Читать книгу Versuchung - Nina Galtergo - Страница 4

Die Büchse der Pandora

Оглавление

Und dann war er gekommen, der große Tag. Florian war missmutig gewesen, als er von den ganzen Terminen hörte, die Kirsten heute ausgemacht hatte. Zur Kosmetikerin fürs Makeup und zur Frisörin wegen der Haare (bei ihrem mangelnden Stylingtalent saß der Bob nämlich nicht mehr ganz so perfekt, und die Haare waschen musste sie sich ja schließlich), danach würde sie direkt zu der Firma kommen, für die er in der Rechtsabteilung arbeitete.

Um 18 Uhr war es dann soweit: Kirsten betrat das Gebäude mit einem Puls jenseits von Gut und Böse. In ihrem ungewohnt tiefen Dekolletee, zusätzlich geschönt durch einen Push-up, leuchteten Hektikflecken, ausgerechnet. Zum Glück war sie gestern noch einmal in dem schicken Laden vom Montag gewesen und hatte nach einem Jäckchen gefragt (Ullas Idee), und in der Tat gab es einen passenden Bolero, der nun beim Retuschieren der Hektikflecken (oder waren es Panikflecken?) behilflich war. Den Tipp der Kosmetikerin hatte sie befolgt und bräunende Körperlotion benutzt. Tatsächlich hatten die wenigen Male cremen genügt, um ihr eine sanfte Bräune zu verleihen, wenn sie auch in den Kniekehlen und an den Knöcheln eindeutig überpigmentiert war und den Teint einer Orange angenommen hatte, einer Orange mit Sonnenbrand.

Sie betrat den Fahrstuhl und fühlte sich wie ein Delinquent auf dem Weg zum Schafott, denn ihre Zuversicht schwand von Minute zu Minute. Was erhoffte sie sich von diesem Abend? Glaubte sie wirklich, dass sie mithilfe eines aufgehübschten Äußeren die Männer bzw. den einen Mann für sich erhitzen konnte? Am liebsten hätte sie auf den bequemen Absätzen kehrt gemacht, doch dafür war es zu spät, denn die Fahrstuhltür öffnete sich. Du machst dich lächerlich, du bist hier in einer Büroetage und nicht auf dem roten Teppich! LÄCHERLICH!!! Kirsten betrat den schlichten Flur der Rechtsabteilung, der mittels Girlanden aus Kunsttanne, riesigen roten Plastikschleifen und Mistelzweigen aufgepeppt worden war. Miss Sophie und Butler James aus Dinner for one huschten ihr durch den nervösen Kopf: Same decoration as last year, Miss Sophie? Same decoration as every year, James.

Sie hörte eine schraulige Aufnahme von „Santa Clause is coming to town“ und bekam von der Seite her eine Weihnachtsmütze aufgesetzt, eine Weihnachtsmütze mit langen blonden Zöpfen aus billigem Kunsthaar auf ihrer neuen Frisur! Wäre die Mütze nicht so blöde gewesen, hätte Kirsten glatt darüber lachen können. So zog sie sich diese Zumutung wortlos wieder vom Kopf, ärgerte sich über die Dreistigkeit, ihr dieses Unikum auf ihren frisch frisierten Kopf zu stülpen und legte das Ding auf dem nächstbesten Cocktailtischchen ab, fern ab von dem Teelicht, das im zugigen Flur vor sich hin flackerte, denn flammbar war die Mütze hundertprozentig. Und abfackeln wollte sie die Firma denn doch nicht, schließlich saß ihr Mann dank der Firma oft und lange im Büro und ergo nicht daheim.

Einige Kollegen begrüßten sie freundlich, aber reserviert. Verstört bemerkte sie, wie die Frauen ihr abschätzige Blicke zuwarfen, aber sie achtete nicht darauf, was diese zugespachtelten Fregatten hinter ihrem Rücken zischelten. Sie hielt Ausschau nach Christoph, doch alles, was sie erblickte, war der althergebrachte Florian, der mit breitem Lächeln durch den Raum auf sie zusteuerte.

„Liebling, schön dass du da bist“, flötete er so laut, dass es garantiert ein paar Anwesende hören konnten. Wie der schauspielern kann! Sähe er noch aus wie George Clooney, hätte er glatt einen Oscar in der Tasche! Aber mit der Visage... konnte er höchstens den tumben Handlanger des Bösewichts in einem James Bond spielen. Und tumbe Handlanger bekamen keinen Oscar, sondern die Häme des Publikums zu spüren, wenn sie am Ende hilflos im Ozean zwischen einem Rudel hungriger Haie trieben oder sich die Horde Piranhas im Aquarium das Lätzchen umband, wenn der tumbe Handlanger hineinfiel.

