Читать книгу Imaginate – Der Nachttannenturm - Nina F. May - Страница 11

Kapitel 3

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Der Zwerg Gilbo war sich bewusst, dass irgendjemand oder irgendetwas bisweilen seinen Geist okkupierte. Die kalte Schwärze breitete sich dann wie ein Taifunwirbel in ihm aus, begleitet merkwürdiger­weise von einem leichten Duft nach Pfefferminz. Seine Knochen wurden leicht und er ließ den eigenen Verstand hinter den mächtigen Eindringling in seinem Kopf zurücktreten. Es war so bequem, einfach mal nicht selbst denken zu müssen und die Kontrolle abzugeben. Eine süße Versuchung, der Gilbo nicht widerstehen konnte.

In den Momenten, wenn sich die unbekannte Gegenwart wieder zurückzog und sein eigener Geist Oberhand gewann, überkamen ihn Skrupel. Das war typisch für seine Artgenossen. Ihr Verständnis von Zwergenehre hatte sich von Handwerkergeneration zu Handwerkergeneration weiter ausgeprägt. Gilbo war zum Leidwesen seiner Eltern zwar eher so etwas wie ein Geisteswissenschaftler – allein dieses Wort löste bei seinen Verwandten Kopfschmerzen aus. Dennoch verspürte er den geerbten Stolz seiner Vorfahren, die unter ihren Händen etwas entstehen sahen und darauf ihr Selbstvertrauen gründeten. Und so widersprach es seiner Zwergenehre, seinen Geist dem Willen eines anderen zu fügen.

Gilbo ahnte instinktiv, dass es irgendetwas mit dieser jungen Frau zu tun hatte, die vor Kurzem in Baldorg aufgetaucht war. Weshalb sonst hatte er sich durch die schwarze Kälte in seinem Innern genötigt gefühlt, sich ihr an die Fersen zu heften und jeden ihrer Schritte zu verfolgen? Und jetzt wäre er beinahe für den Tod dieser Raizel verantwortlich gewesen. Die dunkle Macht hatte ihn dazu gezwungen, den Phönix zu beschädigen. Das war bislang der Höhepunkt in diesem demütigenden Kapitel seines Lebens. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis ein neuer finsterer Auftrag auf ihn wartete.

Seine Aussetzer hatten angefangen, als überall in der Gegend die Plakate auftauchten, die auf den neuen Band von Imaginate hinwiesen. Deshalb sah er im Moment nur eine Chance, möglicherweise an Informationen zu gelangen: Er musste endlich diese Romanreihe lesen, was er im Gegensatz zu vermutlich fast allen sonstigen Bewohnern von Baldorg noch nicht getan hatte. Allein schon, dass es sich um einen Bestseller handelte, hatte ihn bislang von der Lektüre abgehalten. Er verweigerte sich der Massenkultur aus Prinzip – und aus der heimlichen Befürchtung, von ihr begeistert zu sein.

Das war nicht der einzige Haken: Gilbo kannte sich mit der menschlichen Schrift nicht sonderlich gut aus. Da er viel im Wald unterwegs war, hatte er sich selbst einige Tiersprachen angeeignet und auf Zwergisch Abhandlungen über die Dialekte von Fuchs und Dachs sowie die Bedeutung der Melodie bei Singvögeln geschrieben. Die Menschen hingegen hatten ihn nie sonderlich interessiert. Sie taten ihm lediglich leid, weil sie so unvorteilhaft groß waren, dass sie ständig mit dem Kopf gegen Äste oder Türrahmen stießen. Aber jetzt war keine Zeit für Überheblichkeit. Er hatte sich bereits ein Exemplar von Imaginate gekauft und konnte nur hoffen, dass der Eindringling in seinem Geist das nicht bemerkt hatte.


Zum zweiten Mal an diesem Tag schritt Raizel die Treppe zum Palast der Balden hinauf. Erlebte, wie das Nachtgrün der Tannen beim Näherkommen immer undurchdringlicher wurde. Bestaunte ihre unwirkliche Schönheit, die im Mondschein noch stärker ausgeprägt war. Wände aus lebendigem Grün, die sich leise raschelnd im Wind wiegten. Bildete sie es sich nur ein oder strömten diese imposanten Bewacher des Baldenhortes eine größere Gelassenheit als bei ihrem ersten Besuch aus? Von ihr selbst konnte man das nicht gerade behaupten. Nervös nestelte Raizel an den Kordeln ihres Kapuzen­pullis herum. Aus dem Inneren des Turmes drang ein Summen wie aus einem Bienenstock.

»Na, worauf wartest du denn, Mädel? Mach die Pforte auf«, forderte Cendro. Langsam näherte sich ihre Hand dem Tor aus ineinander verwobenen Ästen. Wieder öffneten sie sich raschelnd bei ihrer Berührung und ließen die Besucher eintreten. Vor ihnen erstreckte sich derselbe Saal wie am Morgen, aber er wirkte doch irgendwie verändert. Statt warmer Farben dominierten türkisblaue Schattierungen den Raum, der wie im Mondschein phosphoreszierte. Das Summen rührte vom Gesang unzähliger Balden her, die auf beiden Seiten des Saales saßen. Zum größten Teil hatten sie es sich im Schneidersitz in der Luft bequem gemacht. In ihrer Mitte ließen sie einen Pfad frei, der auf eine Erhöhung am gegenüberliegenden Ende des Raumes zulief. Raizel dachte an Raum aus Mangel an passenderen Ausdrücken, auch wenn die aus ihrer Welt vertrauten Gesetze von Raum hier ausgehebelt schienen. Was von außen wie eine Ansammlung von Bäumen wirkte, entpuppte sich im Innern als geräumiger Saal, gleich einer Wundertasche mit fantastischem Füllvermögen.

