Читать книгу Versuchung - Nina Galtergo - Страница 2
Katerfrühstück und Katzenjammer
ОглавлениеFlorian verließ eilig das Bett gegen acht Uhr und stürzte auf die Tür des Badezimmers zu. Die Tür schloss sich mit einem Knall und hinter ihr wurden Würgegeräusche hörbar.
Eine ganze Weile ging das so, Würgen, Toilettenspülung und das Geräusch von fließendem Wasser wechselten sich ab. Nach einer Viertelstunde stand er blass in der Tür und stöhnte, während er sich mit den Händen über sein müdes Gesicht fuhr. Kirsten schälte sich aus ihrem Kokon und schleppte sich mühsam zu ihm, jeden Knochen wegen der kurzen Nacht spürend.
„Geht's wieder?“, fragte sie mitfühlend im Kegel des Badezimmerlichts.
„Das waren wohl ein paar Drinks zu viel“, brachte er mit kratziger Stimme hervor. Er roch gleichzeitig sauer und nach Zahnpasta, seine Haare waren verklebt und sein Schlafanzug sah aus, als hätte er in der Nacht stark geschwitzt. Nach all den Jahren war es für sie immer noch ein ungewohnter Anblick, wenn er seine Brille nicht trug, denn das veränderte die Proportionen seines Gesichtes vollkommen. Mit Brille sah er aus wie ein erfolgreicher Mann, der mitten im Leben stand. Ohne Brille sah er verletzlich aus, was sicherlich daran lag, dass er tatsächlich ohne Brille schlecht gucken konnte, da seine Dioptrienzahl bei minus acht lag. So glich er einem orientierungslosen Maulwurf.
„Ich gehe duschen“, sagte er, „ich muss den Wagen in die Werkstatt bringen.“
„Mit dem Restalkohol im Blut?“, fragte sie erstaunt. Wie praktisch, denn so brauchte sie ihm die Lüge von der Absage der Werkstatt erst gar nicht aufzutischen. Die hatte wohl vergessen, ihn anzurufen. Vielleicht konnte sie ja auch gleich noch das Manöver mit dem Kosmetiktermin umgehen, denn ihr war nicht nach Unternehmungen irgendeiner Art. Eigentlich wollte sie nur zurück ins Bett, zurück in die Wärme.
Er seufzte, dann fügte er hinzu: „Vermutlich hast du recht, aber duschen gehe ich trotzdem, ich fühl' mich so siffig.“ Er umarmte sie kurz und gab ihr pflichtschuldig einen Kuss auf den Scheitel, bevor er sich umdrehte, ins Bad schlurfte und die Tür hinter sich schloss. Sie hingegen tapste im nun wieder dunklen Raum zurück ins Bett, vorsichtig darauf bedacht, sich an der Ecke ihres Bettes nicht wieder den Fuß anzustoßen, wie es ihr schon so häufig im Dunkeln passiert war. Wenn sie wieder mit einem gebrochenen kleinen Zeh zum Arzt kam, würde ihr dieser wahrscheinlich einen Sehtest aufbrummen. Oder einen Idiotentest. Kurz schoss ihr durch den Kopf, dass ein anderer Mann sie vor einigen Stunden ebenfalls dorthin geküsst hatte. Ihr Scheitel schien Männer anzuziehen, in Gedanken versunken strich sie darüber, doch er fühlte sich an wie immer.
Sie kuschelte sich tief in die warme Decke und schloss die Augen, um noch ein wenig zu schlafen.
Als sie erwachte, war es im Raum durch die Außenjalousien noch immer stockdunkel. Sie knipste die kleine Lampe der Konsole an und schaute verschlafen auf den Wecker, 12 Uhr mittags war durch.
Mühsam schälte sie sich aus dem Bett und betätigte die Fernbedienung der Jalousien, die langsam hochgingen. Draußen war es neblig, typisches Novemberwetter halt. Im Haus war es still.
Auch ihr Magen revoltierte, dabei hatte sie nur ein wenig Sekt getrunken. Doch vor lauter Aufregung um ihre unverhoffte Küchenbekanntschaft hatte sie das Essen glatt vergessen, woraus sich nun ihr Unwohlsein begründete. Doch ihr kleiner Süßigkeitenvorrat in der Sockenschublade ihres Kleiderschrankes ließ sie an diesem Morgen nicht im Stich: Nach dem Verzehr eines Schokoriegels fühlte sie sich gleich besser.
