dann, scheinbar ganz ernst, zur Ruhe. Aber welch unfaßbare weibliche Schlauheit muß ich an ihr entdecken! Wie ich so ganz ernst dasitze und schreibe, sehe ich, daß mein Tuch sich scheinbar bewegt und auf den Boden fällt. Ich bückte mich, legte es wieder auf den Tisch und schrieb weiter; aber das Tuch fiel wieder auf den Boden. Ich nahm den Flüchtling und fesselte ihn, indem ich das Tintenfaß auf ihn stellte, aber er entwich von neuem und riß sogar das Tintenfaß mit, welches umfiel und meinen Kalender mit diesem mächtigen Fleck zierte. Was sollte nun diese Leinwandflucht bedeuten? Sie bedeutet, daß meine Pfarrerin eine ausgemachte Kokette ist, und zwar eine von ganz seltener Art, denn sie kokettiert nicht mit andern guten Leuten, sondern mit dem eigenen Ehgemahl. Sie hatte an das Tuch, das sie mir gebracht, heimlich einen recht langen Faden befestigt, durch die Türritze bis zu ihrem Bette gezogen, und während sie ganz still daliegt, zupft sie scherzend an dem Faden, so daß mir das Tuch aus der Hand gleitet. Und ich dickfelliger Kerl entdeckte dies nur, weil bei dem letzten Fallen des Tuches hinter der Tür ein leises fröhliches Lachen ertönte, und ich ihre nackten Füßchen stampfen hörte!«
»7. August. Die ganze vorige Nacht habe ich vor Glück nicht schlafen können, und ich lüge nicht, wenn ich hinzufüge, daß auch Natascha an dieser Nachtwache nicht unbeteiligt war. Wie die Verliebten vor St. Peter auf die Sonne warten, so saßen wir im sechsten Jahr unserer Ehe im Fenster und harrten des Sonnenaufgangs. Meine Liebste gestand mir, daß sie oft nicht schlafe, wenn ich schreibe, und sich nur schlafend stelle. Auch manches andere gestand sie mir noch; so, daß sie gestern in der Kirche, als sie meiner Predigt zuhörte, die ihr ganz besonders gefallen habe, das Gelübde abgelegt habe, zu Fuß nach Kiew zu pilgern, sobald sie sich gesegneten Leibes fühle. Ich billigte das nicht, denn eine solche Wanderung ist den Kräften einer Schwangeren gar nicht angemessen; ich erlaubte ihr aber doch, das Gelübde zu erfüllen, denn bei einer so großen Freude würde ich selbstverständlich auch mitgehen und wenn sie ermüdet, würde ich sie tragen. Wir machten gleich einen Versuch. Ich trug sie lange auf meinen Armen durch den Garten und träumte, sie wäre schon guter Hoffnung und ich behütete sie, daß ihr auf der Wanderung kein Unheil zustoße. Und so sehr gewann dieser Sehnsuchtstraum Gewalt über mich, daß ich, als Natascha sich scherzend auf die Schaukel setzte, welche das kleine Mädchen der Köchin sich an einem Apfelbaum befestigt hatte, diese Schaukel herunternahm und sie ganz hoch in den Baum warf, damit in Zukunft nichts dergleichen geschehe, worüber Natascha sehr lachte. Allein, obgleich auch mein Leben nicht reich ist an Dingen, die sorgfältig geheimgehalten werden müßten, so ist es dennoch gut, daß der Wirt unseres Hauses seinen Garten mit einem festen Zaun umgeben hat, und Gott längs diesem Zaun die Himbeersträucher recht dicht hat wachsen lassen, denn sonst hätte am Ende dieser oder jener gesagt, daß es keine Sünde wäre, den Popen Sawelij einmal auch einen Hansnarr zu nennen.«
»9. August. Ich notiere eine höchst erheiternde Begebenheit, wie meine Gattin heut mit dem Sohne des Diakon, einem Seminaristen der Rhetorikklasse, in richtigen Streit geriet. Das war ein Kasus und eine Komödie zugleich. Sie stritten darüber, wer der klügste Mann auf Erden gewesen. Der Rhetor sagte: Salomo, meine Pfarrerin aber behauptet, ich sei's, und ich muß zugeben, daß diesesmal der üppige König von Zion einen weit weniger standhaften Advokaten fand, als ich. O, wie hab' ich gelacht! Was nicht alles in dieser Welt passieren kann! Ich hörte das alles aus dem Schlafzimmer, wo ich meine Nachmittagsruhe hielt; als ich erwacht war, wagte ich die Disputation nicht mehr zu unterbrechen, und die zwei redeten mächtig aufeinander ein. Der Rhetor, der für die Weisheit Salomonis eintrat, berief sich auf die Worte der Schrift, daß »Salomo weiser war, denn alle Menschen«, meine Eheliebste aber schlug ihn mit folgendem Argument: »Was reibt Ihr mir Euer ›also‹ und ›denn‹ und ›sintemal‹ unter die Nase? All diese ›denn‹ und ›also‹ haben gar keine Bedeutung, weil das alles geschrieben wurde, bevor der Vater Sawelij geboren war.« Jetzt mengte sich in diesen Diskurs noch der Pfarrer von St. Nikita, Vater Zacharia Benefaktow, hinein, der dem ganzen Streite zugehört hatte, und ihn zum Schluß brachte, indem er meiner Gattin recht gab. Es sei richtig, sagte er, – will heißen, richtig in dem Sinne, daß ich damals noch nicht auf der Welt war. So behielt ein jeder von diesen drei Kritikern recht. Ich allein, dem alle ihre kritischen Meinungen zur Antikritik vorgelegt wurden, blieb im Unrecht: vorerst betrübte ich meine Natascha, indem ich ihre Meinung, ich sei der klügste von allen, verwarf, und auf ihre Frage, wer denn klüger sei als ich, antwortete, sie selber sei es. Dem ward verzweifelter Widerstand entgegengesetzt, wie er sich nur gegen die Wahrheit richten kann: »Die Klugen,« – sagte sie, – »können über alle Dinge urteilen, ich aber kann das gar nicht und diskutiere niemals. Woher kommt das?« Da faßte ich sie leise an ihrem kleinen Näschen und erwiderte: »Du mischst dich darum nicht gerne in die Diskussion, weil du statt einer widerspenstigen Nase nur dieses kleine sanftmütige Knöpfchen hast.« Sie verstand wohl, was ich mit diesem Scherz sagen wollte, – nämlich ihre Herzensmilde ins rechte Licht rücken – und sie suchte nun es zu widerlegen, indem sie daran erinnerte, wie sie einmal mit der Postmeistersfrau handgemein geworden sei, um ihr ein Dienstmädchen zu entreißen, das jene unmenschlich hart strafen wollte.«
