Читать книгу Imaginate – Der Nachttannenturm - Nina F. May - Страница 10
Kapitel 2
ОглавлениеIn Vermicellis Buchhandlung waren die Partyvorbereitungen in vollem Gange. Handgefertigte Nougatpralinen mit Lavendelnote wurden adrett platziert, denn sie sollten laut eines Artikels im Bücherwurmfachmagazin Romane – Wie man sie verkauft, ehe man sie verputzt eine konsumanregende Wirkung auf die Kundschaft haben. Daneben stapelten sich Fanartikel: Aufkleber mit dem Slogan Stell dir vor, Imitate von Raizels Tagebuch mit weinrotem Ledereinband sowie T-Shirts in allen Größen mit dem Aufdruck Glückspilz. Im Roman wurde wiederholt beschrieben, wie sich Raizel nach einem anstrengenden Tag in der Bibliothek in dieses alte Schlabberhemd kuschelte und es sich auf dem Sofa gemütlich machte. So entspannten sich Geist und Körper nach Stunden der Vertiefung in die Welt der Wörter. Die abgewetzten Stellen des T-Shirts waren in Vermicellis Variante mit einem komplizierten Verfahren künstlich nachgeahmt worden.
Vermicelli war ein alter Bücherwurm, deshalb konnte es vorkommen, dass Seiten eines bei ihm gekauften Buches angeknabbert waren. Das sah man ihm nach, weil es weit und breit keinen größeren Literaturexperten gab. Gemütlich in den Lehnstuhl gelümmelt und mit intellektuellem Habitus pflegte Vermicelli seine Empfehlungen weiterzugeben. Vor drei Sommern hatte er ein handgeschriebenes Manuskript vor seinem Laden gefunden. Wieder so ein bemitleidenswerter Nachwuchsautor in dem Irrglauben, seine pathetischen Ergüsse würden jemals von irgendwem freiwillig gelesen werden, hatte er gedacht und seine Rillen gerunzelt. Als er sich die erste Seite gerade als zweites Frühstück einverleiben wollte, strich sein Blick zufällig über einige Wörter. Wie im Rausch verschlang er danach den ganzen Roman in wenigen Stunden – und zwar ausnahmsweise nur im metaphorischen Sinne. Sein Bücherwurm-Gespür sagte ihm: Das würde ein Bestseller werden. Dennoch hätte er nicht geahnt, dass dieses Werk gleich eine neue Fanbewegung hervorbringen würde. Deren Vertreter wurden Belieber genannt, weil ihre Verehrung sowohl von Glauben als auch von Liebe zeugte. Hinter seinem Laden hatte Vermicelli einen Produktionspark für Fanartikel aufgebaut, die ihm mittlerweile mehr Geld einbrachten als der Verkauf der Bücher selbst.
Die Anhänger von Imaginate brauchten wie papyrussüchtige Bücherwürmer regelmäßig neuen Stoff. Und so war Vermicelli erleichtert gewesen, als in der vergangenen Woche im Morgengrauen endlich ein handgeschriebenes Manuskript der sechsundsechzigsten Fortsetzung vor dem Eingang seines Ladens aufgetaucht war. Glücklicherweise hatte der Bücherwurm es selbst gefunden, ehe irgendein hysterischer Belieber es in die Finger bekommen konnte. Der Bücherwurm hatte nur die ersten Zeilen überflogen, gegrinst und das Manuskript in den Druck geben lassen. Heute war Releaseparty und Vermicelli sich eines vollen Hauses sicher. Einige Fans hatten sogar vor dem Geschäft kampiert, um sich auch ja ein Exemplar der ersten Auflage zu sichern. Vermicelli sollte es recht sein, solange sie Geld in seine Kasse spülten. Für die zehn Liegeplätze unmittelbar vor dem Eingang hatte er eine VIP-Gebühr kassiert.
Während er nun gemütlich an seiner Pfeife zog – er wollte sich das Bücherknabbern abgewöhnen und brauchte eine Ersatzdroge –, dachte er, wie bedauerlich es war, dass der Autor des Romans nicht aufzufinden war. Natürlich hätte Vermicelli ihn am Gewinn beteiligen müssen, aber der geheimnisumwitterte Autor in seinem Laden, das gäbe einen Ansturm … Er seufzte vor Entzückung, wurde jedoch von einem Angestellten aus den Gedanken gerissen, der fragte, wo die Musikcombo sich ausbreiten solle. Er wies den fünf Fröschen ihren Platz neben dem Büchertisch Imaginate – Profil eines mysteriösen Meisterautors zu.
