Читать книгу Imaginate – Der Nachttannenturm - Nina F. May - Страница 12

Kapitel 4

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Erst bei dem Spaziergang zu Vermicellis Buchhandlung konnte Raizel das kleine Städtchen, in das es sie so unversehens verschlagen hatte, in Ruhe betrachten. Zusammen mit Frips kam sie vorbei an efeubewachsenen Steinhäuschen mit schmückenden Kreuzgittern vor den Fenstern und gemütlichen Holzbänken vor den Türen. In jeder der neun Straßen, die sich vom Platz des Nachttannenturms erstreckten, gab es eine Kneipe oder ein Café. In der Marktstraße hieß dieses Grüne Tomaten, in der Magie-Allee Zaubar. Neben dem grünen Eckhaus der Koboldfamilie Brantock in der Schabernackgasse befand sich das Trixter. Wer hier einkehrte, musste damit rechnen, mit einer neuen Haarfarbe oder überhaupt nur noch mit Mühe und Not nach Hause zu kommen. Im Zuckerguss-Gässchen gab es das Hotel Bakebeggars, das für seine exquisiten Torten und Kekse berüchtigt war und Aufzüge aus Zuckerwatte hatte. Es lieferte Gebäck und Kuchen an das benachbarte Teehaus Glückskeks. Die meisten Gebäude waren von einem anheimelnden Honigton.

Im Utopieweg blieb Raizel an dem Aushang der Zeitung Nachrichten aus Nirgendwo stehen. Dort hieß es: Morgen wird es schneien oder die Sonne scheinen. Sind Sie auf alles vorbereitet und mit Schlitten und Sonnenschirm gleichzeitig ausgestattet? Oder suchen Sie lieber Rat bei der Wahrsager-Eule? Eine exklusive Leserumfrage. Die Lokal­zeitungen waren hier anscheinend auch nicht besser als zu Hause, dachte Raizel. Eine Annonce für Sportangebote (Wassergymnastik im Morgengrauen mit Nixe, Heuballenweitwurf mit Esel Kleff, Wildpferd­reiten mit Sorraia) weckte einen Gedanken. So sagte Raizel zu ihrem jungen Begleiter: »Frips, meinst du, ich sollte mit dem Kampftraining beginnen? Ich meine, so als Heldin. Das wird doch irgendwie von mir erwartet, oder?«

Frips grinste schelmisch.

»Ach Quatsch, so etwas wird hier schon seit Ewigkeiten nicht mehr praktiziert. Ist einfach nicht nötig, seit die Balden mit ihrem Nachttannenturm für gute Stimmung sorgen. Sag so was Komisches bloß nicht vor Fremden, sonst weiß jeder gleich, dass du nicht von hier bist!«

Raizel war ein bisschen erleichtert. Frips drängelte, und so konnte sie nur noch einen kurzen Blick auf eine Anzeige für das Café am Ende der Welt werfen, das sich ganz in der Nähe befinden sollte. Das Ende der Welt und das Nirgendwo aus dem Zeitungsnamen – die zwei Unorte passten irgendwie zusammen.

Die Schnipselgasse, die Vermicellis Bücherladen beherbergte, entpuppte sich als Künstlertreffpunkt. Hier gab es mit dem Geistesblitz und dem Tropfenden Tintenfass gleich zwei Kneipen. Die Bewohner dieser Straße mussten einen besonders hohen Bedarf an jener Inspiration haben, die nur auf dem Grund eines Weinglases zu finden war. Die Buchhandlung konnten sie schon aus weiter Entfernung ausmachen. Das lag an einer langen Schlange, die sich bis zum Geistesblitz zog. Einem solchen folgend, hatten einige Wartende sich Erfrischungen aus der Kneipe besorgt und verkauften sie zu Wucherpreisen an ihre anstehenden Schicksalsgenossen. Raizel stellte sich mit Frips ganz ans Ende der Reihe. Ein Zentaur trippelte auf sie zu. Er balancierte ein Tablett auf seinem Pferderücken. »Pflaumensekt für nur sechs Taler, versetzt garantiert in die passende Feierstimmung für Imaginate. Na, wie wär’s?« Raizel seufzte. Wenn sie sich eine fantastische Welt ausdenken würde, dann eine ohne Warteschlangen.

Sie zupfte an ihrer ungewohnten Kleidung herum. Lille Brantocks pistazienfarbenes Kleid erinnerte aufgrund des Größenunterschieds zwischen den Trägerinnen an ihrem Körper eher an einen Minirock. Ihre einzige Kleidung aus der Menschenwelt lag zerrissen unter Raizels Bett im Haus der Brantocks. Die Koboldmode fand sie noch etwas gewöhnungsbedürftig. Das lag vor allem an den Trompeten­ärmeln, die ein bisschen nach Karnevalskostüm aussahen. Wenigstens konnte sie ihre gemütlichen Lederstiefel weiterhin tragen.

Einige der Wartenden hielten sich Schilder in Herzform vor die Brust, auf denen stand: Mr. Anonymous, heirate mich. Dieses Angebot war an den unbekannten Autor von Imaginate gerichtet. Ein Superstar ohne Namen. Oder war das nur ein geschickter Marketinggag und bei der neunhundertneunundneunzigsten Fortsetzung würde Vermicelli stolz das Gesicht von Imaginate präsentieren? Noch hatten die Belieber keine Ahnung, wen sie da eigentlich verehrten. Das machte es einfacher, Illusionen aufrechtzuerhalten. Einige Fans schienen sogar vor dem Buchladen kampiert und ihre Schlafsäcke auf dem Rasenstück neben dem Laden zurückgelassen zu haben, sobald die Party anfing. Verrückt, fand Raizel. Als Literaturstudentin konnte sie zwar die Begeisterung für Bücher und Autoren nachvollziehen, Star­rummel war ihr indes fremd. Deshalb wurde ihr auch mulmig zumute, als ein kleines Mädchen aus der Reihe vor ihnen sich umdrehte, rot anlief und dann um ein Autogramm bat.