»15. August, Mariä Himmelfahrt. Während ich mich so meiner Gattin freute, hatte ich gar nicht bemerkt, daß meine Predigt am Verklärungstage, von der Natascha so erbaut gewesen, auf andere Leute anders gewirkt hatte, und daß ich eine mir höchst unerwünschte Mißstimmung unter einigen Leuten in der Stadt hervorgerufen hatte. Meine andächtigen Zuhörer, natürlich nicht alle, aber einige, und unter diesen in erster Linie die Postmeisterin Timonowa, fühlen sich gekränkt, daß ich sie durch meine Anspielung auf Pizonskij herabgesetzt habe. Indessen, das sind alles nur Torheiten müßiger und unkluger Geister. Nach und nach wird das an dem Selbstgefühl der hohen Herrschaften wieder abtrocknen, wie die Wunden am Fell des Hundes.«
»3. September. Ich war in einem großen Irrtum befangen. Die Angelegenheit ist keineswegs erledigt. Aus dem Konsistorium kam eine Anfrage, ob ich wirklich eine Predigt mit Hinweis auf eine lebende Person improvisiert hätte? Ach Gott, was für eine Angst hat man bei uns vor allem Lebendigen! Nun, ich habe denn auch geantwortet, ich hätte dieses und das gesagt. Ich meine, man wird mich dafür nicht hängen und mir den Kopf nicht abhauen, – und doch ist mir gegen meinen Willen unbehaglich zumute, und meine Ruhe ist hin.«
»20. Oktober. Gewiß können sie einem den Kopf nicht abschlagen, aber den Mund können sie einem stopfen, und das haben sie denn auch nicht ermangelt zu tun. Am 15. September wurde ich zur Rechenschaft gezogen. Schon diese Hast ließ wenig Gutes vermuten, denn mit dem Guten haben's die Leute bei uns nicht eilig, am allerwenigsten die Machthaber. – Trotzdem machte ich mich voller Mut auf den Weg. Dieser wurde zuerst dadurch abgekühlt, daß ich 36 Tage ohne Bescheid blieb, und dann der Befehl kam, hinfort alles, was ich zu sagen gedenke, vorerst dem Zensor Troadij vorzulegen. Das wird niemals geschehen, lieber will ich stumm sein wie ein Fisch. Vergib mir meinen Hochmut, Allwalter, aber ich kann das Amt des Predigers nicht mit kalter Leidenschaftslosigkeit ausüben. Ich fühle mitunter, wie etwas über mich kommt, wenn meine geliebte Gabe wirken will. Dann erfaßt mich eine, ich kann wohl sagen heilige Unruhe; meine Seele bebt und glüht und die Worte fallen wie feurige Kohlen von meinen Lippen. Nein, dann trägt meine Seele ihr eigenes Zensurgesetz in sich! … Und sie verlangen, ich soll an Stelle der lebendigen Rede, die vom Herzen zum Herzen geht, rhetorische Übungen hervorbringen!
Nein! lieber mögt ihr euch schließen, ihr Lippen, die ihr nicht zu schmeicheln wißt, lieber sollst du schweigen, mein schlichtes Wort! Gezwungen predigen mag ich nicht.«
»23. November. Ich kann wahrhaftig nicht behaupten, daß mein Leben aller Abwechslung entbehrt. Im Gegenteil, es geht alles bunt durcheinander, so daß die Spannung keinen Augenblick nachläßt. Achtzehn Werst von unserer Stadt, in dem großen Kirchdorf Plodomasowo, lebt die Besitzerin dieses Dorfes, die Bojarin Marfa Andrejewna Plodomasowa. Dieser Knüppel ist von so altem Holz, daß man schon längst keinerlei Lebenszeichen an ihm bemerkt hat; man weiß nur aus alten Erinnerungen, daß sie eine Frau von nicht geringem Geiste war. An die zwanzig Jahre schon kann kein Fernerstehender sich rühmen, die Bojarin Plodomasowa gesehen zu haben.
Vorgestern, kurz vor zwölf Uhr mittags, war ich unsagbar erstaunt, als ich eine große herrschaftliche Droschke, mit drei Füchsen bespannt, vor meinem Hause vorfahren sah. Im Wagen saß ein absonderlich kleines Männlein, in einer haarigen Filzmütze mit langem Schirm und in einem braunen Mantel, den eine Menge übereinanderliegender Kapuzen und Pelerinen zierten.
Was, dachte ich, kann das für eine seltsame Person sein, und kommt sie auch wirklich zu mir oder hat sie nur irrtümlicherweise den Weg zu mir genommen? Diese meine Zweifel wurden aber sehr bald durch jene geheimnisvolle Person selbst gelöst, die in mein Wohnzimmer trat, mit jenem überaus feinen Anstand, welcher mir stets so wohlgefiel. Vorerst bat der Gast um meinen Segen, dann machte er mit seinem ausnehmend kleinen Füßchen einen Kratzfuß, trat mit einer Verbeugung zwei Schritte zurück und sprach:
»Meine Herrin, Marfa Andrejewna Plodomasowa, haben mir einen Gruß an Euch aufgetragen, Vater Sawelij, und bitten Euch, alsbald mit mir zu ihr zu kommen.«
»Darf ich nun meinerseits,« sprach ich, »erfahren, mein Herr, aus wessen Munde ich das alles höre?«
»Ich bin,« erwiderte der Kleine, »ein Leibeigener Ihrer Exzellenz, der gnädigen Frau Marfa Andrejewna, und nenne mich Nikolai Afanasjew.«
Nachdem dieses winzige Persönchen sich mir so vorgestellt hatte, erinnerte es mich nochmals daran, daß seine Herrin mich erwarte.