Ein heftiger Wind war aufgekommen. Raizel fröstelte es, als sie ziellos durch die Gassen streunte. Trotzig kickte sie hin und wieder mit ihren Stiefeln halbherzig gegen die Mauer aus Feldsteinen, die das kleine Städtchen ringsum zu umgeben schien – als könnte die etwas für ihre Misere. Zu allem Überfluss meldete sich auch noch ihr Hunger überdeutlich, sie hatte seit einem schnellen Toast mit Orangenkonfitüre vor dem Bibliotheksbesuch nichts mehr gegessen. Was würde sie jetzt dafür geben, sich bei ihrem Lieblingsimbiss Fish and Chips mit viel Essig und Erbsenmus zu holen und sich im Schlabberlook eine Serie anzuschauen! Raizel packte eine Sehnsucht nach Normalität, die sich für eine Abenteuerheldin nicht gehörte. Allerdings war ihr auch klar, dass sie womöglich größere Probleme hatte als die Abwesenheit von Fritten. Sie liebte es zwar, in Geschichten von Feen, Zwergen und sonstigen Fabelwesen zu schmökern, doch es war etwas ganz anderes, ihnen leibhaftig zu begegnen. Und dann auch noch in einer ihr fremden Umgebung, von der sie nicht viel mehr wusste, als dass es hier einen Platz mit einem Turm gab, der aus Tannen bestand. Aus Tannen! Wenn das ihr jüngeres Ich geahnt hätte, das mit ihren Freunden Höhlen aus Ästen zu bauen pflegte! Ihre Füße schmerzten, sie musste schon eine ganze Strecke zurückgelegt haben. Das Gefühl für Zeit hatte sie indes ebenso verloren wie alle Gewissheiten.
Um Raizel herum wurde Laub durch die Luft gepustet. Unter dem blauen Himmel wehten Wirbel aus Gelb, Grün und Orange. Die Blätter tanzten und flogen mit dem Wind – und dann war sie eins von ihnen und spürte keinen Boden mehr unter den Füßen. Für einen Moment trugen die Blätter sie in die Höhe, bis Raizel unter sich das Hausdach sehen konnte. Dann zerstreuten sich die Blätter auch schon wieder und sie landete unsanft auf den roten Ziegeln. Hin und wieder fehlte einer von ihnen. Neben ihr rauchte ein Schornstein, der Ruß legte sich auf Raizels Lunge, sodass sie husten musste. Da löste sich aus den dunklen Schwaden plötzlich ein dreckiger Arm, der ihr eine noch rußige Hand zum Schütteln entgegenstreckte.
»Willkommen, Mademoiselle«, zischte eine Stimme. Sie klang wie Asche, die sich aus dem Feuermeer befreit und brodelnd auf den Boden fällt. Vor Schreck trat Raizel einen Schritt zurück – und ins Leere …
»Hoppla, nicht so stürmisch.« Eine Hand fasste Raizel an den Haaren und zog sie wieder zurück aufs Dach.
»So, nun lass dich mal ansehen.« Eine sehr rußige Gestalt zupfte an Raizel herum und begutachtete sie von allen Seiten. Eine rote Nase blinkte aus der Schwärze hervor.
»W-wer bist du?«, stotterte Raizel. Das Wesen vor ihr sah eigentlich wie ein menschlicher Mann aus, der sich lange nicht rasiert hatte. Wenn man einmal von all dem Ruß absah. Und dem Umstand, dass der Mann vier Arme hatte. Zwei davon stützte er jetzt wie ein Mannequin in die Seiten.
»Gestatten, Cendro, Schornsteinreiter, zu deinen Diensten. Du hast nicht zufällig einen Kamin, der gereinigt werden muss? Aber was rede ich, jetzt bist du ja erst mal hier bei mir. Du hast wirklich wunderschön feurige Haare!« Raizel fuhr sich unwillkürlich mit der Hand durch die rote Mähne. Cendro zeigte auf den Schornstein und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Raizel zögerte. Der Typ hatte schließlich vier Arme, verdammt noch mal!
»Ich kenn dich gar nicht, weshalb sollte ich mit dir in einen engen Schornstein klettern?«, fragte sie misstrauisch.
Cendro stützte drei Arme in die Seite, in die vierte Hand legte er sinnierend den Kopf. Dann kam ihm eine Idee.