Sie betrat das Badezimmer. Die Fußbodenheizung, zu der ihr Vater ihnen geraten hatte, war ihr Geld wirklich wert, die Mosaikfliesen waren angenehm warm. Als sie in den Spiegel schaute, sah sie schwarze Balken aus Mascara und Eyeliner unter ihren Augen, die kläglichen Reste des Makeups wischte sie mit einem Wattebausch ab. Dann kämmte sie mühsam ihr störrisches brünettes Haar durch. Sie hasste es, wenn ihr die morgendliche Pflege im Bad so schwer fiel, weil sie abends nicht genug Disziplin zum Abschminken und Kämmen hatte aufbringen können. Nur zum Zähneputzen reichte es immer irgendwie, doch den Rest vernachlässigte sie aus blanker Faulheit gerne mal, vor allem nach durchgefeierten Nächten.
Sie entschied sich spontan zu einem Wannenbad, obwohl sie den großen Whirlpool noch immer als Umweltsünde par excellence betrachtete. Heute brauchte sie das prickelnde warme Wasser, um sich von den Nachwehen der schlechten Nacht zu erholen. Rauschend floss das Wasser ein, als sie den Hahn aufdrehte. Sie band ihre Haare hoch und zog ihren plüschigen Schlafanzug aus. Das Teil war ein Geschenk von Mausi gewesen, entsprechend hässlich fand Kirsten es, doch in kalten Nächten schaffte es dieses Püschelding wie nichts anderes auf der Welt, seine irgendwie immer durchgefrorene Trägerin zu wärmen.
Dann sank sie in die warmen Fluten und atmete tief ein und aus.
Ein leises Klopfen an der Tür weckte sie aus ihrer Entspannung. Florian fragte leise: „Darf ich reinkommen?“
„Ja“, gab sie mit einem Seufzen zurück. Auf ihn hatte sie jetzt wirklich keine Lust. Wahrscheinlich würde er sie nun mit Vorwürfen zum gestrigen Abend konfrontieren und ihr damit wahnsinnig auf die Nerven gehen. Der abtrocknende Referendar in der Küche war für ihn ein gefundenes Fressen.
Er kam herein, trug den Jogginganzug, den sie an ihm überhaupt nicht mochte, weil sie dieses Rot einfach zu aggressiv fand, aber auch der war ein Geschenk seiner Mutter und er ließ nichts auf ihn kommen. Im Gegensatz zu ihren Befürchtungen machte er einen entspannten Eindruck.
„Ich hab dich schlafen lassen.“
„Hmhm.“
„Wann warst du im Bett?“
„Gegen drei.“
„Ich hab die Küche schon aufgeräumt.“ WAS??? Achtung, Achtung, Halluzinationen!!!
„Oh, schön.“
Er kam zur Wanne herüber und setzte sich auf den schmalen Rand. Langsam begann er damit, zärtlich ihren Nacken mit den Fingerspitzen zu streicheln.
„Danke, dass du gestern alles so toll gemanaged hast“, sagte er. WAS IST DAS DENN??? Hatte er zum Frühstück einen Kaffee der Marke Prinz Perfekt?
„Kein Ding“, antwortete sie knapp.
Er küsste sie wieder auf den Scheitel und fragte:
„Hättest du Lust auf ein wenig Sex mit einem Neu-Einundvierziger?“
„Eben nicht, ich bin noch so fertig“, murmelte sie. Sex mit ihm war das Letzte, woran sie jetzt dachte. Gegen das Bad im Whirlpool konnte ein laues Stelldichein nicht anstinken.
„Na, dann kann man nichts machen“, stellte er ein bisschen resigniert fest und stand wieder auf. Stöhnend reckte er sich.
„Wo gehst du hin?“, fragte sie.
„Ich werde joggen gehen“, antwortete er entschlossen.
„Du willst joggen gehen?“, fragte sie perplex.
„Jawohl, joggen gehen, du hast richtig gehört“, konterte er stolz. „Ich muss mal wieder in die Gänge kommen, ich werde langsam alt und träge.“
Er ging zur Tür. Die Müdigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch auch eine Entschlossenheit, die Kirsten beeindruckte. Der Mann meinte es ernst, er würde draußen Sport treiben, während sie hier ihren nicht wirklich vorhandenen Kater auskurierte.