Während ich mich im Nebenzimmer ankleidete, knüpfte dieser interessante Zwerg eine Unterhaltung mit Natalia Nikolajewna an und brachte sie durch seine Reden in helles Entzücken. Und wahrlich, es liegt in den Worten und in der ganzen Redeweise dieses winzigen Greises etwas unaussprechlich Liebliches. Dazu kommt noch sein feiner Anstand und eine große Freundlichkeit. Dem Dienstmädchen, das ihm ein Glas Wasser brachte, legte er einen Zwanziger auf das Tablett, und als sie zögerte, das Geld zu nehmen, wurde er selbst verlegen und sagte: »Nein, meine Beste, tun Sie das mir nicht an, es ist das nun mal so meine Gewohnheit.« Und als meine Pfarrerin zu mir hinausgegangen war, um mir die Haare zu salben, nahm er das schmutzige Mädelchen der Köchin, das der Mutter nachgelaufen war, bei der Hand und sagte: »Hör mal, wie die Entchen da unten am Flusse schwatzen. Die Ente, die feine Dame, sagt zum Enterich, dem Kavalier: Kauf mir 'ne Kappe, kauf mir 'ne Kappe! – und der Enterich antwortet: Hab schon, hab schon, hab schon!« Das Kind lachte laut, und auch ich konnte mich bei dieser Auslegung des Entengeschnatters eines Lächelns nicht erwehren. Dessen hätte sich auch der Herr Lafontaine oder unser Iwan Krylow nicht zu schämen brauchen.
Die Fahrt verlief mir im Gespräch mit diesem wunderbaren Zwerge so schnell, daß ich kaum etwas vom Wege sah. So viel Verstand, Reinheit und Gesundheit fand ich in allen seinen Reden.
Nun aber kommt die Hauptsache: die Stunde der Begegnung mit der einsamen Bojarin nahte.
Es wundert mich nicht wenig, daß ich in der Erwartung, obschon ich von Natur keineswegs schüchtern bin, doch so etwas wie eine kleine Verzagtheit verspürte. Nikolai Afanasjewitsch führte mich durch eine Reihe Gemächer, deren Prunk und äußerste Sauberkeit mich staunen machten, und blieb endlich in einem runden Zimmer mit zwei Reihen Fenstern stehen, deren Wölbungen mit bunten Scheiben geziert waren. Hier fanden wir eine alte Frau, die nur um ein Geringes größer war als Nikolai. Als wir eintraten, stand sie da und drehte den Griff einer großen Orgel. Fast hätte ich sie für die Herrin selbst gehalten und ihr eine Verbeugung gemacht. Aber als sie uns erblickte, – dank der weichen Teppiche, die in allen Gemächern den Fußboden bedeckten, waren wir unhörbar eingetreten – verstummte sofort ihre Musik, und mit einer etwas tierischen Hast eilte sie in den Nebenraum, dessen Eingang ein großer Vorhang aus weißem Atlasstoff schloß, der mit allerlei chinesischen Figürlein in farbiger Seide bestickt war.
Diese Frauensperson, welche mit solcher Hast hinter dem Vorhang verschwand, war, wie ich später erfuhr, die leibliche Schwester des Nikolai und ebenfalls eine Zwergin. Es fehlte ihr aber die Liebenswürdigkeit, die aus der ganzen äußern Erscheinung ihres sanften Bruders sprach.
Nikolai folgte seiner Schwester hinter den Vorhang, nachdem er mich gebeten hatte, auf einem Sessel Platz zu nehmen. Während der halben Stunde, welche ich warten mußte, empfand ich eine gewisse Bitterkeit im Munde, die mir noch aus meiner Kindheit, von den Schulprüfungen her, so gut im Gedächtnis geblieben war. Aber auch das nahm ein Ende. Hinter dem Vorhang vernahm ich die Worte: »Nun zeig mir mal den klugen Popen, der, wie ich höre, gewohnt ist, die Wahrheit zu reden.«
Wie auf den Wink eines Zauberers, an unsichtbaren Schnüren gezogen, teilte sich der Vorhang plötzlich, und die Bojarin Plodomasowa stand vor mir. Ihre Stimme, die ich zuvor gehört hatte, widerlegte schon meine Meinung von ihrer Hinfälligkeit, und ihre Erscheinung tat es noch mehr. In einer Fülle der Kraft, die, schien es, nie versiegen konnte, stand die Bojarin vor mir. Von Wuchs nicht groß und auch nicht besonders üppig, scheint sie gleichsam über allem zu herrschen. Auf ihrem Antlitz liegt der Ausdruck einer großen Strenge und Wahrhaftigkeit, und, nach den Zügen zu schließen, muß es einstmals sehr schön gewesen sein. Ihr Gewand ist seltsam und zu der heutigen Zeit wenig passend, ein Halbrock aus hellem Tuch, darunter ein Sammetrock, grell orangegelb, und gelbe Stiefelchen auf hohen silbernen Absätzen. Um den Kopf windet sich mehrfach, wie bei einer Türkin, ein großer brauner Schal. In der Hand hält sie einen Stock mit einem Amethyst-Knopf. Zu ihrer Rechten stand Nikolai Afanasjewitsch, zur Linken Maria Afanasjewna, hinter ihr der Pfarrer der Dorfkirche, Vater Alexei, ein entlassener Leibeigener, der auf ihre Anordnung zum Priester geweiht worden war.
»Guten Tag,« sagte sie, ohne den Kopf auch nur im geringsten zu senken. »Es freut mich, daß ich dich zu sehen bekomme.«
Ich erwiderte ihren Gruß mit einer Verbeugung, welche recht ungeschickt war, glaube ich.