»Du möchtest doch wissen, wo du hier gelandet bist, oder etwa nicht?« Damit hatte er ins Schwarze getroffen, was bei einem Schornsteinreiter wahrscheinlich öfter vorkam. Also folgte ihm Raizel widerwillig eine Metallsprossenleiter hinunter, klopfte sich die Asche von der Kleidung und blieb unschlüssig stehen. Die Dachgeschosswohnung war spärlich möbliert, abgesehen von einem verkohlten Holzscheit, das wohl als Sitzgelegenheit dienen sollte. An Haken und auf dem Boden verstreut registrierte Raizel ein Sammelsurium an Bürsten. Cendro erzählte seinem Gast stolz, wie er damit die Schornsteine seiner Nachbarn auszukratzen pflegte, um den Ruß für seine eigene Körperhygiene zu sammeln. Raizel konnte schon nach den ersten Sätzen nicht mehr an sich halten und bestürmte ihren Gastgeber mit Fragen.
»Du wolltest mir erzählen, wo ich hier bin. Also los!«
»Du bist in der Wohnung des Schornsteinreiters von Baldorg«, sagte Cendro.
»Jetzt lass dir nicht alles aus der rußigen Nase ziehen. Was ist Baldorg?«
»So heißt diese Stadt nach den ersten Siedlern hier, den Balden.«
Raizels Ungeduld wuchs. »Und was bitte sind Balden?«
»Du bist ihnen heute doch schon begegnet. Aber stimmt, ihr Menschen von drüben nennt sie ja Elfen. Merkwürdiger Name, warum nicht Fünfen oder Sechshundertsechsundsechzigen? Hier heißen sie jedenfalls Balden. Und da müssen wir jetzt bald hin.«
»Wie, wo müssen wir hin?«
»Na, zu den Balden. Ich würde dir ja gern ein Stück Rußkuchen anbieten, aber dafür bleibt keine Zeit. Manjfee möchte mit dir sprechen.«
»Manjfee?«
»Du hast schon eine ganz schön lange Leiter, oder?«
»Heißt das nicht Leitung?«
»In deiner Welt vielleicht. Wir Schornsteinreiter sprechen naturgemäß eher von Leitern, weil die uns auf die Dächer hinaufführen. Aber um deine Frage zu beantworten: Du hattest heute schon die Ehre, Manjfee die Haare zu bürsten.«
Plötzlich verstand Raizel. Es musste sich um die seltsamen Geschöpfe aus dem Tannenturm handeln. Bei dem Gedanken, ihnen erneut zu begegnen, bekam sie eine Gänsehaut. Wieder stieg Panik in ihr hoch. Um sich abzulenken, stellte sie schnell eine Frage.
»Und warum sind wir dann erst diesen Schornstein hinuntergestiegen, wenn du so schnell zu dieser Manjfee willst?«
Cendro präsentierte die Antwort in Form einer roten Kiste mit verrostetem – und natürlich ebenso verrußtem – Schloss. »Die müssen wir mitnehmen.«
Als Raizel den Mund aufmachte, um nach dem Inhalt der Kiste zu fragen, war ihr Gastgeber schon wieder den Kamin hinaufgeklettert. Sie folgte ihm. »Warte mal kurz, muss noch was holen«, sagte Cendro mit einem Grinsen. Raizel atmete tief durch. Hier auf dem Dach gab es wenigstens wieder frische Luft. Schon bald war die Ruhepause vorbei, als der Schornsteinreiter in einem Gefährt neben ihr landete, das ein Geräusch wie von einem platzenden Kanonenrohr von sich gab. »Das ist mein Phönix. Ich habe ihn so genannt, weil es nichts Gemütlicheres gibt, als sich aus der Asche zu erheben. Nicht wahr?« Wie zur Bekräftigung seiner Worte deutete der Schornsteinreiter mit einem seiner schwarz besudelten Arme auf den Rücksitz. Der Flieger war feuerrot, mit Schmutz verziert und so schmal, dass er bequem in jeden Schornstein passte. Was ihm an Dicke fehlte, glich der Phönix durch Länge aus. Das ließ ihn mit seinem qualmenden Ende aussehen wie ein Räucherstäbchen. Außen war er mit Borsten, Pinseln und Bürsten behängt. Raizel deutete darauf und fragte: »Bist du so eine Art Schornsteinfeger?«
»Wenn du damit meinst, dass ich den Ruß aus Schornsteinen kratze, um damit mein eigenes Zuhause wohnlicher zu gestalten und meiner Haut regelmäßige Aschemasken zu gönnen, dann ja«, antwortete Cendro. »Mir die Hand zu geben, bringt übrigens Glück«, sagte er, und bevor Raizel ihre Hand zurückziehen konnte, hatte sich Cendro schon mit einem schwarzen Abdruck darauf verewigt. Dann zeigte er auf sein merkwürdiges Fluggefährt und rief in stolzem Tonfall: »Schwing dich rauf, Mädel!«
Und die Reise mit dem Phönix konnte beginnen.