„Dann viel Spaß beim Joggen!“, rief sie ihm hinterher, doch er hatte die Tür schon hinter sich zugezogen.
Nach dem Baden putzte sie sich die Zähne länger als sonst mit der surrenden elektrischen Zahnbürste. So lange, bis ihr Zahnfleisch an einem Backenzahn wund zu werden begann. Sie spuckte den Schaum aus und spülte, dann ging sie fest in ihr Handtuch gewickelt ins Schlafzimmer und suchte sich aus der Schublade der Kommode einen Slip und einen BH aus. Da er sein Interesse an Sex bekundet hatte, nahm sie einen String mit passendem Push-up, an den bequemen Sachen in strahlendem Weiß griff sie zielstrebig vorbei. Sie hatte früher nie Dessous getragen, doch seit es zwischen ihnen nicht mehr so lief, kaufte sie hin und wieder etwas Schönes. Heute entschied sie sich für sündiges Rot. Dazu ihre groben Wollsocken anzuziehen, passte zwar nicht so richtig, doch beim Frieren hörte der Sexappeal auf, außerdem machte er es sowieso immer im Dunkeln, da würde sie die Socken unbemerkt ausziehen können. Dann nahm sie die Jeans von gestern zur Hand und zog einen dicken Wollpullover drüber. Zurück im Bad trug sie ein leichtes Makeup auf, kämmte das Haar noch einmal sorgfältig durch und knetete sich ein wenig Fluid in die Spitzen. Der abschließende Blick in den Spiegel erfüllte sie dennoch nur annähernd mit Zufriedenheit.
„Mädchen, siehst du fertig aus“, sagte sie zu sich selbst und lächelte sich flüchtig im Spiegel zu.
Auf Socken ging sie die Treppe herunter, die mit flauschiger beigefarbener Auslegeware bestückt war. Diesen Teppich hatte sie aller Unkenrufe zum Trotz ausgesucht, denn alle anderen (ihr Mann, ihr Vater, ihre Schwiegereltern) kritisierten seine offensichtlichen Defizite in Sachen Alltagstauglichkeit. Sie fand ihn nach wie vor sehr hübsch und er passte prima zu den dunklen Möbeln, die sie in diversen Antiquitätengeschäften zusammengekauft hatte. Schön war die Welt mit Vaters Geld, naja, eigentlich mit Mutters Geld, doch die war seit ihrem jähen Krebstod vor fünf Jahren nicht mehr am Leben, und Kirsten hatte viel Geld von ihr geerbt.
Sie betrat die Küche und hatte augenblicklich ein Déjà-vu. Die Aufregung des letzten Abends traf sie wie ein Blitz. Allerdings holte sie der Geruch von Kaffee schnell zurück auf den Boden der Tatsachen. Sie nahm sich seufzend einen Becher und goss sich die dampfende Brühe ein, die Florian immer fabrizierte. Dieser Kaffee konnte ohne Frage Tote erwecken. Sie nahm einen heißen Schluck und fühlte, wie ihre Lebensgeister immer wacher wurden.
Mit dem Kaffee in der Hand schlenderte sie in den großzügigen Ess- und Wohnbereich, der schon wieder bemerkenswert ordentlich war. Augenscheinlich hatte Florian hier schon tapfer den Hausmann gespielt und sich sogar des verfluchten Laminats angenommen. Sie ging zum Geschenketisch und beäugte abschätzig die Präsente, die Florian bekommen hatte. Ihre Geschenke lagen am äußersten Ende, daneben das Geschenk von Mausi und dem Wallach (es gab einen Seiden-Pyjama in einem senfgelben Ton, einen echten Alptraum eben, den nur eine Mausi ausfindig machen konnte, denn normalen Bürgern kam so etwas beim Shoppen gar nicht unter die Finger), dann kamen jede Menge Bücher, CDs und Blu-ray Discs. Da Florian einen vollkommen anderen Geschmack hatte als sie, war nicht viel Brauchbares dabei. Dann erspähte sie eine CD von Rihanna und legte sie ein. Kurz genoss Kirsten mit geschlossenen Augen die einsetzenden wummernden Beats, dann guckte sie weiter. Eigentlich wusste sie sehr genau, was sie suchte. Eine Karte mit den Unterschriften seiner Arbeitskollegen. Sie sah sich gerne Handschriften an und wollte unbedingt wissen, wie Christoph schrieb.