»Komm her und segne mich,« sagte sie.
Ich trat zu ihr und segnete sie. Sie ergriff meine Hand, um sie zu küssen, was ich auf jede Weise zu verhindern suchte.
»Zieh deine Hand nicht weg,« sagte sie, als sie es bemerkte. »Ich huldige nicht dir, sondern deinem Amte. Setze dich jetzt, und wir wollen ein wenig miteinander bekannt werden.«
Wir setzten uns, – das heißt sie, ich und der Vater Alexei. Die Zwerge stellten sich zu beiden Seiten der Herrin auf.
»Vater Alexei hat mir gesagt, dir sei die Gabe der Rede und ein klarer Verstand verliehen. Er selber versteht nichts davon, er hat's aber wohl von den Leuten gehört. Ich habe lange schon keine klugen Leute gesehen, und da wollt' ich dich einmal zu meiner Zerstreuung anschauen. Sei mir alten Frau deswegen nicht böse.«
»Man hat dich hergeschickt,« fuhr sie fort, »die Altgläubigen zu bekehren?«
»Ja,« erwiderte ich, »mit meiner Ernennung hierher war auch diese Absicht verbunden.«
»Ich meine,« sagte sie, »es ist ein nutzloses Unterfangen. Den Dummen belehren und den Toten kurieren zu wollen ist eins des andern wert.«
Ich weiß nicht mehr, in was für Worte ich meine Antwort, daß ich nicht alle Altgläubigen für dumm halte, kleidete.
»Nun, wenn du sie für so klug hältst, – wie viele hast du schon auf den rechten Weg geleitet?«
»Noch kann ich mich keiner Erfolge rühmen,« entgegnete ich, »aber das hat seine Gründe.«
Sie: »Was für Gründe meinst du?«
Ich: »Man behandelt sie nicht in der entsprechenden Weise, und das Übel wächst infolge des Wankelmuts, den sie in der orthodoxen Gemeinde und auch bei der Geistlichkeit selbst beobachten.«
Sie: »Du sagst ›Übel‹. Was ist denn an ihnen so Übels? Harmlose Narren vor dem Herrn sind sie, deren ganze Sünde darin besteht, daß sie zuviel Bücher gelesen haben.«
Ich: »Allein, der rechtgläubige Altar leidet unter solcher Spaltung.«
Sie: »Ihr solltet diesem Altar treuer dienen und ihn nicht zum Kramladen machen, dann würde keiner von euch abfallen. Ihr handelt ja aber alle mit dem Heil, wie andere Leute mit Tuch.«
Ich schwieg.
Sie: »Bist du verheiratet oder Witwer?«
Ich: »Verheiratet.«
Sie: »Nun, wenn Gott dich mit Kindern segnet, dann nimm mich zur Taufpatin. Ich tu's gerne. Selber komm ich nicht zur Taufe, ich schicke meine Zwergin. Aber wenn du das Kind hierherbringst, will ich's selber halten.«
Ich dankte und fragte sie:
»Eure Exzellenz haben Kinder wohl gerne?«
»Welcher gescheite Mensch hat sie denn nicht lieb? Ihrer ist das Reich Gottes.«
»Exzellenz leben schon lange allein?«
Sie: »Ganz allein, sehr, sehr lange schon.« Und sie seufzte.
Ich: »Die Einsamkeit ist oft sehr schwer zu tragen.«
Sie: »Bist du denn nicht einsam?«
Ich: »Wie kann ich einsam sein, wenn ich eine Frau habe?«
Sie: »Ja, versteht denn deine Frau alles, was dich, als Mann von Verstand, quälen und betrüben kann?«
Ich: »Meine Frau macht mich glücklich und ich liebe sie.«
Sie: »Du liebst sie? Ja, aber du liebst sie mit dem Herzen, und mit den Gedanken deiner Seele bist du doch einsam. Bedaure mich nicht, daß ich so einsam bin: jeder, der in seinem Hause über die Nase seines Bruders hinaussieht, ist einsam mitten unter den Seinigen. Ich habe auch einen Sohn, aber es sind bald drei Jahre, daß ich ihn nicht mehr gesehen habe. Es ist ihm wohl zu langweilig in meiner Gesellschaft.«
Ich: »Wo befindet sich Ihr Herr Sohn?«
Sie: »In Polen. Er ist Regimentskommandeur.«
Ich: »Es ist ein ruhmvolles Werk, die Feinde des Vaterlandes zu bezwingen.«
Sie: »Ich weiß nicht, wieviel Ruhm uns das bringt, daß wir uns mit diesen Polacken immer noch herumschlagen. Meiner Ansicht nach zeugt das nur von unserer Schlamperei.«
Ich: »Wir werden schon fertig, die Zeit kommt noch.«
Sie: »Die kommt nie, weil sie schon vorüber ist. Wir haben immer so dagestanden wie die Schnepfe im Sumpf: der Schnabel ist zu lang, und der Schwanz ist zu lang. Ziehn wir den Schnabel raus, bleibt der Schwanz stecken; ziehn wir den Schwanz raus, steckt der Schnabel drin. Wir schaukeln hin und her, daß alle Narren ihre Freude dran haben: einmal kommen wir den Polen mit der Knute, und das andere Mal küssen wir ihren schlauen Polinnen die Händchen. Es ist eine Sünde und Schande, die Leute so zu verderben.«
»Und doch,« sagte ich, »hält unsere Armee die Polen im Zaum, daß sie uns keinen Schaden zufügen können.«
»Niemanden hält sie im Zaum,« antwortete sie, »und diese Polen wären uns gar nicht gefährlich, wenn wir uns gegenseitig nicht fressen wollten.«
»Dieses Urteil Eurer Exzellenz,« meinte ich, »scheint mir doch etwas zu schroff.«
Sie: »Die Wahrheit ist nie zu schroff.«
»Sie erinnern sich doch gewiß noch des Jahres 1812,« bemerkte ich, »was für eine Einmütigkeit zeigte Rußland damals!«
Sie: »Jawohl, ich erinnere mich sehr gut: ich selbst habe aus diesem Fenster zugesehen, wie unsere Kosaken meine Bauern prügelten und meine Speicher plünderten.«
»Nun,« sagte ich, »so etwas kann ja vorgekommen sein, ich will die Kosaken keineswegs verteidigen, aber wir haben uns trotz allem heldenmütig behauptet gegen den Mann, vor dem ganz Europa im Staube lag.«
Sie: »Ganz recht, weil der liebe Gott und der Frost uns zu Hilfe kamen, haben wir uns behauptet.«
Dieses ebenso verächtliche als ungerechte Urteil machte auf mich einen so unangenehmen Eindruck, daß ich, ohne mein Unbehagen zu verbergen, erwiderte:
»Glauben Exzellenz im Ernst, daß in Rußland einzig der Zufall regiert? Einmal mag's Zufall sein und noch einmal Zufall, aber beim dritten Male lassen Sie doch auch die Weisheit und den Heldenmut der Führer des Volkes gelten.«
»Alles ist Zufall, mein Bester, und in allem, was mit diesem Reiche geschieht, sehe ich neben dem Willen Gottes bisher nichts als Zufälligkeiten. Hätten deine Altgläubigen den langen Peter umgebracht, so säßen wir heute noch auf unserm vielgerühmten Grund und Boden nicht als mächtiger Staat, sondern als so was, wie die Bulgaren in der Türkei, und würden diesen selben Polen die Hände küssen. Eins nur gereicht uns zum Lobe: daß unser so viele sind. Es dauert lang, bis wir einander aufgefressen haben. Das ist uns eine gute Gewähr für die Zukunft.«
»Das ist traurig,« sagte ich.