»Du siehst wirklich genauso aus wie Raizel. Woher hast du die Maske?« Die leibhaftige Raizel zuckte peinlich berührt mit den Schultern und schrieb ihren Namen in das dargebotene Buch mit dem Titel Raizels Look: Ihre Kleidung, ihr Make-up, ihr gewisses Etwas. Das kleine Mädchen lief freudestrahlend zu seinen Freundinnen zurück.

Frips und Raizel stießen allerdings nicht nur auf Anhänger des Buches. Kurz bevor sie endlich an der Reihe waren, tauchte eine Horde auf, die Plakate mit der Aufschrift Dieses Buch verführt unsere Jugend schwenkte. Raizel konnte nicht mehr fragen, was es mit ihnen auf sich hatte, denn in diesem Moment öffnete der Security-Troll die Tür und Frips stürmte sofort in die Buchhandlung. Raizel folgte dem Koboldjungen.

Zunächst musste sie ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnen, das im Innern herrschte. Dann blickte sie sich erwartungsvoll im Geschäft um. Pfeile wiesen den Weg zu Abteilungen wie Romantische Literatur – Die erfolgreichsten Liebestränke und die melancholischsten Gedichte, Heilkräuter, Schelmenstreiche und Abenteuer. Es gab zudem einen Sonderbereich für Zwerge. Die Regale dort waren niedriger.

Raizels Blick fiel auf einen dicken Wälzer, auf dem Brüder Grimm stand. In einem Seminar über internationale Fantastik hatte Raizel auch die tiefere Bedeutung von Rotkäppchen und Aschenbrödel studiert. »Sind das hier bei euch auch Märchenerzähler?«, fragte sie neugierig. Frips stöhnte und entgegnete in gelangweiltem Tonfall:

»Ne, das sind Volkskundler. Die Brüder Grimm haben das Verhalten aller Bewohner dieser Welt genauestens studiert. Sie haben schrecklich dicke Bücher über die Fragen geschrieben, weshalb Hexen sich gern in Lebkuchenhäusern ansiedeln, Prinzen sich manchmal als Frösche tarnen und Spindelstiche sich als Schlafmittel eignen. In der Schule haben sie uns im Fach Sachunterricht gezwungen, das alles auswendig zu lernen, weil wir angeblich etwas über unsere eigene Natur lernen sollten. So was von dröge!« Raizel konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und fuhr fort, die Buchhandlung zu erforschen.

An den Wänden stapelten sich vor allem alte Folianten, es roch gemütlich muffig. Der gesamte Innenraum hingegen war mit neuen Dingen gefüllt – Sachen, die in Raizels normalem Leben eine Bedeutung spielten: täuschend echt wirkende Duplikate ihres Tagebuchs mit weinrotem Ledereinband, ihr geliebtes T-Shirt mit Glückspilzaufdruck und selbst Megapackungen mit Lakritzhütchen, nach denen sie süchtig war.

»Na, was sagst du?« Frips wuselte herum und machte Raizel auf viele verschiedene Fanartikel aufmerksam. Jetzt wusste sie, wie Harry Potter sich fühlen würde, wenn er durch eine Buchhandlung ihrer Welt liefe …

»Es ist wirklich unglaublich! Hast du dir etwa auch schon was von diesem Zeug gekauft? Ich hoffe ja, du gibst nicht dein ganzes Taschengeld dafür aus«, sagte sie neckend.

»Also, na ja, ich will mir ja nicht so einen Mädchenkram kaufen, aber du hast mich echt auf den Lakritzgeschmack gebracht«, antwortete der Kobold peinlich berührt.

»Und weshalb ist ausgerechnet mein altes Schlabber-Shirt zum Fanartikel erklärt worden?«, fragte Raizel verwundert.

»Na, weil es so herrlich ungewöhnlich ist, wie du es dir fast jeden Abend auf dem Sofa bequem machst. Dafür haben wir hier neben all unseren abenteuerlichen Questen überhaupt keine Zeit. Echt fantastisch, dein Leben!«

Raizel schüttelte ungläubig den Kopf.

Da schnarrte plötzlich jemand in barschem Tonfall: »Ausweiskontrolle.«

Für einen Moment überlegte Raizel tatsächlich, ob sie ihren Personal­ausweis dabeihatte. Obwohl der ihr hier bestimmt nicht viel nutzen würde. Der Kontrolleur hatte allerdings gar nicht sie, sondern ihren jungen Begleiter gemeint. Misstrauisch fragte er nun: »Hast du schon deine magische Reife erlangt?«

»Aber natürlich, Sir«, sagte Frips schnell und hielt ein Pappstück mit einer Tuschezeichnung und einem Abdruck seiner Ohren hoch. »Soll ich es dir beweisen, indem ich dich nach alter Koboldart verhexe?« Als der Kontrolleur hastig den Kopf schüttelte und sich ein neues Opfer suchte, zog Frips Raizel in den Gang zwischen zwei Regalen hinein.

»Ja, okay, der Ausweis ist gefälscht«, gab er wenig später in sicherer Entfernung zu. »Um Imaginate lesen zu dürfen, muss man seine magische Reife erreicht haben, weil sonst angeblich akuter Wirklichkeitsverlust droht. Es soll schon vorgekommen sein, dass Kobolde sich nach dem Lesen plötzlich wie die Fabelwesen fühlten, als die sie in euren Märchenbüchern beschrieben werden, und nicht als die durch und durch realen Lebewesen, die sie nun einmal sind. Einige traf es sogar so hart, dass sie am Ende des Regenbogens Gold versteckten. Mir würde das natürlich nie passieren.«

Raizel erinnerte sich plötzlich an etwas.

