Читать книгу Versuchung - Nina Galtergo - Страница 3

Seelenpflege

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Am Montag ging Kirsten wie gewohnt zur Arbeit in das Büro ihres Vaters. Der musterte sie beim Betreten des Hauses kritisch wie immer durch die offene Bürotür und murmelte über den Rand seiner kleinen Lesebrille hinweg ein mürrisches „Morgen“. Dann sah er wieder in die Tageszeitung, die er vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte.

Kirsten zog ihren Mantel und die triefenden Schuhe aus, legte ihre vom Schneeregen durchnässte Mütze, den Schal und die Handschuhe auf die Heizung im Flur und ging zu der kleinen Kaffeestation.

„Möchtest du auch was zu trinken, Papa?“, fragte sie laut und als Antwort kam nur ein genuscheltes „Mhmh“.

Sie drückte den Knopf für den Kaffee und der Automat begann zu arbeiten. In der Zwischenzeit schlüpfte sie in die bequemen Schuhe, die unter ihrem Schreibtisch standen. Eigentlich lief sie gerne auf Socken herum, doch ihr Vater fand die Aussicht auf eine schuhlose Sekretärin indiskutabel, auch wenn fast nie jemand kam, während sie anwesend war. Tochter hin oder her, er hatte gewisse Ansprüche, die es einzuhalten galt. Vorsichtig nahm sie die Tasse mit dem heißen Inhalt vom Gitter herunter und balancierte sie durch den Gang in das Büro ihres Vaters. Ihr eigener Schreibtisch stand im Flur, der allerdings so großzügig war, dass er von der Quadratmeterzahl her locker mit dem Büro konkurrieren konnte. Ihr Vater hatte ihren Schreibtisch ungefragt in den Flur gestellt, als Kirsten begann, für ihn zu arbeiten. Die Enttäuschung über ihren Studienabbruch hatte er bis heute nicht verkraftet und es gab Tage, da behandelte er sie wie eine Aussätzige. Heute war wieder mal so ein Tag. Für den Kaffee bedankte er sich mit knapper Mühe und Not und gab Kirsten zu verstehen, dass seinerseits keinerlei Interesse an einem Gespräch bestand. So ging sie wieder aus dem Raum und schloss leise die Tür hinter sich. Ihr war bewusst, dass er sie nur bei sich arbeiten ließ, um dritten gegenüber nach dem Studienabbruch zu allem Überfluss nicht auch noch die daraus resultierende Arbeitslosigkeit seiner Tochter eingestehen zu müssen. Da seine damalige Sekretärin zu dieser Zeit sowieso mit dem Gedanken spielte, in Altersteilzeit zu gehen, hatte er Kirsten den Posten verschafft.

Trotz der Kürze ihres Treffens bemerkte sie, dass er müde aussah, müde und irgendwie krank. Sie beschloss, ihn später darauf anzusprechen, wenn sich seine Laune gebessert hatte. Sie kannte und fürchtete seine Morgenmuffeligkeit noch bestens aus den Zeiten ihres Zusammenlebens.

Heute gab es nicht so viel zu tun. Den Ablagekorb hatte sie fast geleert am Freitag, einem Auftraggeber musste sie ein Angebot zusammenstellen und ansonsten die normal anfallende tägliche Arbeit erledigen.

Innerlich ging sie durch, was sie nach Feierabend in dieser Woche alles erledigen musste, um am Samstag eine gute Figur zu machen. Sie brauchte einen Termin bei der Kosmetik, nun wirklich, und am besten spätestens Donnerstag, damit bis Samstag alle Rötungen verschwunden waren, die ihr die Kosmetik bescheren würde. Ein Hautbild, das dem eines an Windpocken erkrankten Kindes glich, konnte sie auf keinen Fall gebrauchen, obwohl ihr damit die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste sicher gewesen wäre.