Nach wenigen Schritten blieb sie stehen. Doch alle schienen darauf zu warten, dass sie irgendetwas tat. Auch der Gesang war mittlerweile verstummt. Also schritt sie – denn einfach zu gehen war in dieser Umgebung unmöglich – zwischen den Baldenreihen hindurch auf die Erhebung zu, die sich als Thron entpuppte. Darauf saß die Kurzhaarige, die sie früher am Tag gebürstet hatte. Die Königin der Balden. Ihre Haare schimmerten diesmal in standesgemäßem Gold.

Ihr zur Seite standen zwei gut gebaute männliche Balden mit grimmigen Gesichtsausdrücken, die wohl die königlichen Wächter waren. Doch auf einmal verzog der eine das Gesicht und fing erst leise an zu glucksen, um dann in ein glockenhelles Gelächter auszubrechen.

»Verzeih, Manjfee, mir kommt das alles so albern vor, diese Thronmasche, wie lächerlich!« Um die Mundwinkel der Angesprochenen zuckte es, und auch im Saal kicherten mehrere Balden.

»Du hast wahrlich recht, Fangon«, sagte die Königin. Sie wandte sich an Raizel und bemühte sich offenbar, ihren Dialekt zu unterdrücken. »Willkommen im Nachttannenturm. Entschuldige, wenn wir dich nun noch mehr verwirrt haben. Nachdem wir dich heute Morgen so erschreckten, wollten wir es wiedergutmachen und dir einen Empfang bereiten, wie ihn Menschen aus deiner Welt erwarten würden.«

Aus deiner Welt – Die Baldenkönigin hatte nur das ausgesprochen, was Raizel längst wusste, denn es musste es sich hier um eine fremde Welt handeln. Bei sich zu Hause hatte sie jedenfalls noch nie eine lebensechte Elfe gesehen, geschweige denn eine Baldin. Und dennoch schockierten Manjfees Worte sie empfindlich. Jetzt erschienen sie plötzlich so real zu sein, all diese verrückten Wundersamkeiten. Raizel wollte etwas fragen, aber Manjfee kam ihr zuvor, indem sie sich an Cendro wandte.

»Vielen Dank, dass du sie gefunden – und dabei auch gleich meine Balden zurückgebracht hast.«

Die Bewohner des Turmes hatten einen Halbkreis um Manjfee und Raizel gebildet, in den sich auch Kalfa, Selp und Wribo eingereiht hatten. Kalfa lächelte ein wenig ertappt, während Cendros Kinn voller Stolz mit den Nachttannen um die Wette in die Höhe stieg.

»Lass dich nieder«, sagte Manjfee und schwebte von ihrem Pseudo­thron herunter. Raizel sank in einen Berg weinroter Kissen ein, während die Baldin ihr gegenüber kurz über dem Boden in der Luft Platz nahm. Raizels Herz begann schneller zu schlagen.

»Du wirst ja sicher schon bemerkt haben, dass hier nicht alles so ist, wie du es aus deiner Welt gewohnt bist«, sagte Manjfee mit ruhiger, einschmeichelnder Stimme und spitzte ihre ohnehin langen Ohren. Dabei wirkte sie zugleich kindlich und majestätisch.

»Du kannst dir sicher sein, nicht zu träumen, dies hier ist die Realität. Sogar auf einer höheren Ebene als der, die du bisher kanntest. Spitz deine Ohren, Werteste. Die menschlichen Nerven sind zwar nicht sehr belastungsfähig, aber wir halten dich für tough genug, um das Folgende zu vernehmen, ohne gleich den Abgang zu machen.« Da war sie wieder, diese merkwürdige Mischung aus Ghettosprache und altertümlichen Wendungen, die Raizel schon bei Kalfa aufgefallen war. Manjfee schien die charakteristische Sprache der Balden jedoch für diesen Anlass nicht als geeignet zu erachten, denn sie runzelte die Stirn, als sie sich selbst sprechen hörte. Danach fuhr sie mit normalen Worten fort, die nur bisweilen vom Baldenjargon unterwandert wurden.

»Dein gesamtes Weltbild wird auf den Kopf gestellt. Denn höre: Alles, was du bisher als Realität erachtet hast, wurde in dieser Welt erschaffen.«

»Wie denn das?«, entfuhr es Raizel.

»Präge dir jedes einzelne Detail genau ein. Also, das Wichtigste zuerst: Ein unbekannter Autor hat hier im Reich der Balden einen Roman namens Imaginate geschrieben und darin eine Erde entworfen, in der Magie kaum eine Rolle spielt. Das ist für uns hier so fürwahr unglaublich und krass fantastisch, dass das Buch zum Bestseller geworden ist. Diese Vorstellung, den ganzen Tag ohne einen einzigen Zauber durchstehen zu müssen …« Manjfee schüttelte sich, was bei ihr irgendwie anmutig aussah. Ihre Haare wurden für einen Moment giftgrün, wie um die Gefühlsregung der Baldenkönigin sichtbar zu machen. Sie fuhr fort:

»Ihr magielosen Wesen müsst wirklich über außerordentlich starke Nerven verfügen. Auch in unserer Welt ist nicht jeder mit Zauberkraft gesegnet, aber man kann im Notfall stets zum nächsten Gute-Fee-Laden laufen und sich drei freie Wünsche kaufen. Du, Raizel, bist als literarische Figur besonders interessant, weil du nach dem strebst, was dir verwehrt ist. Ein epischer Grundkonflikt. Du träumst davon, …«

Als literarische Figur?, dachte Raizel. Wovon sprach die Balden­königin da bloß? Sie konnte ihren Worten nur mühsam folgen.