»Haben diese Leute, die draußen Schilder geschwenkt haben, etwas damit zu tun?«

»Du meinst die Vereinten Realisten, kurz VR? Die wollen nicht einsehen, dass es fremde Welten gibt, in denen keine Magie existiert. Außerdem sagen sie, Imaginate verherrliche Gewalt und verderbe die Jugend. In allem wollen sie gleich mehrere Dimensionen sehen. Deshalb bestehen sie auch darauf, dass in Imaginate ein ›e‹ eingefügt wird: Damit die ›Magie‹ zurück in ›Imagienate‹ gelangt. Ganz schön militant, die VR-Anhänger.«

In diesem Augenblick stürmte eine Horde von Jugendlichen schubsend und drängelnd in den Laden und Raizel zog sich die Kapuze ihres Capes tiefer ins Gesicht. Zwei halbstarke Riesenmädchen waren trotz der Verkleidung auf sie aufmerksam geworden. Sie bauten sich vor ihr auf, zeigten auf ihre Schuhe und rümpften die Nase: »Pff, was für ein billiges Imitat. In Schuhe von so schlechter Qualität würde sie nie ihre Füße stecken.« Frips grinste schelmisch.

Raizel wurde durch eine Lautsprecherdurchsage von einer Antwort erlöst: »Meine sehr verehrten Riesen, Kobolde, Gnome, Balden und alle, die ich vergessen habe, ich freue mich außerordentlich, euch heute zur Releaseparty des sechsundsechzigsten Bandes von Imaginate zu begrüßen. Stöbert, erfrischt euch am kalten Büfett und vor allem: kauft! Um euch in die richtige Stimmung dafür zu versetzen, verwöhnen wir euch hier und jetzt mit einem Liveauftritt der – Froschcombo! Applaus bitte!« So sprach der Ladeninhaber, der Raizel bereits als waschechter Bücherwurm beschrieben worden war. Und wirklich: Sein faltiger Wurmschwanz erinnerte an einen Ledereinband und die Flecken auf seiner Krawatte sahen verdächtig nach Papierschnipseln aus. Vermutlich hatte Vermicelli noch schnell einen Happen zu sich genommen, um sich nicht vor Heißhunger auf seine eigene Ware zu stürzen.

Nur wenige Augenblicke nach seiner Ansage stürmten fünf überdimensional große Frösche auf die Bühne. Ein Drummer, ein Flötist, ein schneidiger Bassist mit Tuch um die Stirn und ein zartbesaiteter Harfenspieler, der zu seinem Spiel unablässig seufzte. Der Star war jedoch Körmit, der Bandleader und Sänger. In James-Dean-Manier lehnte er sich an seinen Notenständer, zog leicht arrogant eine Augenbraue hoch und begann, lässig ins Mikro zu hauchen.

Während die Band spielte, schlängelte Raizel sich durch die Reihen und suchte Imaginate, Band eins. Sie war sozusagen der Erschaffung ihres Universums auf der Spur. Wie lächerlich das klang, hier, in einem vollgestopften Laden, der auch in ihrer Stadt stehen könnte, wenn man mal von der Angewohnheit des Besitzers absah, die Seiten anzuknabbern. Raizel musste einfach mehr über diesen Roman herausfinden. Vielleicht würde sie dann auch erfahren, wie sie wieder in ihre Welt zurückkehren sollte. Sie klammerte sich an diese Aussicht, die ihr bei all den erschütternden Erlebnissen der vergangenen Stunden ein bisschen Halt gab.

Da lag es. Das Buch nahm einen Ehrenplatz ein, am Kopf eines Tisches mit Titeln wie Alles nur geklaut: Intertextuelle Bezüge in Imaginate oder Wie Imaginate die Vorstellungskraft schult. Hier standen nicht sehr viele Kauflustige herum, vermutlich, weil jeder Partygast den ersten Band schon längst gelesen hatte. In einer Ecke hörte sie zwei gelehrt aussehende Gnome diskutieren.

»Ich würde sagen, Raizel ist eindeutig eine romantische Heldin. Als Literaturliebhaberin träumt sie sich in fremde Welten hinein, sie huldigt dem Irrealen und den Nachtseiten des Lebens. Weshalb findet sie sich bloß nicht mit ihrem eigenen, so herrlich außergewöhnlichen Leben ab? Diese Geschichte muss meiner Ansicht nach zwangsläufig ein tragisches Ende finden.« Sein Gegenüber erwiderte:

»Du musst bedenken, dass Raizels Dasein ja nur aus unserer Sicht außergewöhnlich erscheint, weil hierzulande selbst jeder Baumgeist über Zauberkräfte verfügt. So ist es für uns geradezu fabelhaft, wie sie den Alltag ohne eine Spur von Magie meistert. Der anonyme Autor spielt auf eine ganz exzellente Weise mit den Perspektiven und der Vorstellung davon, was normal ist. Einem Menschen aus ihrer Welt müssten wir Gnome ja wie fantastische Traumwesen erscheinen …«

Die Gelehrten sahen sich an und prusteten angesichts dieser irrwitzigen Vorstellung los. Dann schlug einer der Gnome einen ernsten Ton an. »Was mir Sorge bereitet, ist diese exorbitante Vermarktung des Buches. So wird das Augenmerk fort von der eigentlichen Geschichte gelenkt und zwischen all den Fanartikeln geht der tiefere Sinn verloren. Angeblich soll es sogar bald ein Extrahörspiel nur über eins der Werke geben, das Raizel irgendwann einmal für eine Haus­arbeit gelesen hat. Aber das ist bestimmt nur ein Gerücht. Wäre ja auch ein ziemlich offensichtlicher Versuch, den Erfolgsroman bis ins Letzte auszupressen.«

Die Gnome entfernten sich in Richtung des Büfetts. Für einen Moment lauschte Raizel gedankenverloren Körmits rauchiger Stimme. Ihr Körper war angespannt, Wellen der Aufregung durchströmten sie. Zugleich zögerte sie: Nun also sollte sie das Buch sehen, das die Menschen­welt hervorgebracht hatte. Das war wirklich ziemlich verrückt! Am Anfang war das Wort, dieser Satz aus der Bibel erschien ihr plötzlich in neuem Licht.