Sie brauchte außerdem einen Termin beim Frisör, denn ihr Schnitt gefiel ihr schon seit längerem nicht mehr und nun war die Gelegenheit, endlich etwas zu ändern und Mut zu besitzen. Ihre beste Freundin Ulla stichelte schon ewig und zog sie damit auf, dass sie eine Puttchen-Frisur trage. „Ehrlich, Kiki, damit siehst du glatte zwanzig Jahre älter aus.“ Bisher hatte sie über diese wundervollen Komplimente stets mit juckendem Ohr hinweggehört, aber nun würde sie handeln. Au weia, meine schönen Haare...

Und sie brauchte neue Klamotten. Definitiv. Mit dem, was sie an Kleidung im Schrank hatte, würde sie alles andere als Eindruck schinden. Ganz im Gegenteil, mit dem grauen Unikum von der letzten Feier konnte sie sich glatt vor einem Betonpfeiler unsichtbar machen. Für „Mut zur Farbe“, hatte Ulla plädiert, vergebens. Sie hatte sich für den Look eines Elefanten entschieden, allerdings für den eines magersüchtigen Elefanten, denn immerhin war sie schlank. Gute Gene, geerbt von ihrer Mutter.

Mit der Kleidersuche würde sie gleich heute anfangen. Das konnte sich hinziehen...

Der Vormittag verstrich so langsam wie ein schlechter Film. Es tat sich fast nichts, ihr Vater kam nicht ein einziges Mal aus seinem Büro heraus oder nahm sonst irgendwie Kontakt zu ihr auf, außer beruflichen. Und seit er E-Mails für sich entdeckt hatte, nutzte er dieses Medium, anstatt persönlich mit seiner Tochter im Nebenflur zu kommunizieren. 12:55 schaltete sie den PC aus, zog sich den Mantel und den Rest ihrer Wintergarderobe wieder an, öffnete die Tür zum Raum ihres Vaters einen Spalt breit und rief „Tschüß, Papa!“

Wieder kam nur das bekannte „Hmhm“ zurück.

Auf sein krankes Aussehen würde sie ihn morgen ansprechen. Für einen Korb war ihre Laune schon mies genug. Das würde ihr den Schwung zum Shoppen endgültig rauben.

Nun aber nichts wie raus aus dem tristen Umfeld und rein ins Auto. Sie fuhr in die Stadt und steuerte auf eines der wenigen Parkhäuser zu, in denen mittags noch ein Platz zu kriegen war. Das waren die Parkhäuser mit einer stündlichen Gebühr von drei Euro. Seufzend zog sie sich ein Ticket und passierte die Schranke, dann zirkelte sie ihren Wagen gekonnt in eine Parklücke und stieg aus. Obwohl die Gebühren so hoch waren, flackerte in diesem Bereich des Parkhauses nur noch eine einsame Neonröhre müde vor sich hin, während der Rest offenbar seinen Winterschlaf hielt. Weit und breit war niemand zu sehen, weswegen sich Kirsten damit beeilte, zum Ausgang zu kommen. In der Beziehung war sie ein echter Angsthase. Ihr Portemonnaie verwahrte sie immer sicher in der Innentasche, denn sie war keine Handtaschenfreundin. Dennoch bekam sie Angst in dieser düsteren Umgebung. Mit wachsender Erleichterung kam sie dem Sonnenlicht immer näher und nahm hastig zwei Stufen gleichzeitig auf der Treppe zum Ausgang in die Fußgängerzone.

Die meisten Frauen auf der Weihnachtsfeier trugen schicke Cocktailkleider oder sonstige Abendgarderobe und Kirsten war in ihrer Rock-Bluse-Kombination stets als eindeutig underdressed aufgefallen. Das würde sich dieses Jahr ändern, schwor sie sich, und steuerte zielstrebig auf ein Geschäft mit Braut- und Abendmoden zu. Beim Betreten des Ladens erklang ein helles Klingeln von einem Glöckchen und Kirsten zweifelte für einen kurzen Moment daran, dass man hier für Frauen ihrer Altersstufe Klamotten anbot, doch als sie die junge Verkäuferin sah, wusste sie, dass ihre Sorge unbegründet war. Um den flauschigen Teppich tat es ihr leid, sie genierte sich, mit ihren vermatschten Stiefeln darauf zu stehen. Sie spürte förmlich den Matsch unter sich hinwegsickern.