Sie waren noch nicht weit geflogen, da hielt Cendro bereits auf ein Dach zu. Aluminiumstaub – anziehender Antrieb, prangte dort in großen Lettern auf einem Werbebanner. Cendros Phönix flog vor Begeisterung ein paar Loopings, um nach einem rasanten Bogen direkt vor dem Schild in der Luft zu parken. Cendro stellte sich auf seinen Sitz und streckte sich atemberaubend weit vor, um auf einen Knopf mit der Aufschrift Einmal Spezial bitte zu drücken. Dabei kamen ihm seine vier Arme zugute, da er sich mit den zwei linken am Lenkrad festhalten konnte.
Sogleich erschien zwischen den Schindeln eine behaarte Hand mit sechs Fingern und legte ein kleines Päckchen in eine Rille, die nach mehreren Windungen in einem Beutel mündete, der links am Wagen befestigt war. So sahen also hier die Tankstellen aus, dachte Raizel. Cendro startete schon wieder den Motor, da erschienen die sechs Finger erneut, wobei der dritte von links mahnend erhoben war.
»Ach ja, wärst du so nett und drückst mal auf den Knopf da?«, forderte Cendro Raizel auf. Sie hielt sich mit der linken Hand an der Lehne fest und erreichte mit der rechten Zeigefingerspitze gerade noch den zugewiesenen Knopf. Darauf war mit apfelroter Farbe geschrieben: Bitte anschreiben. Und so flogen sie wieder los und überließen sich dem Phönix und dem Wind. Weder Mensch noch Schornsteinreiter hatten den Zwerg mit entrücktem Blick bemerkt, der sich mit einem Schraubenschlüssel am Phönix zu schaffen gemacht hatte.
Noch immer schmollend schaute Polpo aus dem Dachfenster. »Diese Achtmalklugen, diese Dreikrähnehochs. Mir zu überstellen, ich verfüge nicht über einen ausgemalten Sprachstiel!«, murmelte er vor sich. Die Sonne färbte sich langsam blutrot und neigte sich dem glitzernden See in der Ferne zu, der vom brantockschen Haus aus gerade noch so zu erahnen war. Der Tulfo hörte, wie unten das Abendessen zubereitet wurde. Bald würden sie ihn rufen. Auch wenn er das niemals zugäbe, würde er nach den ersten unter Brummen verzehrten Happen wieder besänftigt sein. Das Wasser lief ihm bei der Vorstellung von Leberwurstknäckebrot mit Gurkenscheibchen im Mund zusammen. Er überlegte, ob er einen Blick über die Treppenbrüstung riskieren könnte, um festzustellen, ob das Abendessen bald fertig war. Da sah er, wie sich ein Schatten vor die Sonne schob und als Scherenschnitt vor ihr weiterflog. Er hinterließ dabei schwarze Schwaden, die sich mit dem Rot der untergehenden Lichtspenderin zu Feuer und Rauch verbanden. Eine schwarze Gestalt hob im Vorbeifliegen die Hand zum Gruß, dann war das Gerät schon gen Norden verschwunden. »Ah, sie fliegen zum Nachttannenturm«, dachte er.
»Polpo, Abendessen!«, schallte es zu ihm herauf. Der Tulfo ließ sich gnädig bitten, nahm sich jedoch vor, das Tischgespräch erst dann mit seinen gewitzten Kommentaren zu bereichern, wenn er ausreichend für seine »Bepeinigungen« entschädigt worden wäre. Dafür müsste er mindestens fünf Leberwurstbrote vertilgt haben.
»Erblicket nur die krass bunten Farbkristalle!«, seufzte Wribo hingebungsvoll und deutete zum Horizont. Ohne auf eine Erwiderung seiner Gefährten zu warten, flog er los. Alle Balden, die bereits den ganzen Tag die Lüfte durchkämmt hatten, beschleunigten ihr Tempo, um der magischen Erscheinung näher zu kommen. Selbst Kalfa unterdrückte für den Moment ihr Pflichtbewusstsein und gab sich dem Sog hin.