»Du träumst davon, die Grenzen zwischen Realität und Fantasie neu auszuloten, mit einem Blick die Welt zu verändern. Kurz: Von der Grundeinstellung her passt du eigentlich ganz gut in die Baldenwelt, deshalb können sich die Leser mit dir identifizieren. Dein Alltag wiederum unterscheidet sich so erfrischend von dem unsrigen, dass die Lektüre stets spannend bleibt. Wir waren zum Beispiel alle völlig fassungslos, wie eine zivilisierte Gesellschaft auf die Idee kommen kann, ein Studio voller fürchterlicher Maschinen zu erfinden, um den Körper zu formen. Und dafür auch noch Geld zu verlangen, indem man einen Kult daraus macht. Fitness, dieses Wort gibt es bei uns nicht einmal. Geradezu putzig!«

Raizel musste sich plötzlich Cendro auf dem Laufband vorstellen und schmunzelte. Dann begann sie langsam zu realisieren, dass die Königin der Balden über sie wie über eine Fiktion sprach. Das war doch völlig surreal!

»Wollen Sie mir damit sagen, dass ich eine Romanfigur bin? Das Gleiche könnte ich von Ihnen behaupten!« Und Raizel dachte im Stillen weiter: Das ist wieder mal nur ein sehr lebhafter Traum, jetzt wird es wirklich langsam Zeit, um aufzuwachen.

Doch Manjfee verflüchtigte sich nicht wie eine anständige Vision.

»Keine unnötigen Höflichkeitsformen bitte. Die Sie-Form wurde hierzulande schon lange abgeschafft. Diese Initiative ging übrigens auf ein Inselvolk aus Rumpelwichten zurück, das jedem Fremden gleich das Du anbot …«

Raizel unterbrach sie mit einem Wortausbruch.

»Ich will jetzt nicht über irgendwelche Wichte reden!«

Manjfee musterte sie mit mitleidigem Blick. »Das muss ein ganz schöner Schock für dich sein. Willst du lieber drüber schlafen und wir fahren später fort?«

»Wie sollte ich jetzt schlafen? Also bitte quält mich nicht länger. Was wollt ihr mir über meine Welt erzählen? Was hat dieses Buch mit mir zu tun? Weshalb bin ich hier?«

Manjfee holte tief Luft. Raizel konnte es nicht erwarten, endlich alle Details dieses Geheimnisses zu durchdringen, aber jeder Satz enthüllte quälend langsam nur ein winziges Puzzleteil. Und warf unzählige neue Fragen auf.

»Wie deine Welt durch dieses Buch geschaffen wurde, weiß niemand so genau. Nicht einmal wir allwissenden Balden, denen sonst nichts verborgen bleibt.« Manjfee runzelte für einen Moment die Stirn, als würde sie sich selbst darüber wundern, nicht auf jede Frage des Universums eine Antwort parat zu haben.

»Tatsache ist, dass mit jedem Wort, mit jedem Satz von Imaginate ein Teil deiner Welt geschaffen wurde.«

Manjfee gab Raizel einige Momente, um das Gehörte zu verdauen. Aber so schnell ging das nicht. Plötzlich kam ihr ein Verdacht: Hatte sie sich etwa beim Sturz von der Leiter das Genick gebrochen, lag jetzt auf dem Boden der Bibliothek und hauchte ihr Leben aus? War all dies nur ein Streich, den der Geist ihr spielte, um den Übergang zu erleichtern? Den Übergang in den Tod?

»Bin ich …«, setzte sie an.

»Nein, Lütte, du weilst noch unter den Lebenden«, sagte Manjfee, die offenbar ihre Gedanken erraten hatte und für einen Moment in den Baldenslang verfiel.

Raizel knetete unwillkürlich eins der weinroten Kissen, auf denen sie saß. Sie weigerte sich einfach, das zu glauben. Ihre Familie, ihre Freunde, ihr Brötchenverkäufer und der süße Typ, der gerade in die Wohnung neben ihrer Wohngemeinschaft eingezogen war – die sollten alle eine Art Scheinexistenz wie in dem Film Matrix führen? Zur Erbauung von Lesern, die sich danach drei Wünsche bei der Fee um die Ecke holten und sich freuten, dass sie im Gegensatz zu den bemitleidenswerten Romanfiguren in einer magischen Welt lebten? Das klang wie ein schlechter Scherz. Was vielleicht erklärte, weshalb sie in hysterisches Gelächter ausbrach.

»Ihr habt alle zu viele Tannennadeln geraucht! Weshalb lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe?!«

Manjfee antwortete nicht, sondern betrachtete sie bloß mit ruhigem Blick. Das machte Raizel erst recht rasend.

»Na klar, und ich bin die Romanheldin und soll jetzt hier mit meinen Fans auf Tuchfühlung gehen. Oder was?« Raizel befand sich noch in der Leugnungsphase.

Diesmal kam die Antwort sofort. »Ja, genau. Du bist die Haupt­figur von Imaginate. Das ganze Universum kreist um dich.«

»Was?« Dieses einzelne Wort stieß Raizel noch blitzschnell hervor, dann schwieg sie erst einmal eine ganze Weile lang. Dafür brodelte es in ihrem Innern umso lauter, sie fühlte sich zugleich überhitzt und ausgekühlt, todmüde und hellwach. Ihr Leben sollte also im wahrsten Sinne des Wortes vorgeschrieben sein. Aber ihre Gefühle in diesem Moment konnten doch nicht von jemand anderem erdacht sein? Ihre Gedanken bloße Schriftzeichen? Je pense, donc je suis. Cogito ergo sum, wie hatte diese Schlussfolgerung des französischen Philosophen Descartes sie stets begeistert.