Florian betrachtete seine Frau verstohlen von der Seite. „Verdammt,", huschte es ihm durch den Kopf, „muss sie sich ausgerechnet heute so anziehen? Wo hat sie dieses Kleid nur her? Wenn Sandra das sieht, die flippt aus!"

„Ja, schön“, sagte sie nur.

„Möchtest du was zu trinken?“

„Ich nehme ein Wasser“, gab sie zurück.

Florian stutzte und fragte sich, warum sie heute nur ein Wasser haben wollte. Sonst hatte sie doch immer den Abend hier nur mithilfe von zig Champagner überstanden und zum Schluss angeschickert in seinem Büro gesessen.

„Gut, für dich ein Wasser!“, sagte er hölzern und ging zu der provisorischen Bar.

Christoph schlenderte durch den Gang, schon wieder! Es war seine zigste Runde durch die trostlosen Flure und Räume der Firma.Die Feier war so öde, wie alle vorher behauptet hatten, denn außer Essen und Trinken gab es absolut nichts zu tun. Abrupt blieb er stehen, denn er hatte endlich Kirsten erblickt. Obwohl er sich das niemals eingestanden hätte, war er doch auf der Suche nach ihr gewesen. Sie sah verändert aus, die Haare waren auf jeden Fall anders, ihr Kleid war schlichtweg atemberaubend und gerade ging ihr Mann davon. „Da ist sie. Vermassel es nicht!", ermahnte Christoph sich und ging mutig auf sie zu.

Kirsten merkte, dass jemand von der Seite an sie herantrat. Vor Aufregung vergaß sie glatt das Atmen.

„Hallo, schöne Frau, kennen wir uns nicht?“, fragte er lächelnd.

Und dort stand er tatsächlich, der Mann, den sie in ihrer Erinnerung schon zu einer Heiligenerscheinung verklärt hatte, dessen Existenz der Grund dafür war, dass sie hier und jetzt in diesem Kleid mit dieser Frisur und diesem Makeup, diesem Push-up, rasierten Beinen und diesem Parfum anwesend war auf der scheußlichsten Weihnachtsfeier der ganzen weiten Welt. Und in natura sah er noch besser aus, als in ihrer vagen Erinnerung von wenigen Augenblicken, die sie zwischen Geschirrstapeln und leeren Getränkeflaschen in ihrer chaotischen Küche miteinander verbracht hatten.

Er trug eine dunkle Jeans mit einem Jackett und einem Hemd, womit er deutlich besser aussah als die übrigen Herren, die anwesend waren. Im Gegensatz zu ihr hatte er eine echte leichte Bräune im Gesicht, was seine Attraktivität noch untermauerte. Freudig strahlte er sie aus seinen blauen Augen an und sie bemerkte kleine Lachfältchen an seinen Augen. Lachfältchen bekommen nur die Fröhlichen, nicht solche Miesepeter wie deine Knallcharge von Mann!

„Hallo“, erwiderte sie recht einsilbig, doch das schien seine Freude über ihr Erscheinen nicht zu schmälern, denn er strahlte nach wie vor wie eine Supernova.

„Du siehst ganz toll aus“, schwärmte er leise. „Du hast eine neue Frisur und“, er tuschelte ihr den Rest des Satzes mit geneigtem Kopf zu und kam dabei so nah, dass sie seinen warmen Atem auf ihrem Haar spüren konnte, „mit diesem Kleid kannst du hier heute alle Männer becircen, aber das weißt du ja sicherlich.“ Er roch angenehm nach Pfefferminz.

Sie spürte das Blut in die Wangen schießen, merkte, wie sich ihr Puls beschleunigte und ihr Körper tonnenweise Glückshormone in ihre Blutbahn jagte, gepaart mit ein bisschen Verblüffung über seine Unverfrorenheit. Seine körperliche Nähe verursachte ihr gleichzeitig ein längst vergessenes Hochgefühl und Unbehagen. Es war wie beim Anblick des Schwarms auf dem Schulhof, der zwei Klassen über einem war und einen durch ein einfaches Lächeln oder Winken fast zu Tode aufregte. Und der dabei die Schulschönheit umarmte. Mach dich nicht lächerlich! Atme durch, beruhige dich!