In diesem Moment ging auf Vermicellis Bühne ein gleißender Scheinwerfer an. Raizel war dankbar für die Ablenkung. Sie spielte mit einer ihrer widerspenstigen roten Locken, während ihr Blick übers Publikum schweifte. Beim Anblick all der Fans, ihrer Fans sozusagen, legte sich in ihr ein Schalter um. Bislang hatte Raizel mit ihrer Protagonistenrolle gehadert. Nun aber fühlte sie sich verpflichtet, den Erwartungen der Anhänger an die Figur Raizel gerecht zu werden. Mutig und tapfer also sollte sie sein. Kategorien, die in ihrem behüteten Alltag in der westlichen Zivilisation der Menschenwelt nicht unbedingt eine Rolle spielten. Außer bei der Textinterpretation von Heldenepen vielleicht.

Den jungen Kobold Frips konnte sie im Trubel nicht entdecken. Dafür aber einen anderen ihr wohlbekannten Jemand. Der Typ von der Mauer in der Nähe des Nachttannenturmes. Der erste Mensch, dem sie in diesem Land der Fabelwesen begegnet war und dem sie sich deshalb instinktiv verbunden gefühlt hatte. Ehe er sie einfach hatte stehen lassen. So was von unhöflich!

Sie kannte nicht einmal seinen Namen, fiel ihr auf, als sie den Mann mit den halblangen braunen Haaren betrachtete, der sich hinter einem Regal mit melancholischer Literatur zu verstecken schien. Als er ihren Blick auffing, griff er schnell nach einem Buch aus einem Regal mit regionaler Literatur. Es trug den Titel Paradise Found – ein episches Gedicht über Baldorg. Der Mann hatte Nerven. Erst erzählte er ihr, dass sie ihm irgendwie bekannt vorkam, dann verschwand er, ohne auch nur seinen Namen zu nennen. Und jetzt beobachtete er sie und hielt sie davon ab, endlich das Buch ihrer Herkunft zu lesen. Wäre sie jetzt eine echte Hauptfigur, könnte sie seinen Ärmel mit einem Pfeil an eines der Regale tackern wie Katniss Everdeen aus Die Tribute von Panem. Oder ihn zum Donnerdrummel wünschen wie Ronja Räubertochter und ihn beim Sprung­duell über eine Schlucht besiegen. Die einzigen Abgründe, die sich in Vermicellis Buchhandlung auftaten, waren indes die der Seele in der Abteilung für psychologische Dramen. Um die Erwartungen der Leser nicht zu enttäuschen, gab es dort auch ein Regal für Tragödien mit garantiertem Happy End.

Raizel beschloss, den Mann mit dem unbekannten Namen direkt zur Rede zu stellen. Für ihre magielose, geradlinige Art der Problem­lösung wurde die Romanfigur Raizel schließlich in dieser Welt verehrt. Als sie mit Funkeln in den Augen bei dem Unbekannten anlangte, kam ein Angestellter von Vermicelli mit einem Berg von Erstausgaben des neuen Imaginate-Bandes vorbei. Er wurde belagert von Fans, die sich eins der ersten Exemplare sichern wollten. Eine Blumenfee, deren zartes Erscheinungsbild täuschte, hielt Raizel für eine Konkurrentin. Die Fee boxte ihr unerwarteterweise so hart in den Bauch, dass Raizel überrascht zur Seite schwankte und ausgerechnet von jenem Mann aufgefangen wurde, dem sie eigentlich die Meinung sagen wollte. Ein leichter Geruch nach schwelender Glut ging von ihm aus. Sie ließ sich nicht den Wind aus den Segeln nehmen, rappelte sich schnell auf und strich sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Weshalb beobachtest du mich heimlich?«, herrschte sie ihn an. Er hatte grüne Augen, registrierte sie nebenbei.

»Wie kommst du darauf, dass ich dich beobachte? Hier gibt es genug spannende Unterhaltung.« Er deutete auf ein Bücherregal. Raizel fuhr sich mit den Händen unwillkürlich an ihren Hals, doch an dem von Lille geborgten Oberteil gab es keine Kordel, an der sie nervös hätte nesteln können. Sie kam sich plötzlich ziemlich albern vor und reagierte deshalb heftiger als beabsichtigt.

»Was hast du sonst noch so in deinem Repertoire? Erst fragst du mich aus, dann haust du einfach ab, ohne mir auch nur deinen Namen zu nennen, und jetzt …«

»Tarik«, sagte er. Raizel hielt in ihrem Entrüstungsschwall inne.

»Was?«

»Mein Name ist Tarik. Du kannst also eine Sache von deiner imposanten Liste meiner Verfehlungen streichen«, sagte er spöttisch.

Tarik – welch sonderbarer Name. Er klang nach Jahrmarkt­gaukler oder orientalischem Krieger. In einer Fabelwelt wie dieser musste man wohl solch einen Namen haben. So leicht würde sie ihn nicht davonkommen lassen.