Natürlich dachte sie nichts dergleichen in diesem Augenblick. Wenn einem jemand erzählt, die Welt, die man von Geburt an kennt, sei eine Fiktion aus einer Märchenwelt – dann bleiben die Philosophen zu Hause und man fragt sich, ob man verrückt ist, träumt oder zu viele Drogen konsumiert hat. Oder alles auf einmal.

Manjfee bedeutete einem der Balden, näher zu kommen. Er balancierte ein Tablett mit einer Art Pastete.

»Hier, stärke dich erst mal und nimm ein Stück Mameling.«

Beim Anblick der Speise lief Raizel das Wasser im Mund zusammen. Immerhin wusste sie jetzt, dass sie noch am Leben war. Nur einen winzigen Moment zögerte sie – aber wenn die Balden ihr an den Kragen wollten, hätte es einfachere Wege gegeben, als sie zu vergiften. So biss sie heißhungrig in die warme Teigmasse. Der Geschmack meldete sich in drei Stufen: Es begann mit einem Zitrusaroma, gefolgt von einem ihr unbekannten Kraut und mündete in einem herrlichen Gemüseeintopffinale. Etwas derart Köstliches hatte Raizel noch nicht gegessen. Wer etwas so Wunderbares buk, konnte kein ganz schlechter Mensch sein. Oder Balde. Ohne zu fragen, nahm sich Raizel noch ein großes Stück. Manjfee fuhr derweil fort.

»Freut mich, dass es dir schmeckt! Also zurück zum Thema: Der Weltentwurf ist nur ganz grob in diesem Buch vorgezeichnet. Ihr Menschen habt euer Schicksal selbst fortentwickelt. Nicht jedes Ereignis ist festgeschrieben, nicht einmal zu einem Bruchteil. Dann müsste das Buch schließlich unendliche Dimensionen umfassen. Es ähnelt ein bisschen der Theorie, die einige der Theologen aus deiner Welt über deren Erschaffung haben: Nach dem einmaligen Schöpfungs­akt konnten die Menschen den Fortgang der Geschichte selbst bestimmen.«

Raizel kämpfte mit all den Informationen.

»Aber wenn ich die Hauptfigur bin und der Roman erst dann einsetzt, was ist mit der Vergangenheit? Hat die gesamte Erdgeschichte nie wirklich stattgefunden?«. Raizel war aus der Leugnungs- in die Fragephase gewechselt.

»Doch«, antwortete Manjfee. »Das ist ein bisschen kompliziert. Die Vergangenheit hat sich vom Zeitpunkt der Schöpfung aus rückwärts entwickelt. So hat es genau die richtigen Entwicklungen gegeben, die zu deiner Gegenwart passen. Damit die Menschen nicht so verwirrt sind und sich allzu wurzellos fühlen.«

Die Baldenkönigin registrierte Raizels ratlosen Blick.

»Kein Wunder, dass du das nicht verstehst. Es widerspricht ja auch allen rationalen Gesetzen deiner Welt. Wichtiger als die Vergangenheit ist ohnehin die Zukunft. Die hängt allein von den Menschen selbst ab – es sei denn, es wird wieder eingegriffen.«

Es dauerte einen Moment, bevor Raizel zu einer Erwiderung fähig war. Danach keuchte sie: »Eingegriffen?«

»Ja, in Form von Fortsetzungsromanen. Diese erscheinen unregelmäßig und geben dem Verlauf der Dinge wieder eine neue Wendung.«

Eine Frage brannte Raizel schon lange auf der Zunge. Nun bot sich vielleicht endlich die Möglichkeit, eine Antwort zu bekommen.

»Wie bin ich denn in diese Welt gekommen? Steht das auch im Buch?«

Über Manjfees Gesicht huschte für einen kurzen Moment ein Schatten der Enttäuschung, und die versammelten Balden murmelten etwas Unverständliches.

»Nein, das ist es ja gerade. Wir hatten ehrlich gesagt gehofft, du könntest uns das sagen.« Manjfee hob Raizels Kinn mit ihrer Hand an und lächelte. »Hey, mach dir keine Sorgen. Wir werden es schon ergründen. Und du kannst uns bestimmt dabei helfen. Aber jetzt solltest du dich zunächst ausruhen und all die Informationen verarbeiten. Cendro, du kümmerst dich um sie?«

»Aber selbstverständlich«, säuselte der Schornsteinreiter einschmeichelnd. »Ich hätte da nur noch eine kleine Bitte …« Dabei zog er die Kiste hervor, die sie aus seiner Wohnung mitgenommen hatten. Als er sie auf den Boden stellte, erhob sich eine Rußwolke. Cendro lüftete den roten Deckel und brachte eine silberne Maschine zum Vorschein. »Dieses Gerät macht den besten Korfu, den ihr euch vorstellen könnt. Raizel, der ist noch besser als euer feinster Bohnen­kaffee. Ohne Korfu würde ich morgens niemals aus dem Bett kommen. Nur, als ich neulich übermütig den Schornstein hinunterrutschte, bin ich leider genau auf der Maschine gelandet. Und nun funktioniert sie nicht mehr. Könntet ihr vielleicht …«

»Mein teuerster Bro, unsere Power ist für solch eine periphere Profanität eigentlich voll zu schade, ey«, sagte Manjfee, in den Balden­jargon zurückfallend. Der Schornsteinreiter grinste verlegen und nickte.