»Hey, Mädel, dreh dich mal um!«
Als Raizel Cendros Aufforderung nachkam, verschlug es ihr den Atem. Blaue, rote, lila, türkisfarbene, grüne und gelbe Kristalle ergossen sich aus dem Hinterteil von Cendros Flieger in den dunkel werdenden Himmel. Sie wanden sich umeinander in ihrem fröhlichen Tanz und zeichneten hinter dem Phönix eine bunte Spur. Eine Weile betrachtete Raizel schweigend das Farbspiel, dann fiel ihr plötzlich etwas ein.
»Kennst du einen Menschen von hier, ungefähr so alt wie ich, dunkelbraunes Haar bis zur Schulter …«
»Männlich oder weiblich, anziehend oder abstoßend?«, unterbrach Cendro sie.
»Männlich.« Den zweiten Teil der Frage wollte sie so direkt nicht beantworten. »Eher nicht abstoßend …«, sagte sie nach einer kurzen Pause. Aber der Schornsteinreiter konnte ihr ohnehin nicht weiterhelfen.
»Tut mir leid, ihr Menschen seht für mich alle ziemlich gleich aus. Auf jeden Fall könntet ihr alle mal eine Kur mit Asche vertragen.« Um seine Passagierin aufzumuntern, setzte er nach: »Ich zeig dir mal was.« Dann ließ er sein Gefährt in Schlingen fahren und machte einen Looping, wobei die bunten Kristalle seiner Bahn stets folgten und so zu neuen Kombinationen zusammenfanden.
»Nicht schlecht, was?«, fragte Cendro stolz.
»Ziemlich cool«, antwortete Raizel, und der Schornsteinreiter grinste zufrieden.
Ein Rascheln lag in der Luft, das schnell lauter wurde, ohne dabei aufdringlich zu sein. Eher angenehm einlullend. Bald konnte Raizel die Quelle des Geräusches ausmachen: Viele kleine Flügel bewegten sich auf und nieder und dabei auf ihr Gefährt zu. Die Elfen! Ach nein, die hießen hier ja Balden, wie Cendro ihr erzählt hatte. Dieser murmelte mit einem verschmitzten Lächeln in den rußgeschwärzten Runzeln um seine Augen: »Ah, da sind sie ja.«
Einige der geflügelten Wesen spielten übermütig mit den bunten Kristallen, warfen sie sich gegenseitig zu oder schlugen um sie gewickelt Purzelbäume in der Luft. Das also war mit dem Werbeslogan Aluminiumstaub – anziehender Antrieb gemeint gewesen. Verblüfft bemerkte Raizel, dass sie keine Angst mehr empfand, eher so etwas wie Ehrfurcht und Verzückung. Eine der Balden löste sich aus der Gruppe und setzte sich neben Cendro auf den Phönix. Schwarze Haare umspielten ihre spitzen Ohren und die Augen leuchteten im Dunkeln lila auf wie Katzenaugen. Sie streiften Raizel nur kurz und wandten sich dann dem Fahrer zu.
»Du hast sie also gefunden, wie Manjfee dich gebeten hat. Hätte ich dir nicht zugetraut.« Dabei streckte sie ihre Nase gen Himmel, was ein bisschen arrogant wirkte – aber das kannte man ja von Elfen. Balden.
Cendro schien zunächst beleidigt zu sein, dann siegte der Stolz über seine geglückte Mission und er kicherte: »Nicht wahr, Kalfa? Man könnte meinen, ich hätte eure Intuition.«
Da streckte die Angesprochene blitzschnell einen Arm mit gespreizten Fingern aus und bewegte ihn ruckartig nach rechts – obwohl selbst das Ruckartige bei ihr irgendwie geschwungen und anmutig wirkte. Der Phönix folgte ihrer Bewegung. Raizel stellte fest, dass sie um Haaresbreite an einem aus dem Nichts aufragenden Haus vorbeigeflogen waren, das etwas höher gebaut war und dessen oberstes Stockwerk somit in ihre Flugbahn ragte.
»Fürwahr erstaunlich, deine Intuition, voll fett«, säuselte Kalfa leicht hämisch in Richtung des geknickten Schornsteinreiters.
»Wer ist eigentlich diese Manjfee?« fragte Raizel.