„Ach das Kleid“, wiegelte sie ab, „das ist doch nichts Besonderes! Und zum Friseur musste ich sowieso.“ Lass ihn bloß nicht merken, wie er dich aus dem Tritt bringt.

„Was redest du da? Du bist mit Abstand die schönste Frau hier!“

Kompliment war Kompliment, und in so einem komplimentarmen Leben wie dem ihren war ein Kompliment etwas Außergewöhnliches. Dennoch missfiel ihr das, was er von sich gab. Es schien ihre kühnsten Erwartungen in punkto seiner Motivation zu bestätigen, doch genau davor hatte sie Angst. Sie hatte in Wahrheit einen Riesenbammel davor, dass dieser Jüngling mehr wollte als nur unverfängliches Geplauder.

Florians Kommen hatte sie vor lauter Aufregung gar nicht bemerkt. Zögerlich stand er da mit dem Wasserglas in der einen und einem Sektglas in der anderen Hand. Unbeholfen.

„N'Abend“, sagte er etwas reserviert zu Christoph.

„Oh, guten Abend!“, antwortete dieser höflich, und wenn ihm die Situation irgendwie unangenehm war, so verbarg er das vollkommen. Er lächelte Florian unschuldig an und sagte:

„Es ist schön, dass Sie Ihre Frau mitgebracht haben, Herr Meiffert.“ Noch ein Schauspieler. Aber ein besserer, hübscherer, ein vielversprechender Anwärter für die beste Nebenrolle.

„Ja, das finde ich auch“, gab Florian knapp zurück, dann hielt er Kirsten auffordernd das Glas vor die Brust. „Hier, dein Wasser!“ Zuvorkommend wie immer, durch und durch ein Gentleman...

„Danke schön.“

Meine Chance, zu Sandra zu kommen. Umso besser, wenn sich dieser Jüngling lieber mit ihr unterhält, dann muss ich es nicht tun.

„Ich dreh' mal meine Runden, wie das halt so ist als Chef“, sagte er mit einem tiefen Seufzer und wollte den Anschein erwecken, als ginge er nicht gerne.

„Ja, bis später dann“, sagte Kirsten mit aufgesetzter Fröhlichkeit, erleichtert darüber, dass sich diese unangenehme Situation so schnell entkrampfte. Andererseits wäre sie froh gewesen, wenn er geblieben wäre, denn damit hätte sich die Spannung in Wohlgefallen aufgelöst. So stand sie wieder vor der unangenehmen Aufgabe, herauszufinden, was das Motiv dieses Charmebolzens war.

„Bis später“, sagte auch Christoph, noch immer freundlich, doch reserviert lächelnd.

Florian ging davon und verließ den langen Flur, weil er in irgendein Büro abbog. Und sie war wieder allein mit Christoph, naja, fast allein, wenn man mal von den versammelten Arbeitskollegen ihres Mannes absah.

Sprich mit ihm. „Wie war das Skifahren?“, fragte sie und wandte sich ihm zu.

„Nicht halb so schön wie der Abend noch hätte sein können, wenn ich nicht hätte gehen müssen.“

Oh mein Gott! Schleimalarm! Und Schleimer hatte sie noch nie gemocht. Sie zuckte kurz mit der rechten Augenbraue. Das war ein echter Tick von ihr, der Skepsis zum Ausdruck brachte und Ulla immer lachen ließ, wenn Kirsten beteuerte, dass alles stimmte, gleichzeitig ihre Augenbraue aber Salsa tanzte.

Autsch! „Das war auswendig gelernt und es gefällt dir nicht“, stellte er nüchtern fest. Offenbar hatte er das Zucken richtig gedeutet.

„Nun, ich mag Männer nicht, die ständig nur schleimen.“

Hatte sie das wirklich gesagt? War sie verrückt geworden, das zu ihm zu sagen? Kirsten, was redest du denn da? Gleich dreht er ab und lässt sich nie wieder blicken!

„Ich auch nicht. So anbiedernde Typen haben es immer nötig“, gab er zurück.

„Und warum sagst du dann solche Sachen?“

„Einerseits, weil es wirklich stimmt. Andererseits, weil ich unbedingt mit dir im Gespräch bleiben will und nicht so ganz genau weiß, was ich sagen soll, und du nie viel sagst, ich also die Konversation mehr oder weniger alleine bestreiten muss.“ Entwaffnend grinste er sie an, beinahe dreist.