»Aber du hast fürwahr Glück, Alter«, fing die Baldenkönigin an. Sie hielt inne, schien sich die Worte zurechtzulegen und fuhr dann in normaler Sprechweise fort: »Selp und Wribo sind gerade in der Ausbildung, und es wird nicht zu ihrem Schaden sein, wenn sie sich mal an deiner Maschine versuchen.« Während sie gesprochen hatte, waren die Jungbalden bereits nach vorne gekommen und flogen aufgeregt um die Kiste herum.

»Cool, famos«, riefen sie gleichzeitig, froh, endlich mal außerhalb der Balden-Elementarschule ihr Wissen anwenden zu können. Sie schauten zu Manjfee hin. Als diese nickte, stellten sie sich je auf eine Seite des Geräts und pusteten im selben Augenblick in die Mitte. Raizel war ein bisschen enttäuscht. Kein Feuerwerk kündete von der neu erlangten Wirkkraft, keine Fanfaren ertönten. Es sah alles aus wie vorher. Dennoch zweifelte sie keinen Augenblick daran, dass der Wiederbelebungsversuch gelungen war. Cendro nahm seinen Apparat beinahe ehrfürchtig und mit tausend Dankesworten entgegen. Dann wandte er sich zum Gehen. Jetzt war die Audienz bei der Balden­königin also schon vorbei.

Am Ausgang drehte Raizel sich noch einmal um. Kalfa war zu Manjfee geflogen und flüsterte: »Als wir unterwegs waren, um Raizel zu suchen, haben wir sie zwar erst spät gefunden, dafür haben wir etwas von gewisslich derber Importanz erspäht …« Da schubste Cendro Raizel nach draußen und sie konnte nicht mehr hören, wie das Gespräch weiterging.

In der Zwischenzeit war es draußen dunkler geworden und ein früher Mond hüllte den Nachttannenturm in sein unwirkliches Licht. Diesmal waren sie nicht allein auf dem Platz mit den Pflastersteinen, es tummelten sich dort die unterschiedlichsten Kreaturen: Hexen mit Körben voller roter Äpfel, Zentauren mit freiem Oberkörper und aufgespießten Brezeln auf ihren Hörnern, Riesen mit winzigen Schokoladen­törtchen.

»Wo wollen sie alle hin?«, fragte Raizel.

»Ach ja, heute Abend ist Nachttannentanz. Ein Volksfest mit Naschmarkt. Du solltest eins dieser Schokotörtchen probieren … Oder besser nicht, wir sollten nicht zu lange bleiben. Es darf ja keiner merken, dass du die Raizel aus dem Roman bist. Das würde zu einer Massenhysterie führen. Das wäre so, als ob Frodo aus Herr der Ringe plötzlich wahrhaftig vor dir stehen würde, der Held deines Lieblingsbuches.«

»Du kennst Herr der Ringe?«, fragte Raizel ungläubig.

»Klar, kommt im Roman vor. Der Autor hat es sich sehr einfach gemacht und bloß eine alte Sage aus unserer Welt ein wenig umgeschrieben. Die Tollkühn-Legende wird hier jedem Kind erzählt, noch ehe es den ersten Zahn bekommt.«

Raizel drängte sich eine Frage auf. »Gibt es hier etwa auch Hobbits?«

»Tssss, als wenn alle Fantasiewelten gleich wären«, antwortete Cendro. »Außerdem ist es ja genau andersrum, du kommst aus dem Reich der Fantasie und das hier ist die Wirklichkeit.« Er schmiss den Phönix an. Raizel hatte weiterhin Schwierigkeiten, sich ihre Welt als eine Fiktion vorzustellen. Müsste es dann nicht wie in einem Roman ein Sinngefüge geben, in das sich all die Geschehnisse auf Erden fügten? Hatte etwa auch ihr eigenes Leben eine höhere Bedeutung? Das musste sie unbedingt herausfinden. Der Schornsteinreiter plapperte unterdessen munter weiter.

»Da ich befürchte, dass du die rußige Gemütlichkeit in meiner Wohnung nicht zu würdigen weißt, fliegen wir jetzt zu deiner Unterkunft. Aber du bist ja ganz blass.« Cendro strich ihr mit einem Finger über das Gesicht und hinterließ dabei einen fetten schwarzen Strich auf der Wange.


Vermicelli lehnte sich zufrieden in seinen Lehnstuhl zurück und atmete entspannt aus. Die Musikcombo hatte sich bis zum nächsten Tag verabschiedet, alles war hergerichtet und eben hatte im letzten Augenblick der Ehrengast zugesagt. Angeblich ein Freund des anonymen Autors. Vermicelli hielt ihn insgeheim für einen Hoch­stapler, doch solange die Fans an die Geschichte glaubten, sollte es ihm recht sein. In Gedanken an die bevorstehende Party verloren, knabberte der Bücherwurm an dem philosophischen Standardwerk Die Unendlichkeit des Nichts, was ihm erst auffiel, als er sich schon bis zu Seite vierunddreißig durchgearbeitet hatte. »Na ja, passt ja zum Titel. Und zur Feier des Tages kann ich mir mal was gönnen«, beschloss der Bücherwurm und nahm beherzt die Seite fünfunddreißig in Angriff.


Die Balden waren von Raizels Erscheinen in ihrer Welt überrascht worden. Sie hätten vielleicht nicht einmal davon erfahren, wäre da nicht ein uraltes Begrüßungssystem im Keller des Nachttannenturms. Es erzeugte ein durchdringendes Klingeln, sobald ein Wesen aus einer fremden Dimension sich dem Platz vor dem Baldenhort näherte, damit die fremden Gäste angemessen empfangen werden konnten. Solche Besuche waren früher an der Tagesordnung gewesen, aber aus unerfindlichen Gründen hatten die Reisen zwischen den Welten schon vor einigen Balden-Generationen aufgehört.