Tatsächlich fiel ihr beim Durchstöbern der Karten besagte Kollegenkarte in die Hand. Es war ein schlichtes Exemplar ohne viel Text,das sich deutlich von Kirstens bunter Comic-Karte abhob, die beim Öffnen laut „Happy Birthday“ spielte. Seine Leute hatten offenbar nicht viele nette Worte übrig für ihren Chef, kurz und bündig wünschten sie ihm alles Gute, nicht einmal Glück oder Gesundheit oder den üblichen Schmu. Nur schlicht alles Gute.
Christoph hatte tatsächlich unterschrieben. Er hatte eine bemerkenswert saubere Handschrift für einen Mann und hieß mit vollem Namen Christoph Oppermann. Das war alles, was sie wissen musste. Die restlichen Geschenke und Karten kümmerten sie nicht mehr. Sie eilte ins Arbeitszimmer, denn sie schätzte, dass der Joggingnovize nicht mehr lange durchhalten würde. Sie schaltete den PC ein und wartete ungeduldig auf die kleine Melodie, die signalisierte, das es losgehen konnte. Mit dem Fingerprint rief sie ihren Account auf und startete google. Dort gab sie den Namen Christoph Oppermann ein und das, was sie noch wusste, nämlich dass er hier wohnte, und sie war überrascht, dass der Name gar nicht so selten war. Aber als alter Internetfuchs fand sie ihn trotzdem nach wenigen Minuten.
Christoph Oppermann, Jahrgang 1986, hatte ein Gymnasium in Hamburg besucht. Er gehörte einer Studentenverbindung an und war ein erstklassiger Absolvent der juristischen Fakultät. Momentan war er im Referendariat, doch das wusste sie ja bereits. Sein Foto auf seiner MySpace-Seite ließ ihr Herz höher schlagen, es zeigte ihn lachend auf einem Segelausflug. Verrückt, schalt sie sich, zu jung, zu gutaussehend, zu klug für dich. Der hat in jedem Hafen eine, wenn er Segelausflüge macht. Bei dieser Idee musste sie schmunzeln, wie ein Matrose sah er nicht gerade aus, und er hatte zum Glück keinerlei Ähnlichkeit mit Popeye. Ob er wohl Spinat mochte?
Die Haustür ließ sie aufschrecken. Sofort schloss sie die Seite und fuhr den PC herunter. Beinahe ertappt, zum Glück aber nur beinahe!
„Ich bin wieder da“, keuchte Florian aus dem Flur.
Sie ging in den breiten Flur und sah mit Vergnügen, wie er mit dem Oberkörper nach vorne gebeugt auf die antike Kommode gestützt stand und nach Luft japste. Weg von der Kommode mit deinen triefenden Händen!
„Boah, das war anstrengend!“, brachte er mühevoll hervor.
Sie lächelte amüsiert.
„Du hast meine CD schon reingelegt?“
Rihanna sang gerade von gefundener Liebe. Seit wann hört er eigentlich Rihanna?
„Ich habe mir deine Geschenke angesehen“, antwortete Kirsten lapidar, „da habe ich die CD gefunden und war neugierig, wie sie so ist.“
„Du weißt doch, dass ich es nicht mag, wenn du einfach so an meine Sachen rangehst!“ Er stupste ihr leicht den Finger vor die Brust.
„Es ist doch nur eine CD“, sagte sie achselzuckend.
Doch sie sah ihm seinen Missmut deutlich an, und plötzlich regte sich in ihr ein komisches Gefühl. Seit wann war er so eigen, wenn es um seine Sachen ging? Er bediente sich an ihren Sachen auch immer ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen.
„Schöne Geschenke hast du bekommen“, stellte sie fest, um das Schweigen zu unterbrechen.
„Da fällt mir ein, dass der Paketbote ein Päckchen für dich abgegeben hat, und du hast doch gestern gesagt, dass du noch was für mich erwartest.“ Noch immer japste er ein wenig.