»Na also, geht doch. Und weshalb versteckst du dich hier wie ein Dieb, der seine Beute inspiziert?« Tarik schaute so, als würde ihn dieser Vergleich erheitern. Das ließ Raizels Blut erst recht hoch­kochen. In diesem Augenblick lief Frips an ihnen vorbei, blickte sie kurz an, runzelte die Stirn und verschwand wieder im Getümmel. Raizel wandte sich wieder dem Mann von der Mauer zu.

»Super, dass wenigstens einer sich amüsiert. Du bist ja wirklich ein schöner Held.« Und einem plötzlichen Gedanken folgend, setzte sie trotzig hinzu: »In Imaginate würde jemand wie du keinerlei Rolle spielen.« Sie war davon ausgegangen, dass diese Aussage für alle Besucher der Buchparty die ultimative Kränkung darstellen würde. Die Reaktion ihres Gegenübers fiel allerdings nicht so aus wie erwartet.

Tarik blickte für einen kurzen Moment überrascht, dann prustete er los, als hätte er gerade etwas sehr Absurdes gehört. Er fing sich wieder.

»Damit hast du zweifelsohne recht.« Er nahm sie in Augenschein. Hatte er gerade dorthin geschaut, wo ihre Beine unter dem allzu kurzen Kleid hervorragten? Dann wechselte er abrupt das Thema. »Amüsierst du dich, Raizel?«

Mehr noch als alle Sticheleien brachte sie diese Frage auf.

»Jetzt willst du plötzlich Small Talk machen? Tut mir leid, dafür ist mir meine Zeit zu schade.«

Sie drehte sich um, ihre langen Locken flogen durch die Luft, als sie den Kopf divenhaft herumriss. Stolz rauschte sie davon. Das war mal ein Abgang, wie er sich für eine Hauptfigur gehörte. Die Hochstimmung dauerte an, bis eine Sackgasse aus Bücherregalen sie stoppte. Raizel schaute sich nach Tarik um, zum Glück war nichts von ihm zu sehen. Er konnte ihr von jetzt an gestohlen bleiben, sie hatte Wichtigeres zu tun. Den Sinn der gesamten menschlichen Existenz zu ergründen zum Beispiel, und andere Nebensächlichkeiten.

So beugte sie sich wenige Augenblicke später über den ersten Band ihrer Geschichte. Endlich war es so weit, und dennoch zögerte sie. Sie spürte diese Mischung aus Neugier und schlechtem Gewissen, vergleichbar mit der Situation, wenn man das Ende eines Buches schon zu Beginn las. Nur dass es diesmal um ihr eigenes Leben ging.

Was, wenn da jetzt stehen würde: Insgeheim wünschte Raizel sich, XY umzubringen. Würde es dann stimmen, nur weil es geschrieben stand? Oder würde sie es sich nur einreden, wobei ja das Resultat dasselbe blieb? So, als ob Eva die Bibel lesen und deshalb den Apfel nehmen würde, wissend, dass es so diktiert wurde. Und was, wenn Raizel im Buch etwas erfahren würde, was noch nicht eingetreten war? Wäre ihre Zukunft vorgeschrieben wie die einer Romanfigur?

Zögernd strich sie mit der Hand über den Einband, und da war er wieder: dieser Stromschlag aus dem Nachttannenturm, gepaart mit dem beißenden Geruch, der sie damals vor den Balden hatte fliehen lassen.

Ein Gehilfe des Bücherwurmes blieb neben ihr stehen und musterte sie mit einer Mischung aus Mitleid und Neugier. »Ah, da ist jemand noch nicht an Vermicellis aggressive Marketingstrategie gewöhnt. Ein kleiner Stromschlag, um die Sinne anzuregen, eine Wolke aus Patschuli, die beim Reiben des Einbandes freigesetzt wird. Der Geruch soll den potenziellen Leser in eine andere Welt entführen.«

Raizel widerstand der Versuchung, ihm zu sagen, dass ihr das bereits widerfahren war – ohne dass sie dabei fast erstickt war. Das also war die Erklärung für ihre erste dramatische Begegnung mit dem Buch im Nachttannenturm!

Noch ehe Raizel etwas erwidern konnte, wurde der Gehilfe von Vermicelli herbeizitiert, um die Regale mit Fanartikeln aufzufüllen, und er eilte davon. Raizel wandte sich wieder dem Buch zu, darauf bedacht, den Einband nicht zu berühren. Sie hielt die Luft an und beugte sich über die Seiten. Gierig verschlang sie den ersten Satz: »Alles begann mit einem Blitz …«

In diesem Moment zog sie ein wohlbekannter Koboldjunge am Ärmel ihres pistazienfarbenen Kleides.

»Frips, was willst du?«, fragte sie ungehalten.

»Was hältst du dich da bei den uralten Büchern auf? Den ersten Teil kennt doch schon jeder«, sagte der Koboldjunge.

Das mit dem Blitz kam Raizel bekannt vor, und sie fragte Frips danach. »Der erste Satz ist derselbe in jedem Band«, erklärte er. »So ein Wiedererkennungsding. Und der Blitz – hallo, der ist natürlich total symbolisch, steht für Kraft und Unberechenbarkeit, das verstehe ja sogar ich.« Dann verfiel der Kobold wieder in den Fanmodus und fuhr hastig fort:

»Los, der Ehrengast tritt gleich auf. Komm, wir sichern uns einen guten Platz!«

Raizel folgte ihm seufzend.


Kalfa trieb Wribo und Selp zur Eile an. »Jetzt macht mal hinne, ihr wisst, welche Verhängnisse es abzuwenden gilt!« Das Trio hatte den Nachttannenturm für eine neue Mission verlassen. Und wieder ging es um Raizel, um jenes Mädchen, das dem Begriff weltfremd eine ganz neue Bedeutung verlieh.