So lange war die Begrüßungsanlage ungenutzt geblieben, dass sie in Vergessenheit geraten war. Selbst Manjfee wusste nichts davon. Bis es eines Tages im tiefsten Keller des Nachttannenturms zu klingeln begann. Der Klang schallte durch den ganzen Baldenhort. Und als Kalfa dem störenden Geräusch auf den Grund gegangen war, war sie auf die Begrüßungsanlage gestoßen. Sie hatte eine Zeichnung von Raizel ausgespuckt.

Die Balden standen vor einem Rätsel, ehe sich eine junge Baldin als Imaginate-Fan outete und schüchtern anmerkte, das Bild gleiche ihrer Lieblingsprotagonistin: ein weiblicher Mensch von Mitte zwanzig, rote Lockenmähne, mittlere Größe und Statur, schlichter goldener Ring mit grünem Stein an der linken Hand, meerfarbene Muschelohrringe, rot lackierte Fußnägel. Letzteres konnte man auf der Zeichnung natürlich nicht erkennen, aber die junge Baldin wollte mit ihrem umfassenden Wissen glänzen. Zur gleichen Zeit meldeten Sibo und Wrelp, die von einem Ausflug zurückkamen, dass eine junge Frau auf dem Platz vor dem Nachttannenturm aufgetaucht war.

Die meisten Leser hielten Imaginate für eine Fiktion. Eine Welt ohne Magie war auch einfach zu fantastisch, um real zu sein. Aber die Balden wussten ziemlich viel, schließlich waren sie Balden. Dazu gehörte auch der Umstand, dass ein Buch aus ihrer Welt eine andere erschaffen hatte. Wenngleich selbst sie nicht wussten, wer der Autor oder die Autorin war. Manjfee hatte in Windeseile die betreffenden Absätze im Roman nachgelesen und war zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der Besucherin in der Baldenwelt tatsächlich um Raizel handelte. Kurz nach dieser Erkenntnis hatten sie und der Gast aus der Menschenwelt sich bereits im Nachttannenturm gegenübergestanden.


»Ist das wahr?!« Frips verschluckte sich beinahe an dem feurigen Kartoffelauflauf mit viel Chili und Knoblauch, den es zum Abendessen gab. Neben den obligatorischen Leberwurstknäckebroten für den Tulfo. Der Koboldjunge setzte nach: »Sie wird hier übernachten?« Lille Brantock steckte sich gelassen den nächsten Bissen in den Mund, zog wegen der Schärfe kurz die Luft durch die Nase und nickte.

»Irgendwo muss selbst sie schlafen, nicht wahr? Und hier wird sie wohl niemand vermuten. Und das soll auch so bleiben!« Ihr Gesicht wurde plötzlich ganz ernst, sodass Frips ein bisschen erschrak. »Ihr müsst es also für euch behalten, in Ordnung?«

»Pfft, die Balden werden sie schon ausarmend beschützen«, versuchte Polpo aufzutrumpfen.

»Ausreichend, heißt das. Und woher weißt du, dass sie bei ihnen war?«, fragte Lille.

»Ein Tulfo gibt seinen Geheimnissen niemals einen Preis«, entgegnete Polpo mürrisch. Mit jeder Gabel Auflauf und jedem Bissen Leberwurstknäckebrot mit Gurke verflog die schlechte Laune. Frips war kaum den Nachtisch holen gegangen, da stürmte er schon wieder zurück ins Wohnzimmer. »Sie kommen, ich habe sie durchs Fenster gesehen!«


Gilbo zwirbelte seinen Bart. Die meisten Zwergenklischees sind nichts als Vorurteile. Zum Beispiel, dass sie rote Mützen tragen, zu siebt in Wohngemeinschaften leben und den Sinn ihres Daseins darin sehen, in Bergwerken zu ackern. Einige treffen hingegen zu. Zum Beispiel ihr Faible für lange Bärte oder auch, dass Zwerge im Allgemeinen nicht besonders groß werden. Gilbo zwirbelte also seinen Bart, während er angestrengt auf die Buchstaben vor ihm starrte. Imaginate – die Überschrift konnte er bereits lesen. Quälend langsam schleppte er sich zu jedem neuen Schriftzeichen und verfluchte dabei seine fehlende Übung im Lesen der menschlichen Schrift. Man hätte das Buch aber auch wirklich auf Zwergisch übersetzen können, schließlich war es in mindestens fünfundfünfzig Sprachen übertragen worden. Wenn das hier alles einmal vorbei sein sollte – er seufzte bei diesem wundervollen Gedanken –, dann könnte er sich vielleicht als Übersetzer eine goldene Nase verdienen.

Gilbo genehmigte sich eine kurze Pause, einen Zug aus seiner Krötenpilzpfeife und eins seiner Lieblingsplätzchen mit Pfefferminz­geschmack. Müdigkeit überfiel ihn, und er schloss die Augen. Da war er wieder, der Schatten in seinem Geist. Es fing an, in seinem Ohr zu tuckern. Gilbo konzentrierte sich darauf, an das letzte Zwergen­festival auf der Mondscheinwiese und an durchtanzte Nächte zu denken. Das Buch und alles, was dazugehörte, verbannte er vorerst aus seinen Gedanken.