»Laß dich's nicht bekümmern. Andere Länder bauen auf ihren Ruhm, unseres wird auch durch Schimpf stark. Aber nun haben wir genug geredet, ich bin schon müde geworden. Leb wohl. Und wenn was Schlimmes passiert, komm nur zu mir und beklage dich. Sieh nicht darauf, daß ich solch ein verschrumpfter Pilz bin. Der Pilz steht zwar im Wald, aber man weiß auch in der Stadt von ihm. Und wenn sie über dich herfallen, so freue dich drüber; wärst du ein Kriecher oder ein Dummkopf, so täten sie es nicht, sondern würden dich loben und den andern als Beispiel hinstellen.«
Nachdem sie gesprochen, wandte sie sich zur Zwergin, welche während unseres ganzen Gespräches ein Paket in der Hand hielt, ließ es sich geben, reichte es mir und sagte:
»Bring das in meinem Namen deiner Pfarrerin, es sind Korallen, die ich früher getragen, zwei Stück Stoff zu Kleidern, und Leinwand für den Hausgebrauch. Und für dich hab' ich hier einen Rubinring.«
Dieses Geschenk machte mich bei aller schlichten Herzlichkeit, mit der es überreicht wurde, doch etwas verlegen, und während ich die Korallenketten, die Seidenstoffe und den hell leuchtenden Rubin betrachtete, sagte ich: »Exzellenz, ich bin Ihnen für diese schmeichelhafte Aufmerksamkeit sehr dankbar. Die Sachen sind aber so prächtig, und meine Gattin ist eine ganz schlichte Frau …«
»Nun,« unterbrach sie mich, »um so besser, wenn du eine einfache Frau hast; wo der Mann und die Frau alle beide die Hosen anhaben, da kommt nichts Gescheites heraus. Es ist immer das beste, wenn die Frau ihren Weiberrock anbehält, – also mag sie sich aus dem da ein paar Röcke nähen.«
Hiermit war unser Gespräch beendet und ich muß gestehen, diese Frau erfüllte mich mit großer Bewunderung. Was mich aber am meisten wundert, das ist meine Unsicherheit ihr gegenüber. Woher kam es, daß mir die Zunge am Gaumen kleben blieb, als wenn ich etwas zu fürchten hätte? Und wenn ich dann zu reden versuchte, so kam alles so armselig heraus. Sie aber lenkte das Gespräch ganz nach ihrer Laune, und gab ich mir Mühe, recht klug zu scheinen, damit ihre Enttäuschung nicht gar so groß sei, so achtete sie gar nicht darauf. Ihre Worte kamen scheinbar ganz unvorbereitet, sie schien's auf eine Prüfung meines Verstandes nicht abgesehen zu haben, – und doch kann ich sie nicht vergessen! Worin liegt diese ihre Gewalt? Ich glaube, in jener feinen Weltbildung, welche unsere geistlichen Erzieher verachten, ohne zu bedenken, daß sie uns dadurch der so sehr notwendigen Findigkeit und Gewandtheit im Verkehr mit Menschen der großen Welt berauben.
Aber dieser Tag sollte damit noch nicht schließen. Es kam noch ein seltsames Erlebnis. Kaum hatte ich mich an der Freude meiner biedern Natascha über die Geschenke geweidet, da packte auch dieser ehrenwerte Zwerg Nikolai Afanasjewitsch seine Gaben aus. Zuerst überreichte er mir ein Paar gestrickte baumwollene Hosenträger, weiß mit roter Borte, und meiner Gattin ein Kopftüchlein aus zarter Kaninchenwolle. Während ich noch über die Seltsamkeit dieser neuen unerwarteten Gaben staunte, entnahm er seiner Tasche ein Paar wollener Strümpfe für unsere Dienstmagd Axinia, die eben den Samowar brachte. »Was ist denn das für ein Schenktag!« rief ich unwillkürlich aus, und wagte nicht, den Geber durch eine Ablehnung zu kränken. Er antwortete mir, es seien alles Arbeiten seiner eigenen Hand. »Da ich, dank meiner Wohltäterin, nicht zu arbeiten brauche und nichts anderes gelernt habe, so beschäftige ich mich immer mit Stricken, um nicht müßig zu sein und die Freude zu haben, diesem und jenem etwas von meinen Erzeugnissen zu schenken.« Diese Herzenseinfalt gefiel mir so, daß ich den kleinen Mann umarmte und ihn mit Küssen fast erstickte.