»Warum müssen wir auch zu Fuß gehen«, beschwerte sich Selp. »Das ist so menschlich hilflos.«

»Um die Vereinten Realisten zu ärgern, weißt du doch. Die VR-ler ticken aus, wenn sie uns magiebegabte Wesen schnöde laufend erblicken, sie sehen die Welt einfach viel zu eindimensional.« Damit hatte Kalfa recht. Als sie sich dem Bücherladen näherten, fauchten die Plakatträger sie an: »Ihr missachtet eure Natur! Ihr seid zum Fliegen bestimmt! Seht, was Imaginate mit uns macht!« Einige besonders Eifrige versperrten den Balden sogar den Weg in Vermicellis Laden. Das ging zu weit, fanden die Balden. Also machten sich Selp, Wribo und Kalfa kurzerhand unsichtbar und gelangten so ungehindert ins Innere.


In einem Hinterzimmer von Vermicellis Bücherladen, in dem normalerweise die Lakritzhütchen hergestellt wurden, war es finster. Nur eine tropfende Kerze ließ die Maschinen wie stählerne Drachen erscheinen. Irgendwo war etwas undicht, denn man hörte Öl tropfen. Dieses man waren drei Schatten, die unbeschreiblich, da wesenlos waren. Sie schienen gar nicht da zu sein, und lediglich die Kraft des allwissenden Erzählers machte es überhaupt möglich, über sie zu schreiben. Eins war klar: Sie waren nicht gekommen, um ein Buch zu kaufen oder der Froschcombo zu lauschen.


Gilbo kam wieder zu sich, der Einfluss der dunklen Mächte über ihn ebbte ab wie ein Krötenpilzrausch. Er konnte sich nicht daran erinnern, was er in der Zwischenzeit getan hatte, und hoffte nur, dass es nichts Schlimmes war. Der Zwerg horchte in sich hinein, und als er den Eindringling nicht spürte, schlug er schnell die erste Seite des Romans auf. »Alleeeeees begann … miiit eiiiinem Bbblitzzz.« Er konnte sich nur selbst auf die Schulter klopfen für seine Lesefortschritte. Schon nach wenigen Seiten hatte er begriffen, dass die Romanfigur mit dem Mädchen in dem Phönix identisch war.

Bei der Lektüre erfuhr Gilbo, dass Raizel sich häufig nach Partys mit Freunden ein Beförderungsmittel namens Cab teilte. Dort lief dann etwas, was Radio genannt wurde. Noch befremdlicher als diese Technik erschienen dem Zwerg die Nachrichten, die darüber verbreitet wurden. Dort war von Flüchtlingen die Rede, von ertrinkenden Kindern und Hassdemos. Was war da bloß los in Raizels Welt? All das kannte er aus Baldorg nicht, das würden die Balden nie zulassen. Ihm wurde übel.

Vielleicht würde er in Zukunft seine Belesenheit demonstrieren, indem er eine gewisse Abneigung gegenüber den Balden zur Schau stellte. Bei dieser flächendeckenden Verbreitung von Imaginate würde jeder sein Verhalten sofort als ironische Anspielung auf ein Klischee der Raizel-Welt verstehen, in der ein gewisser Schriftsteller namens J. R. R. Tolkien festgeschrieben hatte, dass sich Zwerge und Elben nicht mochten. In Baldorg kannte er niemanden, der dem harmonischen Baldenvolk, den Brüdern und Schwestern der Elben, tatsächlich mit einer anderen Haltung als Ehrfurcht und Sympathie begegnen könnte. Obwohl allein dieser Umstand schon ein bisschen nervte … Der Zwerg zuckte zusammen. Das war doch nicht sein Gedanke!

Neben Gilbo lag ein Wörterbuch, denn bei der Lektüre stieß er auf viele Begriffe, die ihm selbst in der Zwergensprache nichts sagten. Klima­wandel zum Beispiel. Das Wörterbuch hatte ihn in seine neueste Auflage aufgenommen mit der Erklärung: Bedrohliche Erwärmung der Erde, die durch Fehlverhalten der Menschen und Ausbeutung der Natur verursacht wird, Wort zum ersten Mal registriert in Imaginate, Band 1, S. 48. Oder Willkür: Veralteter Begriff für das Ausnutzen einer Machtposition; den eigenen Willen ungeachtet von nachvollziehbaren Regeln durchsetzen; aus der Zeit der Baldenkriege. Und dann der Nachtrag: Wieder in den modernen Sprachschatz über­gegangen durch Imaginate, Band 1, S. 178. Es waren Wörter, die nicht direkt Raizels Leben, sondern eher ihr Umfeld beschrieben. Und sie bezeichneten allesamt ziemlich schreckliche Dinge.

Gilbo hätte gern noch weitergelesen und mehr über Raizels Geheimnis erfahren, aber das Lesen in fremder Sprache strengte ihn zu sehr an, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. So machte er es sich mit einer Pfeife gemütlich und ließ sich auf einem der überdimensionalen Fliegenpilze nieder, die ihm als Stühle dienten. Bei dem Stichwort fliegen musste Gilbo wieder daran denken, wie er Hand an Cendros Phönix gelegt hatte. Der Körper des Zwergs erschauerte vor Entsetzen über sich selbst.


Raizel kaufte sich ein Fanexemplar ihres Tagebuchs, da ihr eigenes noch in einer anderen Welt auf ihrem Nachttisch auf sie wartete. Wie Frips ihr erzählt hatte, wurde im Roman oft beschrieben, wie Raizel vor dem Einschlafen die wichtigsten Gedanken des Tages in dem weinroten Büchlein festhielt.