„Guten Tag“, sagte die Verkäuferin freundlich mit einem einnehmenden Lächeln auf dem Gesicht.

„Hallo“, sagte Kirsten etwas unsicher.

„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fragte die Verkäuferin.

Hier im Alleingang zu gucken, war sowieso zwecklos. Warum sich dann bei den Preisen nicht eine Beratung gönnen?

„Ja, ich brauche etwas für eine Weihnachtsfeier“, antwortete Kirsten.

„Möchten Sie erst einmal schauen oder soll ich Ihnen helfen?“

Was für eine Frage! Kirsten hatte das Gefühl, dass ihre gesamte Körperhaltung nur eines ausdrückte, und das war HILFE! Diese blondierte Schönheit mit ihrem Kataloglächeln brauchte gar nicht so süffisant zu lächeln, es war offensichtlich genug, dass sie hilfsbedürftig in Sachen Mode war.

„Ich könnte Ihre Hilfe gut gebrauchen“, erwiderte sie wahrheitsgemäß und die Schönheit lächelte gönnerhaft, aber dennoch sympathisch.

„Sie tragen eine 38 bis 40, nehme ich an“, sie musterte Kirsten abschätzend.

Kirsten nickte.

„Möchten Sie etwas Schlichtes oder eher etwas Auffälliges?“, fragte die Verkäuferin weiter.

Als Kirsten nicht gleich antwortete, sagte sie:

„Sie sehen aus wie der klassisch elegante Typ, der gerne gekonnt Akzente setzt.“

Wow, was für eine unerwartet blumige Charakterisierung ihrer schlichten Garderobe! Als Akzent konnte die Schönheit wohl nur den bunten Schal identifiziert haben, denn der klassisch elegante Rest war unauffällig in Beige und Grau und wurde mit dem düsteren Winterhimmel eins.

Schon nahm die Verkäuferin ein erstes Kleid von der Stange, Modell kleines Schwarzes.

„Wie wäre es damit?“

Schwarz war ja nie verkehrt, denn es machte schlank, also nickte Kirsten anerkennend.

„Ja, ist ganz hübsch“, murmelte sie. Aber wahrscheinlich so teuer, dass deine Kreditkarte beim Bezahlen Feuer fängt.

Als nächstes wählte sie ein schwarzes Kleid mit viel Chiffon aus, das deutlich tiefere Einblicke erlaubte als das erste.

„Und dieses hier?“, fragte die Strahlefrau.

Das Kleid war der Wahnsinn, doch das wollte Kirsten sich nicht anmerken lassen, also nickte sie wieder nur.

„Vielleicht auch etwas Farbiges? Lila ist momentan ganz in, und das hier ist ein wahrer Traum aus Seide!“

Sie nahm ein Kleid in Pflaume zur Hand und hielt es Kirsten prüfend hin. Kirstens Herzschlag beschleunigte sich, und sie brachte erneut ein „Ja, ganz hübsch“ über die Lippen. Sie war so wortkarg wie ihr Vater, hatte nicht das fröhliche Temperament ihrer Mutter, die beim Anblick dieser Kleider ganz aus dem Häuschen gewesen wäre. Sie sehnte sich so sehr nach ihrer Mutter und hätte sie hier und heute dringend gebraucht. Oder wenigstens Ulla, Martina oder Franziska, doch die hatten alle ein Nest bezogen mit vielen Kindern darin und keine Zeit für Shoppingtouren mit der kinderlosen, wohlhabenden Kirsten, die für ihr Geld eigentlich nicht einmal arbeiten musste. Ihre Mutter hatte als Innenarchitektin der Reichen und Schönen genug verdient und Kirsten alles vererbt, weil ihr Vater und sie sich einst auf Gütertrennung geeinigt hatten..

„Da sind unsere Umkleidekabinen“, wies ihr die Verkäuferin mit einer Handbewegung den Weg.

Kirsten ging hinter ihr her und bewunderte, wie sie sich auf den Absätzen so elegant bewegen konnte. Dieser Hüftschwung war perfekt, den musste sie bis Samstag unbedingt noch lernen. Die Schönheit hängte die Kleider in der Kabine an eine kleine goldene Stange und lächelte Kirsten aufmunternd zu.