„Wo ist es?“
„Ich hab's aufs Sofa gelegt, als ich ans Telefon gegangen bin.“
Während sie zum Sofa ging, fragte sie über die Schulter nach hinten: „Und wer hat angerufen?“
„Nur meine Mutter“, antwortete er knapp.
Da wollte sie nicht weiter fragen. Immer wenn das Gespräch auf diese persona non grata kam, stieg ihr Blutdruck spürbar an. Mausi war schlichtweg ungesund für sie.
Sie riss die Lasche an der Verpackung auf und blickte glücklich auf das Geschenk. Besser spät als nie! Schnell verschwand sie im Arbeitszimmer und verpackte das Spiel, dann eilte sie zurück zu Florian, der bereits damit begonnen hatte, seine übrigen Geschenke wegzuräumen.
„Du kannst das doch noch da stehen lassen“, sagte sie erstaunt.
„Ach, weißt du, ich kann heute den Tag noch zum Aufräumen nutzen, morgen habe ich wieder keine Lust dazu.“
Wo er recht hatte, hatte er recht.
Stolz reichte sie ihm mit weit ausgestrecktem Arm das Geschenk: „Ich hab da noch was für dich!“
Er lächelte, nahm es ihr aus der Hand und setzte sich auf die Couch, um es auszupacken. In seinem Gesicht spiegelte sich wahre Freude, als er sah, was er da noch von ihr bekam.
„Danke!“
Er nahm sie in den Arm und drückte sie sachte an sich.
„Ist es das richtige?“, fragte sie.
„Ja, und wenn du nichts dagegen hast, weihe ich es gleich ein.“
Sprachs und verschwand in den Nebenraum. Kirsten blieb alleine auf dem Sofa zurück und lauschte Rihannas Stimme. Irgendwann hatte sie genug von den Liedern über Liebe, denn Liebe war heute kein Thema nach ihrem Geschmack. Sie suchte im CD-Regal nach Linkin Park und wurde fündig.
Florian hatte es gar nicht erwarten können, dem Wohnzimmer den Rücken zu kehren. Dass sie die Ausrede mit dem Joggen so leicht geschluckt hatte, überraschte ihn, doch es zeigte ihm auch, dass sie nichts ahnte. Als ob er joggen würde! Gedanken- und Lieblosigkeit, das ist es, dachte er. Gedanken- und Lieblosigkeit machen diese Ehe kaputt. Und der Alltag.
Seit drei Monaten hatte er nun eine Affäre mit Sandra, einer Sekretärin seiner Kanzlei. Sandra war ganz anders als Kirsten, nicht so antriebslos, nicht so farblos, nicht so langweilig. Vor der Ehe mit Kirsten hatte vor allem seine Mutter ihn unermüdlich gewarnt, hatte ihm die Augen zu öffnen versucht, dass sie nicht die Frau seines Lebens war, und vielleicht war gerade das vehemente Dazwischenfunken seiner anstrengenden Mutter der Anreiz gewesen, mit dieser Frau so schnell wie möglich Nägel mit Köpfen zu machen. Wenn er jetzt darüber nachdachte, wie verrückt er nach ihr gewesen war! Völlig irrational und blind vor Liebe war er gewesen, wild entschlossen, sie zu halten, die eine, die sich endlich für ihn interessierte. Doch es hatte nur wenige Jahre gebraucht, um auch das Interesse anderer Frauen zu erwecken, mit dem beruflichen Erfolg mauserte er sich zu einem Mann, den die Frauen reizvoll fanden, und das gefiel ihm, schmeichelte ihm, dem Mann, der bis dahin nie einen Schlag bei Frauen gehabt hatte. Gut, Schlange standen sie nicht, aber Sandras Avancen waren unmissverständlich gewesen und er war nur allzu bereit darauf eingegangen. Er hatte sich verändert, er war älter und reifer geworden, er wusste, was er vom Leben wollte. Er wollte eine Partnerschaft, in der er die Zügel in der Hand hielt, und Sandra würde ihn niemals in Frage stellen, denn nicht zuletzt war er ihr Chef. Welch praktischer Umstand!
