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1. THEATER

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Vormittags. Ein kleines, heruntergekommenes Theater. Wenige Sonnenstrahlen wagen sich in den schwülen Saal. Die Fenster sind verstaubt, ihre Rahmen vergilbt. Von den Wänden hängen trockene Tapeten.

Ilja steht alleine in der Mitte der Bühne, die Scheinwerfer blenden, er ist in sich gekehrt. Im Schatten der Bühne huschen Personen vorbei, Ilja schweigt. Minutenlange Stille, alle warten auf seinen Einsatz.

DASCHA: (bestimmend) Stop! Leute, wir machen 10 Minuten Pause. 10, nicht 20! Und kann bitte jemand Unmengen von Kaffee aufstellen? Du da, schalte das Saallicht ein! Kein Wunder, dass wir im Stehen einschlafen!

Dascha springt von ihrem Sessel in der dritten Reihe auf, zwängt sich durch den Gang in Richtung Ilja. Sie nimmt nicht die wenigen Stufen, sondern rollt sich auf die Bühne und stellt sich vor ihn hin. Ilja weicht ihr aus, sein Blick ist auf den Boden gerichtet. Dascha packt seinen Oberarm, zerrt ihn zur Bühnenseite und drückt ihn gegen die Wand. Er wehrt sich nicht.

DASCHA: (genervt) Du stehst da paralysiert, wie ein Reh im Scheinwerferlicht! Was ist los, Knabe?

Ilja schweigt.

DASCHA: (genervt) Hast du den Text vergessen? Oder hast du heute einfach keine Lust zu sprechen? Kennst du den Text überhaupt?

Ilja schweigt.

DASCHA: Kennst du überhaupt deinen Namen?

ILJA: Vlad. Vlad Lasarew.

DASCHA: Bravo! Zumindest etwas. Du siehst furchtbar aus! Schon seit der ersten Probe. Wie ein Penner!

Ilja schweigt.

DASCHA: So geht das nicht! Ein stummer Hauptdarsteller kann die Geschichte nicht verkaufen. (beruhigt) Vielleicht solltest du heute nach Hause gehen und mal eine Nacht durchschlafen. Oder deine Mähne stutzen. Oder sehr tief ins Glas - noch besser - ins Fass schauen.

Ilja schweigt.

DASCHA: Vor allem solltest du dringend versuchen, mit Menschen zu reden. Du könntest mir zur Abwechslung auch mal antworten! Wir proben seit Wochen, doch abseits der Bühne hast du noch kein einziges Wort gesagt.

Ilja breitet seine Arme aus, schaut Dascha an. Er ist verschwitzt, kämmt sich mit beiden Händen die Haare nach hinten und bindet sich einen Zopf.

ILJA: Ist es schon zu spät, um jemand anderen für die Rolle zu suchen?

DASCHA: Ach, hör schon auf! Wir sind noch ganz am Anfang, Anlaufschwierigkeiten sind normal, das weißt du doch. Du könntest ja mal damit anfangen, deinen schweren Kopf auszuräumen. Nicht, dass er dir noch von den Schultern bricht.

Ilja schweigt.

DASCHA: (einfühlsam) Knabe, ich habe keinen Bock, jemand anderen zu suchen. Schauspieler sind das Schlimmste! Nicht wahr? Sie verändern so oft ihren Charakter, irgendwann vergessen sie, wer sie wirklich sind. Ich bin alt genug, dass ich mir - gerade in Tagen wie diesen - aussuchen kann, mit wem ich arbeiten möchte … Falls du den Subtext nicht schnallst: Mit dir! Denn du verstehst auch die Worte, die nicht im Skript stehen.

Ilja schweigt.

DASCHA: (flüsternd) Ich weiß, wer du bist. Vlad? Lasarew? Wie würde ich mich wohl nennen, wenn ich mir einen Namen ausdenken könnte? Ilja. Ilja! Wie das schon klingt! Ach, wie das auf meiner Zunge singt!