„Wenn Sie Hilfe brauchen, dann rufen Sie mich einfach.“

Kirsten nickte und zog den rauchblauen Vorhang an den schweren Messingösen hinter sich zu. Die Kabine hatte die Größe eines kleinen Kinderzimmers und war üppig möbliert mit einem kleinen Tischchen, zwei Sesselchen und einem Kleiderständer. Mühsam entledigte sie sich ihrer Garderobe und bemerkte mit einer Gänsehaut, wie kalt es ohne die schützende Kleidungsschicht hier war, obwohl die Heizung sicherlich lief. Sie nahm das erste Kleid, das schlichte Schwarze, zur Hand und öffnete vorsichtig den Reißverschluss, um ja nichts kaputtzumachen. Dann zog sie sich das Kleid über den Kopf, zog es zurecht und sah vorsichtig in den Spiegel. Sie sah blass aus, aber nicht schlecht. Es hatte einen Karreeausschnitt und endete an den Knien.

„Soll ich Ihnen vielleicht ein Paar Schuhe bringen?“, fragte die Verkäuferin jenseits des Vorhangs.

„Gerne, Größe 39“, antwortete Kirsten und innerhalb weniger Sekunden wurde ein Paar Pumps mit der Spitze voran unter den Vorhang der Kabine geschoben. Höchstwahrscheinlich beschäftigte sich die Schönheit von Berufs wegen auch mit der Größenanalyse von Damenfüßen unter dem Vorhangsaum.

Sie zog die Schuhe an und stand etwas wackelig vor dem Spiegel. Sie atmete einmal tief durch und schob den schweren Stoff des Vorhangs zur Seite. Die Strahlefrau lächelte sie ermutigend an:

„Das steht Ihnen aber wirklich gut! Soll ich mal den Reißverschluss zumachen?“

Kirsten nickte wieder nur und hielt sich die schulterlangen Haare hoch. Langsam zog die Verkäuferin den Reißverschluss zu und Kirsten trat aus der Kabine heraus vor den großen Spiegel. Es stimmte, das Kleid stand ihr gut. Ungläubig drehte sie sich hin und her.

„Also, das könnte es schon sein“, sagte sie zu der Verkäuferin, um von dieser nicht völlig zum mundfaulen Modemuffel abgestempelt zu werden.

„Es steht Ihnen. Möchten Sie die anderen beiden trotzdem anprobieren?“, fragte diese wieder mit diesem perfekten Zahnpastalächeln, und wiederum nickte Kirsten nur.

Die Verkäuferin öffnete den Reißverschluss wieder, Kirsten ging zurück in die Kabine und schälte sich aus dem Kleid. Erst jetzt wagte sie einen zögerlichen Blick auf das Preisschild. 329 Euro kostete das gute Stück, was irre viel war für ein einziges Kleid, doch Kirstens Stimmung war gekippt. Sie fühlte sich unglaublich gut und hätte wohl jeden Preis bezahlt.

Sie nahm das Chiffonkleid und probierte es ebenfalls an. Es war mehrlagig und genau das, was Kirsten normalerweise abfällig als „Flatterfetzen“ bezeichnet hatte. Doch es saß perfekt und machte aus der langweiligen Kirsten augenblicklich eine attraktive Frau, wie verwandelt durch den gutmütigen Stab einer kleinen, fröhlichen Fee. Wieder schob sie den Vorhang beiseite und sah die Verkäuferin erwartungsvoll an. Diese strahlte über das ganze Gesicht und hauchte ein „Wunderbar!“ Wieder drehte sie sich vor dem Spiegel hin und her und stellte fest, dass dieses Kleid ganz eindeutig unter die Kategorie sexy fiel.