Die Stimmung im Buchladen hatte sich gewandelt. Im Publikum breitete sich eine Unruhe aus, die Menge schien auf etwas zu warten. Zwei menschliche Mädchen klammerten sich aneinander, was Raizel entfernt an Konzerte von Boygroups erinnerte. Frips war im Gedränge verschwunden. Dafür hatte sich Cendro zu ihr gesellt. Ganz Baldorg schien verrückt nach diesen Romanen zu sein.

»Na, wie gefällt es dir bei den Brantocks?«, fragte der Schornsteinreiter sie.

»Die Kobolde sind wirklich sehr hilfsbereit«, antwortete Raizel. »Und Frips erinnert mich an meinen kleinen Bruder.« Sie lächelte, denn das hatte sie erst in diesem Moment richtig realisiert.

Nach der zweiten Zugabe der Froschcombo schlängelte sich der Gastgeber Vermicelli auf die Bühne.

»Und nun, meine Damen und Herren, ja gerade euch, verehrte Damen, möchte ich den Ehrengast des heutigen Abends nicht weiter vorenthalten. Begrüßt mit mir: Laurinel – Literaturgott aus dem Nebelreich, denn er spricht nicht über seine Herkunft. Der einzige Vertraute unseres Meisterautors!« Ein Murmeln brodelte in der Masse und rollte in einem Begeisterungssturm über die Köpfe hinweg der Bühne entgegen. Dort strömte dicker Rauch aus einem verborgenen Rohr. Im Qualm zeichnete sich langsam eine Kontur ab, dann war der Rauch verschwunden. Raizel wurde zuerst geblendet von dem furchtbar glitzernden Kostüm, das von dem selbstverliebten Gesichtsausdruck, der sorgsam gerichteten Frisur und dem Siegelring am Finger ablenkte. Neben ihr schnaufte Cendro missbilligend, anscheinend gefiel ihm die überzogene Aufmachung des Überraschungsgastes nicht.

Doch dann … Das konnte nicht möglich sein! Mehr als alle Fabelwesen, die ihr in diesem Abenteuer begegnet waren, schockierte sie dieser Anblick. Der Mann, der sich nun mit einem breiten Grinsen, das gönnerhaft und einstudiert wirkte, dem Publikum zeigte, war – ihr Literaturprofessor Dr. Laurens.


Die Balden suchten mit Augen und Intuition nach dem Mädchen aus der Menschenwelt. »Sie hängt vor der Bühne rum«, gab Kalfa, die erfahrenste von ihnen, per Baldenruf durch, und die Gefährten begaben sich nach vorne. Das war nicht so einfach, denn sie verzichteten auf den Luftweg, um nicht allzu sehr aufzufallen. So wurden sie von all den Fans angerempelt, die ihren Platz nicht aufgeben wollten.

»Hee, Vordrängeln gibtsch nisch«, nuschelte eine Sirene mit Sprachfehler.

»Sorry, edle Dame, bitte untertänigst, ganz cool zu bleiben«, entschuldigte sich Wribo. In diesem Moment waren die Balden trotz aller Harmonie ziemlich aufgeregt.

»Sie will sich zu dem Macker auf der Bühne begeben«, meldete Selp.

»Verhindert es!« rief Kalfa.


Raizel musste herausfinden, was es mit Laurinel auf sich hatte. Vielleicht konnte er ihr sagen, wie die Welten der Balden und der Menschen zusammenhingen. Deshalb wollte Raizel keinen Augenblick verlieren und war bereit, auf die Bühne zu springen, Laurinel zwischen die Bücherregale zu ziehen und zur Rede zu stellen. Hastig verabschiedete sie sich von Cendro. Die aufgebrachten Imaginate-Fans waren ihr in diesem Moment herzlich egal. Es ging hier um eine existenzielle Angelegenheit, und das war in diesem Fall mehr als nur eine Floskel. So schlängelte sich Raizel durch das Publikum, schob Nymphen mit von Herzen übersäten Fanplakaten beiseite und legte sich mit ein paar störrischen Wichteln an. Sie war bereits bis zur zweiten Reihe vorgedrungen, sah die zwei Trolle, die Vermicelli als Ordner engagiert hatte, um die Fans auf Abstand zu halten. Überlegte schon, wie sie zwischen den X-Beinen der massigen Kreaturen durchtauchen könnte. Als sie sich in die erste Reihe zwängte, fand sie sich unversehens neben Tarik wieder. Er sagte nichts, blickte sie nur mit hochgezogenen Brauen an. Plötzlich war sich Raizel sehr bewusst, dass sich ihre Schultern im Gedränge aneinanderpressten. Für einen kurzen Moment war sie aus dem Konzept gebracht. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass es ihr vielleicht nicht so leichtfallen würde, Abstand zu Tarik zu halten. Dann drängte sich Dr. Laurens wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Als Raizel ihren Blick zur Bühne wandte, schaute Laurinel beziehungsweise Dr. Laurens sie direkt an. Dieser durchdringende, inquisitorische Blick, den sie von ihrem Professor so gut kannte, ließ sie erstarren. Dann war die Magie gebrochen. Hatte sie sich nur getäuscht?

Wie ein Rockstar stellte Laurinel einen Fuß auf die Rampe am Bühnenrand und ließ sich von den Zuschauern feiern. Fehlt nur noch, dass er ein Souvenir ins Publikum wirft, dachte Raizel.

In dem Moment holte Laurinel etwas aus seiner Jackentasche hervor. »Ich habe hier ein kleines Souvenir für meine treuen Fans«, sagte er und holte zum Wurf aus.