Werde ich meinen heutigen Bericht überhaupt je zu Ende bringen? Mit dem Weggang des Dieners der Bojarin Plodomasowa nahmen die Wunder des Tages immer noch kein Ende; denn als Axinia die Türe des Vorzimmers für die Nacht schließen wollte, entdeckte sie, daß am Kleiderständer etwas hing, was nicht uns zu gehören schien, und als Natascha und ich auf ihren Ruf hinauskamen, fanden wir: erstens einen dunkelbraunen Leibrock aus französischem Gras-de-Naples-Stoff, zweitens einen reichgestickten Kammgarn-Gürtel mit purpurroten Bändern, drittens eine Kutte aus kostbarem, grünem, unzerschnittenem Sammet, und viertens, in ein langes Stück Kaliko gewickelt, ein vollständiges Meßgewand.
Wir waren alle ganz verblüfft über diesen Fund und wußten nicht, wie wir uns seine Herkunft erklären sollten. Da bemerkte Axinia als erste ein Kärtchen am Knopf des Kragens der Kutte befestigt, auf dem mit runder Schrift, sozusagen ägyptischen Stils, geschrieben stand: »Gedenke, mein Freund Vater Sawelij, in deinen Gebeten der Magd Gottes Marfa.« Wir wußten uns vor Erstaunen nicht zu lassen, aber was war zu tun? Indem wir das neue Meßgewand auf dem Tisch ausbreiteten, erlebten wir eine neue Überraschung. Als Natascha das Schultertuch auseinanderfaltet, fällt ein versiegeltes Kuvert mit meiner Adresse heraus, welches fünfhundert Rubel und einen winzigkleinen Zettel enthält, auf dem von derselben Hand geschrieben steht: »Damit das Los deiner Familie im Fall eines Unglücks dich nicht beunruhige, wenn du vor dem Altar stehst, kaufe dir eine Kate und pflanze Kürbisse an. Dann wirst du ungestörter an den Ausbau des Gottesreiches denken können.«
Wofür wird mir das zuteil? Warum denkt sie nicht so, wie der Konsistorialsekretär und der Schließer, daß es leichter sei, am Reiche Gottes zu bauen, wenn man nichts habe, auf dem man sein Haupt hinlege?
Nun ist auch der Pope Sawelij nicht mehr heimatlos! Jetzt soll auch er sein Hüttlein haben. Aber ach! Es muß gesagt werden, dem Zufall verdankt er das!«
»6. Dezember. Gestern brachte ich das von der Gutsherrin geschenkte Meßgewand in die Sakristei und heute amtierte ich darin. Es paßt mir ausgezeichnet. Sonst, wenn ich die Gewänder meines verstorbenen Vorgängers anlegen mußte, der von sehr kleiner Statur war, erschien ich langer Kerl nicht in aller Herrlichkeit der Kirche, sondern sah aus wie ein Sperling, dem man die Schwanzfedern ausgezupft hatte.«
»9. Dezember. Sonderbar! Der Propst zieht mir ein schiefes Gesicht, aber da ich mir keiner Schuld ihm gegenüber bewußt bin, bin ich ganz ruhig.«
»12. Dezember. Es gab eine Auseinandersetzung zwischen mir und dem Propst. Weswegen? Wegen des Plodomasowschen Meßgewandes: es sei nicht in der vorschriftsmäßigen Weise nach der Kirche geschaffen worden, – und dann fügte er noch hinzu, es »gingen allerlei Gerüchte, daß Ihr noch etwas von ihr erhalten hättet«. Soll das etwa heißen, daß ich nicht alles, was der Kirche zukommt, abgeliefert habe, sondern etwas davon gestohlen habe?«
»1. Januar. Segne das neue Jahr mit deiner Gnade, Herr, und den Popen Sawelij zu seiner neuen Fahrt in die Gouvernementsstadt. Ich glaube, daß vor diesen Widersachern auch kein Weihwasser schützt.«
»20. Januar. Diese Zeilen schreibe ich in der schmutzigsten Kammer des bischöflichen Hofes, im Seminarflügel. Dem Gouverneur ist mitgeteilt worden, daß mein Subdiakon Lukian den Schismatikern eines ihrer alten Psalmenbücher zurückgegeben hat, welches mit den andern bei der Aufhebung der Dejewschen Kapelle konfiszierten Büchern bei mir in Verwahrung war. Die Begebenheit ist wahr, ich hatte sie aber verheimlicht, erstens weil sie mir unwichtig dünkte, zweitens, weil ich den wahren Grund kannte: die Armut, die den Subdiakon Lukian soweit gebracht hatte. Aber diese Bagatelle wird mir nun als furchtbares Verbrechen angerechnet, ich bin unter Aufsicht gestellt und in die Seminarbrauerei geschickt worden, um Kwas zu brauen.«
»9. April. Ich habe meine Zeit abgebüßt und bin zum häuslichen Herde zurückgekehrt. Tief rührten mich die Tränen meiner Frau, die sich bitter um mich gehärmt hat, aber noch mehr rührten mich die Tränen der Frau des Subdiakon Lukian. Von sich schwieg die gute Frau ganz und dankte nur mir, daß ich für ihren Mann gelitten. Den Lukian selbst hat man in ein entferntes Kloster verbannt, allerdings nur für ein Jahr. Die Frist ist so kurz, daß die Seinen nicht umzukommen brauchen, auch wenn sie nichts zu essen bekommen. Sie kommen so dem lieben Gott näher, wie die Herrn im Konsistorium behaupten.«
»20. April. Der liebenswürdige Zwerg war wieder hier und teilte mir mit, Marfa Andrejewna hätte angeordnet, daß ich alljährlich dreimal – zu St. Nikolai im Sommer, im Winter und zu Epiphanias – aufgefordert werde, in der Kirche von Plodomasowo die Messe zu zelebrieren, wofür mir durch den Verwalter ein Gehalt von 150 Rubel, also 50 Rubel für jede Messe, abgezahlt werden solle. O diese Zufälle! Weiß Gott, ich werde bald anfangen, sie zu fürchten.«
»15. August. Der Glöckner Jewticheitsch ist aus der Gouvernementsstadt zurückgekehrt und hat erzählt, zwischen dem Bischof und dem Gouverneur sei ein Zwist wegen einer gegenseitigen Visite ausgebrochen.«