Wieder zurück in der Kabine holte sie das letzte Kleid vom Bügel und zog es an. Der kühle Seidenstoff schmiegte sich an ihren Körper und sie konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich in dem schicken Fummel eine gute Figur machte. Mutig schritt sie aus der Kabine vor den Spiegel und sprach laut aus, was die Verkäuferin dachte: „Das ist es!“

„Ja, das sieht wirklich toll an Ihnen aus. Als hätte es hier auf Sie gewartet!“

Zufrieden ging Kirsten zurück in die Kabine und schielte auf das Etikett. 380 Euro, doch bei ihrem prallen Konto kein Problem. Du gehst so selten shoppen, heute haust du mal richtig was auf den Kopf. Dennoch nahm sich Kirsten vor, noch heute online an Unicef und den WWF zu spenden. Sie schaute das zweite Kleid kurz an und fasste den Entschluss, dass ihr Haben heute würde richtig bluten müssen, denn es wanderte auch mit an den Glastresen zur Kasse. Wann kaufst du dir sonst mal was? Ein Anlass zum Tragen ließe sich sicherlich finden. Und die Schuhe kaufte sie auch noch, denn auf denen konnte sie trotz der beachtlichen Höhe gut laufen. Als sie die Verkäuferin an der Kasse darauf ansprach, erklärte diese lächelnd:

„Das sind Karreeabsätze, auf denen läuft es sich wirklich gut. Viele Kundinnen kaufen diese Schuhe gleich mit dazu.“

„Dann bin ich auch so eine Kundin.“

Kirsten zückte ihre EC-Karte und bezahlte. Als sie die Summe hörte, musste sie allerdings kurz schlucken, denn sie war es nicht gewohnt, so viel Geld auf einmal auszugeben, doch heute tat es ihr nicht wirklich weh, ganz im Gegenteil. Außerdem hatte sie ja noch ihren Welt-retten-Plan mit den Spenden.

Die Erkenntnis beflügelte sie geradezu, denn offensichtlich hatte sie es auf Anhieb gefunden, das perfekte Kleid. Nun konnte der Samstag kommen.

Die Zahnpastalächelnde packte alles so sorgfältig ein, als verstaue sie das Zarengold. Sie reichte Kirsten die edlen Tüten und öffnete ihr lächelnd die Tür.

Die kann jetzt zumachen, die hat für heute ihr Soll erfüllt.

Sie beschloss zur Feier des Tages in der Stadt noch etwas zu essen und entschied sich für ein hübsches italienisches Restaurant. Sonst ging sie nicht häufig in Restaurants, doch heute bestellte sie sich Bruscetta, Linguine mit Garnelen und Panna Cotta als Dessert. Sie war regelrecht in Stimmung, Geld auszugeben, nein, Geld herauszuhauen. Kurbel die Wirtschaft an, mach noch ein bisschen weiter damit.

Gestärkt von dem Essen machte sie noch einen Bummel durch die Geschäfte und fand viele schöne Teile. Im Gegensatz zu ihren sonstigen Bummeln kaufte sie heute alles, wirklich alles, von den Ohrringen über den Pullover bis hin zu den Wildlederstiefeln für 160 Euro. Da würde der liebe Florian bestimmt heftig schlucken, aber egal. Es war doch ihr Geld.

Bepackt mit Tüten wie ein Lastenesel kam sie zurück ins Parkhaus, bezahlte ohne mit der Wimper zu zucken die neun Euro Parkgebühren und fuhr bester Laune durch den aufkommenden Feierabendverkehr nach Hause. Heute störte sie sich nicht einmal an der relativ lahmen Lüftung ihres schicken schwarzen Kombis, die kaum damit hinterherkam, die Scheiben frei von Beschlägen zu halten.

Daheim holte sie mit großer Sorgfalt ihre Neukäufe aus den Tüten und platzierte alles im und am Kleiderschrank. Das war wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag. Sie zog sich das Seidenkleid noch einmal an und stand ungläubig vor dem Spiegel. Was für ein Kleid! Den Rest des Nachmittages verbachte sie mit Telefonaten. Zunächst erzählte sie ihrer besten Freundin Ulla von allem, was passiert war, reduzierte das Zusammentreffen mit Christoph am Samstag aber auf eine nette Unterhaltung in der Küche. Ihre Aufregung deswegen verschwieg sie vorsorglich, denn sie wusste, dass die bodenständige Ulla wenig Verständnis für Kirstens Schwärmerei haben würde, dabei sah sie sich selber heimlich Fotos von Leonardo di Caprio im Internet an und ging in jeden Film mit ihm. Als sie von der Weihnachtsfeier berichtete, war Ulla zwar erstaunt, pflichtete Kirsten dann aber bei: „Du musst wirklich wieder mehr unter Menschen, Kiki, das Zusammensein mit deinem stummen Vater ist nicht gut für dich. Du warst früher so eine lustige Nudel! Und wenn dieser Typ so nett ist, hast du vielleicht endlich mal einen da, mit dem du eine Runde quatschen kannst.“