Den ersten Kuss mit ihr würde er dennoch nie vergessen! Elektrisierend, leidenschaftlich, verlangend war er. Dagegen waren Kirstens Küsse kalter Kaffee, ein müder, pflichtschuldiger Abklatsch. Gleich nach dem ersten Kuss hatten sie Sex gehabt auf der rauhen Auslegeware seines Büros und ihm wurden noch heute die Hände nass vor Aufregung, wenn er daran dachte. Sie hatten die Tür nicht abgeschlossen, sie waren einfach übereinander hergefallen und hatten es getan, während nebenan die Kollegen arbeiteten. In diesem Moment hatte der Kopfmensch Florian für wenige Augenblicke zu existieren aufgehört, und seitdem gönnte sich Florian auch endlich den Luxus, spontan zu sein, sein Leben zu genießen und das Geld, das er nervenaufreibend verdiente, mit Genuss auszugeben. Die Tatsache, immer neue Ausreden für seine ahnungslose Frau erfinden zu müssen, die keinen Argwohn schöpfte von seinem Doppelleben, war ein lästiges, aber notwendiges Nebenprodukt seines neuen Lebens, quasi ein Kollateralschaden. Trotzdem war alles so simpel! Sie vertraute ihm blind, die Wahrheit würde sie selbst dann nicht glauben, wenn er es direkt vor ihren Augen mit Sandra treiben würde. Mit der Sandra, die ihn verrückt machte.
Oh Kirsten, wie du mich unterschätzt...
Und Sandra, die wundervolle Sandra, machte es ihm so einfach, beide Frauen in seinem Leben taten das, ein überaus glücklicher Umstand, für den er äußerst dankbar war. Und da hielten sie sich immer für das durchtriebene Geschlecht mit den sensiblen Antennen! Welch Witz! Die eine merkte nicht, wie er sie betrog und die andere glaubte doch tatsächlich, für sie würde er sein glückliches Heim opfern.
Sandra war nicht so kopflastig wie Kirsten, Sandra genoss das Leben wie er. Und bei Sandra bekam er in einer Tour, was er haben wollte. So wie gestern Abend, als sie sich im Badezimmer seines Hauses geliebt hatten, mit jeder Menge Anwesender um sie herum, mit seiner Frau in direkter Nähe! Es hatte einen speziellen Reiz gehabt, wenn er an Kirsten dachte, die währenddessen unten keinen blassen Schimmer hatte und seine Party schmiss. Es hatte ihm ihr gegenüber ein wahnsinnig erfüllendes Gefühl der Überlegenheit gegeben, endlich einmal. Ja, er war ihr beruflich überlegen, aber ansonsten gab sie immer den Ton an. Wohlhabend, attraktiv, beliebt. Früher hatte ihn häufig die Eifersucht geplagt, wenn er seiner Frau nicht das Wasser reichen konnte, heute passierte ihm das nicht mehr.
Dass Kirsten nun gerade die CD in die Hände fallen musste, die Sandra ihm geschenkt hatte, ärgerte ihn enorm.
Zufällig wohnte sie ganz in der Nähe, eigentlich musste er nur zwei Straßen überqueren und schon war er bei ihr im siebten Himmel. Ja, er war verrückt nach Sandra, er konnte bei der Arbeit kaum die Finger von ihr lassen und musste sich nur noch überlegen, wie er aus dieser vertrackten Ehe mit Kirsten wieder herauskommen würde, ohne zu viele Federn zu lassen. Den Ehevertrag hatte er wegen seiner Mutter nämlich nicht unterzeichnet.
Nun sitzt er nebenan und spielt, naja, selbst schuld. Was schenkst du ihm auch ein Spiel!
Enttäuscht blieb sie auf dem Sofa sitzen und blätterte lustlos durch die Fernsehzeitung auf der Suche nach einer brauchbaren Ablenkung. Doch es lief nichts an diesem Samstagnachmittag, was ihre Gedanken hätte auf sich ziehen können.