Kalfa drehte sich zu ihr um. »Schnalle, sie ist, was ihr Menschen Königin zu nennen pfleget. Den Rest wirst du heuer selbst checken, wenn wir angekommen sind.«
Schon wieder dieser merkwürdige Sprachmix. Raizel spürte einen Windhauch an ihrer Wange und drehte den Kopf. Da sie dort allerdings nichts als den Abendhimmel sehen konnte, bewegte sie ihn wieder zurück – und blickte in ein jungenhaftes Gesicht mit langen Ohren und grünen Augen, die sie aufmerksam musterten. Als das Wesen ihre Überraschung bemerkte, verzog sich der schön geschwungene Mund zu einem Grinsen.
»Selp, du versetzt sie in derbe Pein!«, rief Kalfa, allerdings mehr belustigt als tadelnd. Der Balde verdrehte die Augen und fuhr mit seiner Untersuchung fort. Als Cendro haarscharf um eine Baumspitze herumflog, wäre der Balde beinahe in Raizels Gesicht gelandet. Das Geschöpf rappelte sich auf und flog zu seinen Gefährten und den Kristallen zurück.
»So viele Farbdinger hat mein Auge noch nie auf einmal erspäht, Alter«, sagte Kalfa zu Cendro. »Hattest du die erquickliche Eingebung, deinen Wagen hochzutunen?«
»Nei…« Das »n« sprach der Schornsteinreiter nicht mehr aus, denn in diesem Moment knallte es laut und der Strom der Farbkristalle verdichtete sich. Was schön ausgesehen hatte, wirkte jetzt bedrohlich, und ein paar Balden wurden von dem unerwarteten Druck nach hinten geschleudert.
»Der Tank hat ein Leck!«, rief Cendro. Wie zur Antwort sackte sein Gefährt ein Stück tiefer und der Motor begann besorgniserregend zu stottern. »Wir stürzen ab! Mein armer Phönix!«
»Dein armer Phönix?! Und was ist mit uns?«, entrüstete sich Raizel. Zum zweiten Mal an diesem Tag drohte sie in den Tod zu stürzen. Sollte ihr Abenteuer in dieser fremden Welt schon so bald zu Ende sein? Ihr wurde übel.
Nur die Baldin bewahrte die Ruhe. »Contenance, ganz cool«, sagte Kalfa. »Das Loch bedarf gestopft zu werden.« In diesem Moment kippte der Wagen mit seinem Vorderteil nach unten und stand senkrecht in der Luft.
»Das ist die falsche Richtung!«, bemerkte Cendro.
»Welch weiser Checker, fürwahr«, murmelte Kalfa. »Los, macht hinne!«, rief sie ihren Gefährten zu. »Sammelt die Kristalle ein.« Mit drei Flügelschlägen war sie selbst am Auspuff angelangt – und binnen eines Augenaufschlags darin verschwunden.
»Wie hat sie das gemacht?«, fragte Raizel. Balden waren zwar kleiner als ausgewachsene Menschen, aber nicht so winzig, dass sie in ein Auspuffrohr passten.
»Sie können ihr Körpervolumen minimieren, indem sie sich ganz auf ihren Geist konzentrieren. Mehr Kopf, weniger Fleisch, du weißt schon.« Cendro wurde aus seinem Vortrag gerissen, als etwas seine Hand kitzelte.
»Oh, entrußter Schornstein noch mal, das war eine Nadel. Wir fallen gleich auf den Nachttannenturm!« Der Phönix trudelte tatsächlich über dem Platz, den Raizel schon einmal von oben gesehen hatte. Und wieder befand sie sich in einer brenzligen Situation. Der Phönix berührte gerade eben die Spitze des Turmes, in dem sie der Baldenkönigin die Haare gekämmt hatte.
»Mach dich mal locker, verehrter Kumpel. Schon reüissiert«, sagte Kalfa, die in diesem Moment aus dem Auspuff schnellte und dabei sofort wieder ihre normale Größe annahm. Und wirklich, Cendros Gefährt verlor nicht mehr an Höhe und stand wieder gerade in der Luft. Doch dann fing der Motor an zu stottern.
Kalfa machte ein Zeichen mit der Hand. Die Balden begannen daraufhin, die Kristalle, die sie auf ihren Armen angehäuft hatten, zurück in den Auspuff zu stopfen. Das Stottergeräusch verstummte.
»Oh krass, danke euch«, stammelte Cendro. Während sich der Phönix langsam gen Boden senkte, blitzte der Turm aus Tannen im Licht der Abendsonne auf.
»Das ist der Nachttannenturm, unser Zuhause«, sagte Kalfa.