Kirsten fasste das als erteilte Absolution auf, wenn auch eine zurechtgedrehte. Quatschen ist also zumindest erlaubt, das ist doch schon mal ein Anfang.

Neugierig geworden auf das gründlich beschriebene Kleid wollte sie morgen vorbeikommen, wenn sie ihre kleine Tochter zum Reitunterricht gebracht hatte.

Dann rief Kirsten gleich noch im Kosmetiksalon an und vereinbarte für Donnerstag einen Termin. Als das Telefon wieder klingelte, nahm sie ab und meldete sich nur mit einem „Ja?“.

Es war Florian.

„Kiki, ich komme heute etwas später, warte mal lieber nicht mit dem Essen auf mich.“

„Kein Problem, ich habe schon gegessen.“

Sie merkte, wie er zögerte.

„So?“, fragte er verunsichert, denn das hatte sie noch nie gemacht.

„Ich hab mir ein ganz tolles Kleid gekauft und war danach beim Italiener!“, gab sie fröhlich zurück. Eigentlich zwei tolle Kleider, aber was soll's. Interessiert ihn sowieso nicht.

„Das ist aber schön“, sagte er nur und klang dabei völlig verstört.

„Ich werde dann schon früh ins Bett gehen“, sagte sie weiter, „ich habe noch so ein spannendes Buch liegen und wollte heute Abend das Ende lesen.“

„Nur zu“, antwortete er, „ich werde leise sein, wenn ich komme.“

„Bis dann!“, verabschiedete sie sich.

„Ja, bis dann“, sagte er und legte auf.

Puh, das war einfacher als erwartet. Während er mit Kirsten sprach, hatte Sandra sich erwartungsfroh in der Tür zu seinem Büro postiert und gestrahlt, als er den Daumen nach oben streckte. Wundern tat er sich aber dennoch über seine Frau, die plötzlich shoppen ging und sich danach noch ein Essen beim Italiener gönnte, ganz allein! Das kannte er von ihr gar nicht.

Er ging zu Sandra und küsste sie zärtlich, dann gingen sie eng umschlungen zur Garderobe und holten sich ihre Sachen. Sie waren die letzten in ihrer Abteilung und konnten ihr Versteckspiel für heute aufgeben. Sie würden den Abend in ihrer kleinen Wohnung verbringen und er würde erst spät aufbrechen zu seiner Frau, die ja mit ihrem Krimi früh schlafen gehen wollte und so einen festen Schlaf hatte, dass sie gar nicht merken würde, wenn er erst mitten in der Nacht von seiner Geliebten zu ihr zurückkehrte. Wer hätte gedacht, dass es so einfach war, eine außereheliche Affäre zu haben.

Als sie mitten in der Nacht von dem blassen Licht geweckt wurde, das aus dem Badezimmer ins Schlafzimmer fiel, warf sie einen verstörten Blick auf ihren Wecker. Es war drei Uhr morgens.

Am nächsten Tag rief sie noch vor der Fahrt ins Büro beim Frisör an und hatte Glück. Bei Henriette, ihrer Stammfrisörin, war noch ein Termin um Viertel nach eins zu haben. Perfekt. Die würde sich wundern, versuchte sie doch in regelmäßigen Abständen, Kirsten eine neue Frisur aufzuhucken. Auf den Tag wartete Henriette seit Jahren.