Der Stringtanga zwickte sowieso, die Bügel des Bhs drückten, und so kam bei ihr keine Stimmung auf, um untätig auf dem Sofa herumzuliegen. Ständig zupfte sie an ihrer Unterwäsche herum und fragte sich, was sie nun tun könnte. Eine Freundin anrufen? Samstags hatten die alle mit ihren Familien etwas vor, weil es bei ihnen so etwas wie ein Familienleben gab. Ihren Vater anrufen? Als ob er sich jemals über einen ihrer Anrufe gefreut hätte. Im Internet surfen? Keine Lust dazu. Also blieb nicht viel übrig. Da konnte sie auch gleich den Geschirrspüler ein letztes Mal ausräumen, die Gläser polieren und alles wieder einräumen. Ihr Leben war so sehr das Gegenteil von aufregend und an diesem Tag fiel ihr das besonders auf. Alle bewunderten sie und Florian, bezeichneten sie als rundum glückliches Paar, doch rundum glücklich war Kirsten schon seit langem nicht mehr. Gestern Abend hatte sie sich bei den kurzen Gesprächen mit einem völlig Unbekannten, der indiskutabel jünger war als sie, zum ersten Mal wieder lebendiger gefühlt. Ihr war klar, dass er nur hatte nett sein wollen, dass er vielleicht auch niemanden zum Reden in dem Gewühl der vielen Menschen gefunden hatte, weil Männer mit seiner Attraktivität abschreckend auf Männer und Frauen gleichzeitig wirkten, da die Männer eifersüchtig auf das Äußere und die Frauen eingeschüchtert durch das Äußere waren und sich von vorn herein als chancenlos und minderwertig betrachteten. In der Situation hatte er sich eben an die Hausfrau herangepirscht und war ihr behilflich gewesen, um selbst aus der Unbehaglichkeit zu entfliehen. Es war lachhaft, mehr in das Geschehene hereinzuinterpretieren, so sehr die Vorstellung ihr kleines Ego auch erfreute. Als wenn der Superstar einem pickeligen, kreischenden Teenager vom roten Teppich aus kurz zugelächelt hatte. Mehr bedeutete es nicht.
Und die übrigen Gäste sahen in Kirsten einfach nur das, was sie war, nämlich eine langweilige Ehefrau, die keine besonderen Qualitäten zu haben schien, und darum unterhielt sich auch sonst niemand mit ihr. Weil sie uninteressant war, gänzlich facettenlos.
Das ist nicht wahr, schalt sie sich. Du bist interessant, du hast Facetten, nur deinen Mann juckt das nicht mehr.
Plötzlich stand Florian in der Küchentür und riss sie jäh aus ihren Gedanken. Sie zuckte erschrocken zusammen, als er sie ansprach:
„Schatz, nächstes Wochenende ist Weihnachtsfeier. Du willst doch bestimmt wieder nicht mit, oder? Die Tippse muss nämlich die genaue Personenzahl beim Catering durchgeben, die tritt mir schon seit Wochen auf die Füße deswegen.“
Die Weihnachtsfeier! Ein absolut ödes Beisammensein mit einem Haufen mehr oder minder Unbekannter, die so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, dass das Buffet für Kirsten zum Interessenschwerpunkt des Abends avancierte. Meistens saß sie am Ende mit dem einem oder anderen Gläschen Alkohol zuviel intus auf einem der Besucherstühle in Florians Büro und starrte verträumt Löcher in die Luft. Das war auch der Grund für ihre Abwesenheit in den letzten zwei Jahren gewesen. Mit den anderen Frauen hatte sie sich auch nichts zu erzählen. Die meisten löcherten sie wegen ihrer Kinderlosigkeit, und sie war es leid, diesbezüglich Ausreden zu erfinden. Sie wusste ja selbst nicht so genau, warum sie heimlich immer noch die Pille nahm und Florian die Enttäuschung vorspielte, wenn sie wieder ihre Periode bekam. Wobei er schon seit Monaten nicht mehr fragte und sie das Gefühl nicht los wurde, dass ein Kind eigentlich auch in seinem Leben momentan überhaupt keinen Platz hatte. Sie zusammen mit Florian beim Ultraschall? Unvorstellbar. Florian, der ihr den wachsenden Bauch streichelte? Unvorstellbar. Florian, der ihr während der Geburt beistand? Unvorstellbar. Florian als guter Vater? Unvorstellbar.
„Kirsten, was ist denn nun? Was soll ich sagen?“, drängelte er sie in die Gegenwart zurück.
„Sag, dass ich gerne mitkomme“, antwortete sie abwesend, denn das war sie womöglich, ihre Gelegenheit. Vielleicht, altes Mädchen, winkt dir das Schicksal mit offenen Armen zu. Was hast du schon zu verlieren?