Raizel konnte nicht erkennen, um was es sich handelte. Was auch daran lag, dass die Anhänger sich darauf stürzten, als handelte es sich um den Heiligen Gral. Aber sie hatten nicht mit Raizel gerechnet. Laut rief sie: »Dort, da ist er! Der Autor von Imaginate! Er ist es leibhaftig!« Und plötzlich war Laurinel nur mehr ein D-Promi und jedes Interesse richtete sich auf die Eingangstür, auf die Raizel gezeigt hatte. Der dort stehende Ausweiskontrolleur grinste angesichts der plötzlichen Aufmerksamkeit verschämt. Ehe jemand sie als Lügnerin denunzieren konnte, duckte sich Raizel schnell an der Stelle, wo Laurinels Mitbringsel zwischen den Fans verschwunden war. Blind tastete sie auf dem Boden herum. Da, sie hatte es gefunden. Neu­gierig zog Raizel ihren Arm aus dem Pulk an Beinen hervor und starrte ungläubig auf ihre Trophäe. Es handelte sich um ein simples Streichholzmäppchen. Darauf stand Café am Ende der Welt – Hier geraten Sie in geselliger Runde an Ihre Grenzen.

Raizel konnte nicht mehr sehen, wie Laurinel auf ihr Intermezzo reagierte, denn in diesem Moment wurde sie von drei Balden angerempelt, die sich lautlos angepirscht hatten. Kalfas Augen funkelten besorgt. »Was …«, konnte Raizel noch sagen, da legte sich Wribos kleine Hand um ihre und er zog sie mit einer beachtlichen Kraft Richtung Ausgang, vorbei an einem amüsiert blickenden Tarik.

»Ich wollte doch …«, japste Raizel, und bevor sie durch die Tür gezogen wurde, drehte sie sich noch einmal um: Der Mann, der aussah wie ihr Literaturprofessor, hatte gerade seinen Umhang abgelegt und wirkte wie ein Zauberer, kurz bevor er das Kaninchen aus dem Hut holte. Im Hintergrund wartete Vermicelli ebenso gespannt wie seine Besucher, die sich nach Raizels Flunkerei schnell wieder der Bühne zugewandt hatten.

Laurinel hob an zu sprechen. »Meine Fans, ich bin höchst erfreut …« Worüber, das hörte Raizel nicht mehr, denn sie war schon draußen.


Frips hatte in den Bücherstapeln gewühlt, um den Wunsch des Tulfos zu erfüllen und ein Werk von Shakespeare zu suchen. Der junge Kobold hatte indes so viele Bücher gefunden, dass er sich nicht entscheiden konnte: Viel Lärm um den Wicht oder Ein Wintermorgen­erwachen oder Mac Exzess, was würde Polpo besonders gut gefallen? Am besten fragte er Raizel, sie wurde in Imaginate als Verehrerin des Schriftstellers beschrieben. Eben hatte sie noch vor der Bühne gestanden und der Froschcombo gelauscht. Sein Blick blieb an Laurinel hängen. Und dieser Mann im Glitzerkostüm wollte ein Kenner sein, wie lächerlich! Kein wahrer Freund des Meisterautors würde sich so aufspielen. In der Ferne konnte er eine Rauchwolke erkennen. Das musste Cendro sein! Frips bahnte sich einen Weg durch die Menge.


»Was sollte das denn?«, fragte Raizel ein bisschen wütend. Lediglich ein bisschen, denn den Balden richtig böse zu sein war beinahe unmöglich. Wribo, der noch immer ihre Hand hielt, machte irgendetwas mit ihr. Es fühlte sich ganz weich und sanft an. Raizel fragte sich unvermittelt, weshalb sie eigentlich Kleidung trug …

»Wribo, du genuiner Vollidiot! Unterstehe dich, den Spruch ›Selig sei, mach dich frei‹ an ihr auszutesten! Oh weh mir, vermaleflixst!«, rief Kalfa, und Raizel wachte aus ihrer Trance auf. Alles um sie herum war dunkel. Sie konnte nichts sehen, die Luft war stickig. Das lag daran, dass sie sich ihr Kleid schon halb über den Kopf gezogen hatte. Sie ließ es schnell wieder herunterfallen und schaute in vier grinsende Gesichter und ein ärgerliches: das von Kalfa.

»Ach, welch beknackte Trübsal! Was hast du dir dabei gedacht, Alter?«, herrschte sie den jungen Balden an. »Deinethalben hat sich die Lady mordsmäßig erschrecket!«

Der Angesprochene versuchte einen schuldbewussten Ausdruck aufzusetzen.

»Ihr Gemüt war so uncool drauf und da dachte ich, ein so gearteter Zauber vermöge sie wieder locker zu kriegen. Hat ja auch gewirkt, oder?« Das musste selbst Kalfa zugeben, denn Raizel war zu überrascht, um verärgert zu sein. Die merkwürdige Baldensprechweise trug noch zu ihrer Verwirrung bei.

Kalfa klärte sie schnell auf. Der Spruch Selig sei, mach dich frei war ein seit Generationen überlieferter Liebes- und Glückszauber und stand ganz oben auf dem Lehrplan der Balden-Elementarschule. Die Schüler durften ihn bisher eigentlich nur an Tausendfüßlern ausprobieren, die sich daraufhin bereitwillig alle tausend Schuhe auszogen, wenn der Zauber nicht vorher gestoppt wurde. Was die jungen Balden natürlich nicht daran hinderte, ihn auch untereinander auszutesten.

Die Tür von Vermicellis Laden ging auf und herausgestolpert kam Frips unter einem Stapel von Büchern, ganz oben lagen Viel Lärm um den Wicht und King Fear.

»Nun, ihr Checker, hinfort, wir trödeln hier schon viel zu lange herum!«, mahnte Kalfa.

Imaginate – Der Nachttannenturm

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