Sie zog sich mutig die neue enge Jeans an, dazu die neue Bluse in Lila und die Wildlederstiefel, in die sie ohne große Probleme hineinschlüpfte. Mit einem langen Schuhlöffel ging vieles, das man vorher nicht für möglich gehalten hatte. Sie sandte ein Stoßgebet zu der Verkäuferin, die ihr den Schuhlöffel angepriesen hatte wie Sauerbier.

Florian sah erstaunt auf, als sie in ihrem Outfit in die Küche stöckelte.

„Guten Morgen!“, flötete sie fröhlich.

„Morgen“, kam es zurück, doch mehr sagte er nicht, kein Kompliment, kein nichts, kein gar nichts. Enttäuschung machte sich in ihr breit, aber was hast du von ihm erwartet? Komplimente sind nicht sein Ding, Aufmerksamkeit ist auch nicht sein Ding.

„Musst du heute wieder so lange arbeiten? War ja ganz schön spät oder früh, wie man's nimmt.“

„Ach, bist du aufgewacht? Das tut mir leid“, sagte er mit einem übertriebenen Bedauern in der Stimme und plötzlich wurde Kirsten hellhörig. Sonst kümmerte es ihn doch auch nicht, wenn sie schlecht schlief, Egoismus war generell seine Stärke.

„Wo warst du denn so lange?“, hakte sie nach, was sonst gar nicht ihre Art war, doch irgendwie hatte sie ein ungutes Gefühl. Leben und leben lassen, das war sonst ihr Motto. Sie mochte Menschen nicht, die ihrer Umgebung andauernd auf den Zahn fühlten.

„Ich war im Büro“, antwortete er knapp.

„So, im Büro warst du. Musst du denn heute wieder so lange im Büro bleiben?“ Honigsüß klang das, doch nun schrillten bei ihm sämtliche Alarmglocken.

Florian wurde heiß und kalt. Was sollte dieser spitze Kommentar? Ahnte sie vielleicht etwas! Er ermahnte sich zur Vorsicht. „Nein, nein, das war nur eine Ausnahme gestern“, versicherte er eifrig.

Kirsten schaute auf die Uhr an ihrem Handgelenk und nahm einen großen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. „Muss los, mach's gut“, sagte sie und verließ die Küche. Da war etwas nicht in Ordnung, das spürte sie genau. Doch das würde bis Sonntag warten müssen, jetzt war der Samstag erst einmal wichtiger.

Kirsten verließ den Salon mit Strähnen im brünetten Haar und einem glatten, kinnlangen Bob, gehalten von, so kam es ihr zumindest vor, tonnenweise Haarspray. Henriette hatte das Ozonloch gleich mit zugesprüht. Dafür war das Konto um 100 Euro leerer und sie um einen erneuten Termin am Samstag reicher. Zufrieden schielte sie im Auto immer wieder in den Innenspiegel und hätte so beinahe einen Radfahrer übergemangelt, der zum Abbiegen vor ihr Auto zog. Sie hupte, er erschrak und schimpfte dann hinter ihr her. Mit eindeutigen Gesten zeigte sie ihm, was sie von ihm hielt, als sie davonbrauste, und dabei fluchte sie wie ein Rohrspatz. Diese verfluchten Drahteselidealisten! Radfahrer waren ihrer Meinung nach die überflüssigsten aller Verkehrsteilnehmer, denn sie verlangten den Autofahrern volle Konzentration ab, während sie selbst durch die Gegend heizten wie die Irren. Zum Glück konnte sie beim Autofahren niemand fluchen hören, da hätte sich so manch einer über ihren Wortschatz gewundert, der sie sonst für ein braves Lämmchen hielt.

Ulla staunte nicht schlecht bei Kirstens Anblick: „Mensch, Kiki, wie siehst du denn aus?“, fragte sie ungläubig und bewunderte das Kleid und die neue Frisur über alle Maße.