Raizel saß auf dem Fenstersims des brantockschen Hauses und betrachtete die in dunkle Tinte getunkte Umgebung. Wie Cendro ihr vorhin in einem Geografie-Crashkurs erklärt hatte, bestand das Zentrum von Baldorg aus neun Straßen, die alle sternförmig auf den Platz mit dem Nachttannenturm zuliefen. Der Baldenhort bildete somit das Herz des Städtchens, das von einer uralten Schutzmauer umgeben war, die heutzutage nur noch als Leinwand für kunst­begeisterte Jungbalden diente. Der Waldpfad führte zu einem verwitterten Tor, jenseits dessen sich das weite Umland erstreckte. Raizel stellte sich dabei eine Art Märchenwald vor. Dort warteten bestimmt noch weitere Abenteuer, aber vorerst reichte ihr diese kleine Stadt vollkommen aus. Cendro wohnte in der Schnipselgasse, ein paar Häuser neben dem Bücherladen von Vermicelli. Der Bücherwurm sammelte anscheinend seit Langem Unterschriften für eine Umbenennung in Erfolgsautoren-Allee. Cendro dagegen fand Rußweg viel attraktiver. Es gab außerdem noch ein Zuckerguss-Gässchen, einen Utopieweg und eine Magie-Allee.

Die Koboldfamilie wohnte standesgemäß in der Schabernackgasse. Lille und Frips Brantock waren Raizel eben beim Abendessen allerdings so gastfreundlich erschienen, dass Raizel nicht das Gefühl hatte, auf der Hut sein zu müssen – wie es bei Kobolden traditionell angebracht gewesen wäre. So wurde es in den Geschichten erzählt, die Raizel während ihres Literaturstudiums gelesen hatte. Da musste sich der Autor oder die Autorin von Imaginate bei der Beschreibung von Kobolden einige Freiheiten erlaubt haben.

Frips hatte den Gast angestarrt, wenn er sich unbeobachtet fühlte, und das bizarre Haustier namens Polpo hatte jedes Mal beleidigt gegrunzt, wenn Raizel sich noch eine große Portion auf den Teller geladen hatte. Die Reise ins Baldenland hatte sie hungrig gemacht.

Nun war Raizel das erste Mal allein, seit diese Geschichte begonnen hatte, und ihre Gedanken spielten verrückt. Sie wunderte sich, warum die Bewohner dieser Welt so versessen waren nach einem Buch mit ihr als Hauptperson. Sie haderte mit dieser ihr zugewiesenen Rolle, denn als Protagonistin hatte man schließlich eine gehörige Verantwortung. Normalerweise stach der Held einer Geschichte aus der Menge heraus, hatte irgendwelche besonderen Fähigkeiten oder war wenigstens ganz ohne Eigenschaften. Ihr Leben war hingegen schändlich normal gewesen, ehe sie auf dem Platz vor dem Nachttannenturm gelandet war. Schule, Studium, ein paar Schwärmereien. Nicht gerade der Stoff, aus dem Bestseller sind, würde man denken. Doch vielleicht galt gerade das hier als exotisch. Merkwürdig, dass in der Baldenwelt Magie an der Tagesordnung war, ein stinknormaler Einkauf im Supermarkt hingegen ein spannendes Unterfangen.

Auch nach dem Gespräch mit Manjfee blieben noch so viele Fragen offen. Würde sie jemals wieder in ihre Welt zurückkehren? Sie dachte an ihre jüngeren Geschwister und ihre Eltern und fühlte ein Stechen in der Herzgegend. Sie konnte sich nicht vorstellen, sie niemals wiederzusehen. Das wäre einfach zu schrecklich, undenkbar. Also konzentrierte sie sich eher auf eine Frage, die eine seltsam angenehme Unruhe in ihr hervorrief: Welche Rolle spielte dieser Typ aus der Gasse? Denn eine Rolle schien hier wie im Roman jedem zugeteilt zu sein, nichts war zufällig. Vermutlich nicht einmal dieser Moderduft des Hauses, der seltsam anheimelnd bis in den fünften Stock hinaufwehte und sich mit dem Flieder vermischte, der vor Raizels Fenster hinaufwuchs. Daraus braute die Brantockfamilie ihren Flieder­wein, der laut Lille bis über die Stadtgrenzen bekannt war. Der Strauch kitzelte den Dachfirst, der sich direkt über ihr erstreckte. Direkt über ihr. Einer plötzlichen Eingebung folgend streckte sie ein Bein nach dem anderen durch das Fenster und krabbelte das Dach hinauf bis zum Giebel. Drüben ging es steiler bergab, Frips hatte ihr erzählt, dass er dort manchmal in einen Heuhaufen hinunterrutschte. Mit ihren bloßen Füßen ertastete Raizel die Kante und richtete sich Gleichgewicht suchend auf. Sie war die Königin der Nacht! Behutsam balancierte sie über das Dach, wurde wagemutiger, drehte sich im Kreis, setzte zu einem Sprung an …

»Nicht schlecht, was meinst du?«, flüsterte eine Stimme.

Raizel erschrak so sehr, dass sie beinahe vom Dach gefallen wäre. Aber sie war in letzter Zeit schon eindeutig zu oft gefallen, und so fing sie sich wieder, setzte sich zur Vorsicht breitbeinig auf den Dach­giebel. Wer hatte da gesprochen? Sie sah nur kleine Lichter, die vor ihrer Nase in der Nachtluft tanzten.

»Warum hört sie auf?«, erklang es enttäuscht und die Lichter wogten.

»Seid ihr das, die sprecht?« fragte Raizel. Jetzt redete sie schon mit dem Licht.

»Uuu, sie hat eine schööne Stimme, so tief«, wisperte es. Die Lichter stoben auseinander, als die Nachtruhe von einem Quietschen gestört wurde. Lille Brantock streckte ihren Kopf durch ein weiteres Dachfenster, das zum Schlafzimmer der Koboldeltern gehören musste.