ILJA: (hastig) Nein …

DASCHA: Keine Sorge, ich behalte es für mich. Mein Freund Boris lebte auch im Centar. Ich besuchte ihn oft. Als du zum Casting gekommen bist, habe ich dich sofort erkannt.

Ilja schweigt. Dascha schaut durch den Raum und vergewissert sich, dass sie alleine sind. Sie bittet ihn zum Bühnenrand, sie setzen sich auf die Kante. Beide starren stumm in den leeren Saal.

DASCHA: (flüsternd) Glaub mir, auch ich kenne diese Gedanken. Bylat! Kennst du sie auch? Die Tage, an denen du dir die Zigarette am Feuer der brennenden Stadt anzünden möchtest. Ich hasse all das! Die Stiefel! Die gelben Flaggen! Und diese beschissenen Augen, diese verfluchten …

ILJA: (überrascht) Wer hätte das gedacht? Die große Darja Gilman, eine Systemverräterin? (lacht) Wahrscheinlich jeder. Schon vor 30 Jahren haben deine Stücke angeeckt …

DASCHA: (zynisch) Dafür werden sie heute nur in den schimmligsten Ecken gespielt.

ILJA: Welch gottverdammte Ruine von einem Theater!

DASCHA:(zynisch) Tja, die Bretter, die die …

ILJA: (wütend) Die Bretter, die uns die Welt bedeuten, sind morsch! Und jetzt? Wir spielen Stücke vom Index, übersetzt in die Sprache der Gelbhemden!

DASCHA: Das ist das erste Stück, das ich wieder in Angriff nehme. Keines der großen Theater wollte wieder was mit mir zu tun haben. Deshalb sind wir in dieser … Wir sind hier gelandet. In dieser halbverbrannten Tetanusfabrik. Aber soll ich dir ein Geheimnis verraten?

ILJA: (zynisch) Haben wir schon alle Tetanus?

DASCHA: (amüsiert) Das Stück ist mir scheißegal!

ILJA: (zögernd) Okay … Das ist nicht ganz so optimal.

DASCHA: (flüsternd) Das Stück ist eine Farce, eine Fassade. Verstehst du? Ich wollte unsere Leute finden. All die Verstummten von damals sammeln und organisieren. Menschen wie dich und mich.

ILJA: (flüsternd) Auf wen von den anderen kannst du zählen?

DASCHA: Nur auf dich. Ich fürchte, die Gruppe ist nicht homogen. Keine Ahnung. Vielleicht verstecken sich dazwischen ein paar Sympathisanten, aber die verstecken sich gut. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob nicht auch verdeckte Milizias oder Blockwarte darunter sind. Schwer zu sagen …

Dascha sucht vergeblich nach einem Feuer. Ilja zündet ihre Zigarette an. Dascha springt auf und eilt hinter die Bühne. Sie kommt mit einem übergroßen Karton Weißwein zurück, hebt ihn über den Kopf und trinkt direkt aus dem Zapfhahn. Ilja lehnt dankend ab. Wortlos teilen sie sich ihre Zigarette.

DASCHA: Weißt du, was mich überhaupt aus dem Bett bringt? Der Glaube daran, dass es da draußen noch mehr Leute wie dich und mich gibt. Ich kenne sie nicht, aber ich weiß, dass sie irgendwo sein müssen. (zögernd) Du bist der Erste, den ich fand.

Beide schweigen.

DASCHA: (wütend) Und jetzt? Was ist jetzt?! Ein Jahr später sitzen wir noch immer im Wartezimmer der Gerechtigkeit! Dieses beschissene Warten! Wie lange kann das denn noch dauern?

ILJA: Über die Wahlen reden sie schon lange. Irgendwann müssten die doch stattfinden.

DASCHA: (zynisch) Die Qual haben wir schon, jetzt fehlt nur noch die Wahl. Aber wer darf sich beklagen? Alle scheinen glücklich zu sein, außer dir und mir. Und wie heißt es so schön: „Die Stadt ist sicher, sicher ist unsere Zukunft!“

Beide lachen.

Die Stadt, die uns das Feuer nahm

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