Er zog erstaunt die Stirn in Falten und schien für einen kurzen Moment die Fassung zu verlieren angesichts dieser offensichtlich unerwarteten Antwort. Dann fing er sich wieder und lächelte sie unergründlich an. „Schön“, sagte er, „dann melde ich dich mit an.“
Er machte kehrt und verließ die Küche wieder.
Kirsten polierte weiter versonnen das Glas in der Hand und empfand zum ersten Mal bei dem Gedanken an die Weihnachtsfeier eine vage Vorfreude. Sie würde Christoph wiedersehen, und sie hatte eine ganze Woche Zeit, um sich auf dieses Wiedersehen vorzubereiten.
Ihre Phantasie sponn weiter, sponn sich zusammen, dass der hübsche Jüngling tatsächlich mehr von ihr wollte als einen harmlosen Küchen-Smalltalk. Diese Gedanken daran, diese Phantasien, zählten die schon als Betrug? Nein, beruhigte sie sich, das spinnst du dir doch sowieso nur zusammen.
Was hätte ihre Mutter in einer solchen Situation wohl gedacht? Was hätte sie gefühlt, was hätte sie ihrer Tochter geraten?
In einem Anflug von Wehmut ging sie ins Wohnzimmer und kramte ihr altes Fotoalbum aus dem Schubfach hervor. Entstanden vor dem Zeitalter der digitalen Fotografie.
Sie übersprang die ganzen Kinderfotos und stieg ein in der Zeit um ihr Abitur. Sie sah sich und Ulla Arm im Arm vor den Pyramiden am Eingang des Louvre stehen, neben dem Grab von Jim Morrison und ein Foto, das Ulla von ihr und einem Verehrer namens Sören gemacht hatte, der ebenfalls seinen ersten Urlaub in Schulfreiheit in Paris verbracht hatte. Sie zog auf dem Bild mit ihm genüsslich an einer Zigarette, er hielt sie lässig im Arm und grinste selbstgefällig. Sören und wie weiter? Der Nachname blieb verschollen in ihrem alternden Langzeitgedächtnis. Irgendwann flogen halt die unwichtigen Infos über Bord, und der Nachname eines Typen, mit dem sie vor 13 Jahren in Paris einen Joint geraucht und anschließend eine erbärmliche, bekiffte Kicher-Nummer geschoben hatte, war so eine unwichtige Info.
Dann fand sie das Bild, das sie suchte. Ihre Mutter mit ihrem Vater tanzend auf ihrer Silberhochzeit. Sie tanzten Twist, sie lachte und ließ ihren Petticoat schwingen – ihr Faible für die Sechziger war mitreißend gewesen und sie hatte die Party ganz im Stile dieser Zeit ausgerichtet. Die beiden flirteten miteinander wie zwei Honigkuchenpferde, kurz, sie wirkten sehr glücklich miteinander. Sie stand klatschend am Rand und trug ein gepunktetes Minikleid, Ballerinas und eine furchtbare Schleife im Haar. Neben ihr stand Sven, ein netter Kerl, mit dem sie damals zusammen gewesen war. Sven, den sie für Florian verlassen hatte. Dumm gelaufen, mit Sven hättest du bestimmt mehr Spaß haben können als mit der Mensch gewordenen Spaßbremse.
So glücklich hatte sie ihren Vater nach dem Tod ihrer Mutter nie wieder gesehen. Und Kirsten hatte mit ihrem Tod ihre ganze Leichtigkeit eingebüßt. Der Tod ihrer Mutter hatte aus Kirsten eine andere Frau gemacht, die meilenweit entfernt war von der spontanen, lustigen, qualmenden, Sex habenden Kiki. Die Kirsten heute war geplagt von Zweifeln, Ängsten und gönnte sich kaum mehr ein Vergnügen. Der ernsthafte Mann, den sie geheiratet hatte, versetzte ihrem wilden Wesen zusätzlich den Todesstoß.
Zurück blieb eine Frau, die sich auf den Bildern von einst kaum wiedererkannte. Die beim Anblick der Bilder aber ein sehnsüchtiges Ziehen verspürte und sich dazu entschloss, etwas zu ändern, um ihrem Glück wieder auf die Sprünge zu helfen.