»Lass dich bloß nicht von den Neonmücken bezirzen«, sagte sie. »Die umgarnen dich mit ihrem Geplapper und ihrem Licht, und dann stechen sie zu.« Neonmücken also waren das gewesen, die ihre nächtliche Akrobatik kommentiert hatten. Raizel hatte noch viel über diese Welt zu lernen. Die Koboldmutter setzte hinterher: »Du solltest ins Bett gehen. Morgen müssen wir früh aufstehen.«


Flups, ein dicker Klumpen Brei löste sich von Frips Löffel, der diesen falsch herum gehalten hatte. Sein Mund stand zwar offen, aber er war nicht wirklich zur Nahrungsaufnahme bereit. Das lag daran, dass er den Gast, der eben gähnend und noch im Nachthemd die eng gewundene Treppe heruntergekommen war, ohne Unterlass anstarrte. Nun wurde seine Aufmerksamkeit von dem orangefarbenen Breifleck auf seiner braunen Hose in Anspruch genommen. Die roten Ohren des Kobolds bogen sich missmutig nach vorne. Sein Vater, Grindu Brantock, war am Tag zuvor noch bei der Arbeit gewesen, als Raizel eingezogen war. Jetzt sagte er zum neuen Gast:

»Willkommen im Eckhaus, Mädchen. Fühl dich ganz wie daheim.«

Das fiel Raizel nicht weiter schwer. Nachdem sie drei Teller des Schokobreis gelöffelt hatte, der von einer unbekannten Frucht mit herber Note aromatisiert wurde, fühlte sich ihr Bauch wohlig warm gefüllt an. Dann blätterte sie neugierig in der Zeitung Nachrichten aus Nirgendwo, die bislang vom Koboldvater in Beschlag genommen worden war. Ob Zeitungen hier ähnlich funktionierten wie in ihrer Welt? Der Aufmacher lautete: Neues Handelsabkommen zwischen Berg­riesen und Talzwergen lässt den Goldwert in die Höhe schnellen. In der Rubrik Vermischtes wurde von einem Mädchen berichtet, das sich auf dem Weg zu seiner Großmutter im Wald verirrt hatte. Erkennungszeichen: rote Mütze. In der Kolumne Hexes Haushaltstipps wurde vor übermäßigem Lebkuchen­verzehr gewarnt und in den Kleinanzeigen suchten sieben Zwerge an einem entlegenen Ort eine Haushälterin bei freier Kost und Logis. Voraussetzung: Haare aus Ebenholz und Haut wie Schnee. Raizel hätte gern noch weitergelesen, aber Frips tippte aufgeregt auf eine Annonce, die beinahe die gesamte Seite einnahm: Releaseparty! Langersehnt und druckfrisch: Imaginate – Band 66, stand dort. Und in roten Lettern war schräg über das Blatt geschrieben: Überraschungsgast!!!

»Das ist heute!«, rief Frips aufgeregt. »Wer ist bloß dieser Überraschungsgast?« Der Kobold stoppte seinen Satz abrupt. »Oh Mann, vielleicht der Autor selbst. Das wäre ja total cool!« Grindu lächelte über den Enthusiasmus seines Sohnes, ehe er sich wieder in den Sportteil der Zeitung vertiefte. Die Klabautermänner hatten die Heinzelmännchen im Rudern besiegt. Heimvorteil.

Frips fuhr an Raizel gewandt fort.

»Gehst du mit mir hin?«

»Würde ich ja gern, aber mein einziger Pullover ist zerrissen.« Raizel trug noch das lindgrüne Nachthemd, das Lille Brantock ihr vorerst geliehen hatte. Es war ihr viel zu klein, weil Menschen nun einmal größer als Kobolde waren.

Als Lille Brantock das enttäuschte Gesicht ihres Sohnes sah, sprang sie ein. »Komm, wir schauen mal in meinem Schrank nach.«

Die Kleidung der Koboldmutter war komplett grün: Ihre Röcke, Pullover, Kleider und Hosen hatten die Farben von Avocado, Moos, Spinat, oder Smaragden – für festliche Anlässe. Die Kleidung harmonierte mit der von Natur aus leicht grünlichen Haut der Kobolde und diente draußen in der Natur zur Tarnung, auf die Kobolde aus Tradition viel Wert legten. Selbst wenn sie wie die Brantocks längst nicht mehr in einer Höhle im Wald lebten.

Kurze Zeit später betrachtete sich Raizel in einem mit goldenen Rosen umkränzten Spiegel. Sie trug ein pistazienfarbenes Kleid mit Trompetenärmeln, am Busen gerafft und mit einem braunen Gürtel um die Hüften zusammengehalten. Das Kleid, eigentlich bodenlang, reichte bei der neuen Trägerin nur bis knapp unter den Po. Lille lieh ihr für den Weg noch ein tiefgrünes Cape mit Kapuze, wie sie auf Mittelaltermärkten getragen wurden. Komisch, dass die Bewohner magischer Welten sich stets im selben Stil kleideten.

Als sie mit dem Kobold gerade das Haus verlassen wollte, wurde sie von dem Tulfo aufgehalten. »Bringst du mir ein Buch von Shakespeare mit?«, bat er. »Ich will meine dichterische Destruktivität tranchieren!«

Raizel starrte das merkwürdige Haustier verwirrt an.

»Er meint: dichterische Kreativität trainieren. Er verwechselt manchmal ein paar Wörter«, flüsterte ihr Frips zu.

»Und Shakespeare gibt es hier auch?«, fragte Raizel neugierig.

»Ja«, antwortete Frips. »Er ist Multimillionär, hat sich aufs Land zurückgezogen und lässt sich von mehreren Psychologen wegen seiner multiplen Persönlichkeit beraten.«

Imaginate – Der Nachttannenturm

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