»2. Oktober. Das Gerücht vom Visitenstreit bestätigt sich. Der Gouverneur hat, wenn er an Staatsfeiertagen dem Gottesdienst im Dom beiwohnt, die Gewohnheit, sich dabei laut zu unterhalten. Da beschloß der Bischof, ihm dies abzugewöhnen und schickte seinen Stabträger zu seiner Exzellenz mit der Bitte, dieselben wollten sich doch anständiger betragen. Der Gouverneur nahm die Botschaft mit sehr hochfahrender Miene entgegen und fing nach kurzer Zeit wieder an, laut mit dem Gendarmenoberst zu sprechen. Diesmal aber unterbrach der Bischof die Liturgie und sagte vernehmlich: »Gut, Exzellenz, ich werde warten. Wenn Sie fertig sind, fahre ich fort.« Ich kann diese Handlungsweise des Bischofs nur billigen.«
»8. November. Ich habe das Epigonation erhalten. Ich weiß nicht, wie ich zu dieser Auszeichnung komme. Soll ich es etwa dem Visitenstreit zuschreiben und dem Umstande, daß der Gouverneur mir nicht grün ist?«
»6. Januar 1837. Wieder eine Neuigkeit! Der Bischof hat zu Neujahr die Tochter des Gouverneurs zurückgewiesen, als sie in Handschuhen zu ihm hintrat, um den Segen zu empfangen. »Zieh erst das Hundefell von deiner Hand,« sagte er ihr.«
»17. März. Der Oberpfarrer von der Epiphaniaskirche kam nachts mit dem Venerabile von einem Kranken und wurde von einer Patrouille auf die Polizeiwache gebracht, – angeblich weil er betrunken war. Am nächsten Tage machte ihm der Bischof einen Besuch im vollen Ornat. O du polackischer Kanzleivorsteher, dieses Stücklein kann dir teuer zu stehen kommen!«
»18. Mai. Der Bischof ist in eine andere Diözese versetzt worden.«
»16. August. Ich war beim neuen Bischof. Er scheint ein verständiger und charakterfester Mann zu sein. Wir sprachen über die Lage der Geistlichkeit und er befahl mir, einen Bericht darüber aufzusetzen. Er sagte, ich wäre ihm von seinem Vorgänger aufs beste empfohlen worden. Dank dir, armer, schmählich geschlagener Alter, für dein gutes Wort!«
»25. Dezember. Ich weiß nicht, was ich von mir denken soll, wozu ich geboren und berufen bin. Meine Pfarrerin macht mir Vorwürfe, daß ich sogar am heutigen Weihnachtstage arbeite, aber es gibt für mich kein schöneres Vergnügen als diese Arbeit. Ich schreibe meinen Bericht über die Lage der Geistlichkeit mit einer Freude und einer Liebe, die ich gar nicht auszudrücken vermag. Betitelt habe ich die Schrift: »Über die Lage der orthodoxen Geistlichkeit und über die Mittel, durch welche sie zum Nutzen der Kirche und des Staates gebessert werden könnte.« Ich glaube, es ist gut so. Nie noch habe ich mich so glücklich und so stolz gefühlt, so gütig und so reich an Kraft und Verstand.«
»1. April. Mein Bericht ist dem Bischof eingereicht. Meine Pfarrerin meinte, ich hätte es heute nicht tun sollen; denn der erste April sei ein trügerischer Tag. Wollen sehen.«
»10. August. Ich bin Oberpfarrer geworden.«
»4. Januar 1839. Heute kam ein Schreiben aus dem Konsistorium und mein ahnungsvolles Herz schlug freudig, – aber es bezog sich nicht auf meinen Bericht, sondern meldete nur, daß mir das Brustkreuz verliehen sei. Vielen, vielen Dank. Aber das Schicksal meines Berichts bekümmert mich doch.«
»8. April. Ich bin zum Propst ernannt. Von meinem Bericht ist immer noch nichts zu hören. Ich weiß nicht, wie man diese Posaunen zum Tönen bringen soll.«
»10. April 1840. Nun bin ich schon ein Jahr Propst. Von meinem Bericht ist immer noch nichts zu vernehmen. Der Aberglaube der Pfarrerin ist doch nicht so unvernünftig. Heute machte sie mich wieder lachen: sie meinte, ich hätte meine Sache vielleicht sehr gut geschrieben, aber nicht richtig unterschrieben.«
»20. Juni 1841. Ich ging trocken mitten durch das Meer und ward gerettet von der Ägypter Bosheit, darum will ich lobsingen dem Herrn, solange ich lebe … Was hat sich mit mir begeben? Was habe ich erdulden müssen und wie bin ich nach alledem wieder an Gottes Tageslicht gekommen? Neugierig bin ich, was du wohl tun magst, du Dichter von Fabeln, Balladen, Erzählungen und Romanen, wenn du in dem Leben, das dich umgibt, keine Fäden zu entdecken behauptest, die es wert wären, in deine vergnüglich zu lesende Fabel geflochten zu werden? Oder kümmert dich, der du der Menschen Sitten zu bessern dich vermissest, jenes wirkliche Leben gar nicht, das die Erdenmenschen leben, sondern suchest du nur nach einem Vorwand zu leerem Geschwätz? Ist dir bekannt, was für ein Leben ein russischer Pope führt; dieser »unnütze Mensch«, den man deiner Meinung nach vielleicht unnötigerweise herbeirief, deinen Eintritt ins Leben zu begrüßen, und den man abermals – auch wider deinen Willen – rufen wird, daß er dich zum Grabe geleite? Weißt du, daß das elende Leben dieses Popen nicht arm ist, sondern überreich an Nöten und Abenteuern, – oder meinst du, daß seinem Weihrauchherzen edle Leidenschaften fremd sind und daß es keine Schmerzen empfindet? Oder willst du von deiner Dichterhöhe mich, den Popen, deiner Aufmerksamkeit überhaupt nicht würdigen? Oder wähnst du, meine Zeit sei schon vorbei, und das Land, das dich und mich geboren und aufgezogen, brauche mich nicht mehr? O du Blinder, sage ich, wenn du das erste denkst; o du Narr, sage ich, wenn du das zweite denkst und dich bemühst, nicht mich aufzurichten und zu beleben, sondern einen Stein auf mich zu wälzen und des Erstickenden zu spotten.