„Du siehst ja aus wie ein Model!“

Typisch Ulla, Übertreibungen waren ihr Geschäft, denn sie arbeitete als Immobilienmaklerin, und da war es gut fürs Geschäft, ein bisschen zu übertreiben. Da konnte aus einer freistehenden Villa schon mal ein großzügiges Herrenhaus werden. Wie pflegte sie immer zu sagen? Klappern gehört zum Handwerk. Kaum, dass sie Kirsten überschwänglich bestaunt hatte, klingelte ihr Handy und sie musste los, um ihrer kleinen Tochter beizustehen, die vom Pferd gefallen war und sich dabei wohl die Hand gebrochen hatte. Schade, denn Kirsten konnte den ermutigenden Zuspruch ihrer besten Freundin gut gebrauchen. Von wegen Glück auf Erden auf irgendwelchen Rücken von Pferden! Wessen Glück meinte dieses Sprichwort? Das Glück von Unfallchirurgen?

So blieb ihr wieder nur der Haushalt übrig. Mädchen, was ist dein Leben langweilig. Du gehst arbeiten bei deinem Vater, der stumm ist wie ein Fisch, dein Mann legt nur noch Stippvisiten daheim ein und deine beste Freundin ist so eingespannt in Sachen Familie, dass sie auch nie Zeit hat. Du brauchst dringend was zu tun.

Ein Kind – fällt flach, du heimliche Pillenschluckerin.

Eine Katze - dein Mann hasst Katzen, fällt auch flach. Nicht auszudenken, wie man die Haare auf dem Laminat sehen würde!

Einen Hund – das ganze Gassigehen bliebe an dir kleben, darauf hast du auf Dauer keine Lust, ist ergo auch gestrichen. Außerdem wieder die Laminat-Problematik...

Oder mehr Zeit mit dem Referendar – ist unmoralisch, gehört sich nicht, wäre aber dennoch reizvoll.

Hör auf zu träumen!

Florian kam abends auf die Minute pünktlich nach Hause. Nach dem Gespräch morgens in der Küche hatte er es nicht gewagt, einen erneuten Liebesabend mit Sandra zu verbringen, so dass sie es heute bei einem Quickie in der Mittagspause oben im Treppenhaus belassen mussten.

Seine Frau war kaum wiederzuerkennen, und die neue Frisur stand ihr wirklich gut. Er war überrascht und verunsichert zugleich: Ahnte sie etwas? Woher dieser plötzliche Sinneswandel von der unauffällig schlichten Frau zur herausgeputzten Schönheit? Dass sie schön war, hatte er natürlich immer gewusst, doch sie hatte diese Schönheit schlummern lassen. Nun rannte sie zum Frisör und kaufte sich neue Klamotten, und sein eitles Ego kam nur zu einem Schluss: Sie ahnte etwas und wollte ihn so halten.

Im Bett hatten sie endlich mal wieder Sex, wenn auch keinen besonders guten. Zumindest im Vergleich mit Sandra. Aber er fühlte sich verpflichtet, um ihr Misstrauen zu durchbrechen, also kam er seinen, wie es so schön hieß, 'ehelichen Pflichten' nach. Doch es fühlte sich wirklich an wie eine Pflichtveranstaltung.

Kirsten spielte irgendwann einen Orgasmus vor, um endlich ihre Ruhe zu haben, woraufhin er kam und im Bad verschwand. Als er wieder zurückkam, stand sie auf, drückte den Mausi-Alptraumschlafanzug eng an sich und huschte ebenfalls ins Bad, wo sie ausgiebig duschte und sich die Zähne putzte. Bei ihrer Rückkehr ins Schlafzimmer war Florian längst eingeschlafen und schnarchte leise.

Der Rest der Woche verging wie im Fluge. Die Kosmetikerin drückte wie befürchtet an ihren Poren herum, zupfte, cremte und verwöhnte. Hinterher glänzte Kirsten wie eine fleckige Speckschwarte, fleckig, speckig, aber dennoch glücklich und erholt. Sie eilte in ihr Auto, denn bei ihrem Glück würde sie so noch jemanden treffen, der sie kannte, und ihren Anblick after Wellness wollte sie der Weltöffentlichkeit denn doch ersparen. Florian spöttelte abends über ihr Aussehen und ging dann noch joggen. Sie ging früh ins Bett, um ausgeruht für den morgigen Tag zu sein. Dass ihr Mann erst um vier Uhr wieder zu ihr ins Schlafzimmer kam, merkte sie nicht.

Versuchung

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