Aber ich wende mich vom Philosophieren zu jener Begebenheit, die mich philosophieren gemacht hat.
Ich bin nicht mehr Propst und hätte fast auch mein Priesteramt verloren. Wofür? Dafür! Ich will die ganze Geschichte ausführlich erzählen. Im März dieses Jahres besuchte der Gouverneur auf der Durchreise unsere Stadt, aus welchem Anlaß der Adelsmarschall ein Fest gab. Ich benutzte diese Gelegenheit, um mich beim Gouverneur über die Gutsherren zu beschweren, welche ihre Bauern mit Arbeiten auch an Sonntagen und sogar an den zwölf großen Festtagen überhäufen, so daß das arme Volk noch ärmer wird, denn in vielen Dörfern ist jetzt weder Roggen noch Hafer zu finden. … Kaum aber hatte ich dieses Wort »Hafer« ausgesprochen, als der hohe Herr in heftigen Zorn geriet, von mir abrückte, als wäre ich ein giftiges Tier, und schrie: »Was kommt Ihr mir mit Eurem Hafer auf den Hals?« Und dann ging es los: ich bin dies und das und jenes, – und zuletzt: »Ich bin doch nicht der heilige Nikolaus, ich handle nicht mit Hafer!« Das konnte ich nicht dulden und erwiderte: »Ich muß Eure Exzellenz, als eine mit den Glaubenslehren wenig bekannte Persönlichkeit, vor allem darauf aufmerksam machen, daß St. Nikolaus Bischof war und keinerlei Handel trieb. Ferner aber müßten Sie wissen, daß unser rechtgläubiges Volk der Priester und Diakonen bedarf, denn das ist bisher das Einzige, was wir noch nicht von den Deutschen übernommen haben.« Der Gouverneur lachte boshaft und sagte: »Nur keine Furcht, Herr Pfarrer, wenn der Pfuhl erst da ist, kommen die Teufel von selbst.« Diese letzte Rede war für mich bitterer als die erste. Wer sind diese Teufel, und was meint dein Schandmaul mit dem Pfuhl? So dachte ich im Zorne und konnte nicht stillschweigen, sondern sagte zu dem Herrn, daß ich aus Achtung vor meinem Amte ihn auch diesmal nicht als Teufel bezeichnen wolle. Und was war die Folge? Heute bin ich Propst gewesen, und ich danke dir, Herr, mein Gott, daß ich nicht auch des Priesteramtes beraubt und exkommuniziert bin. Nein, solche Dinge mögt ihr modernen Geschichtenschreiber nicht behandeln. Ihr denkt nicht daran, den Leuten zu erzählen, wie schwer mir ums Herz ist.«
»3. September. Das Herbstwetter stimmt mich unsagbar trübe. Ich war gewohnt, immer in Tätigkeit zu sein, und nun quält mich das Nichtstun. Ich treibe die Torheit schon so weit, daß ich oft insgeheim, wenn meine Gattin es nicht sehen kann, still für mich weine.«
»27. Januar 1842. Ich habe mir bei einem Juden für sieben Rubel eine Spieldose und ein Damespiel gekauft.«
»18. Mai. Ich habe mir einen Zeisig angeschafft und lehre ihn zur Spieldose singen.«
»2. März 1845. Drei Jahre sind vergangen, ohne daß sich in meinem Leben etwas geändert hätte. Ich habe mein Haus bestellt und in den Kirchenvätern und Geschichtschreibern gelesen. Zu zwei Schlüssen bin ich gekommen und möchte sie gerne beide für falsch halten. Der erste ist, daß das Christentum in Rußland überhaupt noch gar nicht gepredigt worden ist, und der zweite, daß die Ereignisse sich wiederholen und man sie voraussagen kann. Über den ersten Schluß redete ich einmal mit meinem sehr verständigen Amtsbruder, dem Vater Nikolaus, und war sehr erstaunt, wie er das aufnahm und mir beistimmte. »Ja,« sagte er, »das ist unbestreitbar, wir werden in Jesu Namen getauft, aber wir nehmen Jesum nicht in uns auf.« Also bin ich es nicht allein, der das sieht, andere sehen es auch. Warum erscheint es aber ihnen allen nur lächerlich, während es mich bis aufs Blut peinigt.«
»Neujahr 1846. Es sind mehrere Polen zu uns in die Verbannung geschickt. Über das Schicksal meines Berichts ist mir noch immer nichts bekannt. Ich interessiere mich lebhaft für die politischen Wirren, die im Westen im Anzuge sind und habe in Anbetracht dessen eine politische Zeitung abonniert.«
»6. Mai 1847. Es sind noch zwei neue Polen zu uns gekommen, der Pater Aloysius Konarkiewicz und Pan Ignacij Czemernicki. Letzterer ist noch ein ganz junger Mann, aber bereits eine komplette Kanaille. Unsere Stadthauptmannsfrau, die ja selber Polin ist, hat sich mit einem ganzen Schwarm von Landsleuten umgeben und begünstigt letzteren vor allen anderen.«
»20. November. Ich bemerke etwas ganz Erstaunliches und Unbegreifliches. Die Polen werfen sich bei uns geradezu zu Herren auf. Man kann durch sie bei der Gouvernementsverwaltung alles erreichen, denn der Czemernicki erweist sich als intimer Freund jenes Kanzleivorstehers, den ich in so guter Erinnerung habe.«