Sie war überrascht von so viel Schlagfertigkeit und Ehrlichkeit und kombinierte blitzschnell, dass auch er sich auf dieses Wiedersehen vorbereitet hatte. Dieses Wissen beruhigte sie, denn es bedeutete, dass seine Kontaktaufnahme an Florians Geburtstag nicht zufällig gewesen war und sie sich das Knistern zwischen ihnen nicht eingebildet hatte. Es beunruhigte sie aber auch, weil sie nicht wusste, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Sie ermahnte sich zur Vorsicht, immerhin war sie eine verheiratete, ältere Frau, die Frau seines momentanen Chefs. Dennoch juckte es sie in den Fingern, herauszubekommen, was hier vor sich ging, was dieser viel zu attraktive, nette Mann von ihr wollte, wie weit er gehen würde, ob er es bei einem harmlosen Flirt beließe oder mehr wollte. Dinge wollte, die sie ihm nicht geben konnte, obwohl konnte schon, aber nicht durfte.

„Siehst du, schon sagst du nichts mehr“, warf er bedauernd ein. „Ich wusste doch, dass ich es vermasseln würde.“

Wieder schwiegen sie einander an. Die Weihnachtslieder vom Band erfüllten die peinliche Stille zwischen ihnen. Er sah sie forschend an, sie schaute vehement an ihm vorbei, um sich nicht noch mehr die Blöße zu geben. Sie wusste genau, dass ihr sorgsam geschminktes Gesicht glühte wie ein Flutscheinwerfer, und sie wusste, dass er es bemerkte. Damit musste es doch für ihn auf der Hand liegen, wie er sie aus dem Gleichgewicht brachte. Mit einem kleinen bisschen Aufmerksamkeit von seiner Seite erlangte sie die bedauerliche Konsistenz eines Stückchens Schokolade im heißen Wasserbad.

Ein Teil von ihr wünschte sich so sehr, dass er ihr noch höflich einen schönen Abend wünschen und dann weitergehen würde, dass sie sich danach dem Schampus hingeben und später an Florians Schreibtisch angesäuselt traditionell den Rest des Abends verbringen konnte, um nachts wieder zurückzukehren in ihr glückliches Heim an der Seite ihres Mannes.

Der abenteuerlustige, rebellische Teil von ihr wünschte sich nichts mehr, als mit diesem Mann im Gespräch zu bleiben und sich ein wenig abzulenken von ihrem tristen Alltag.

Er atmete tief ein und aus, er sah resigniert aus.

„Na gut, es tut mir leid,“ begann er zögerlich, „wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin, Frau Meiffert. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

NEIN! Hat er das wirklich gesagt? Das darf nicht sein. Lass ihn nicht ziehen!

„Du bist mir nicht zu nahe getreten!“, brach es schnell aus ihr heraus, als er sich gerade wegdrehen wollte, „Du bist mir wirklich nicht zu nahe getreten. Und seit wann siezen wir uns wieder?“

„Ich dachte nur, weil“, er brach ab und begann von Neuem, „ich hatte den Eindruck, meine Anwesenheit ist dir irgendwie unangenehm. Und ich will dir ja nicht die Weihnachtsfeier ruinieren.“

Oha, er hat es bemerkt. Jetzt nur nichts anmerken lassen, Mädchen!

„Das ist das erste Mal seit Jahren, dass ich mich auf der Weihnachtsfeier mit jemandem länger als eine Minute unterhalte und du willst gehen? Ich wusste ja, dass ich nicht die Unterhaltungsbombe bin“, seufzte sie mit gespielter Empörung.

Er grinste. „So schlimm ist es nicht. Und wenn du mich so bittest, bleibe ich noch etwas. Wenn es dir nichts ausmacht natürlich.“

„Es macht mir nichts aus.“

„Dann ist es ja gut.“ Er lächelte, viel zu umwerfend. „Dann bleibe ich gerne an deiner schönen Seite und unterhalte mich mit dir.“

Wieder ein Kompliment... Er findet dich schön. Und du ihn erst!

„Wie läuft es denn so für dich in der Firma?“, fragte sie schließlich, bemüht um Schadensbegrenzung, „Willst du später hier anfangen?“

„Bisher wollte ich das, aber seit letzter Woche nicht mehr. Was wohl heißt, dass ich doch das Angebot meines Vaters annehme und ihn beerbe.“

„Was ist denn passiert letzte Woche? Gab es Stress?“

Er lächelte wieder, dieses Mal mit einem Hauch bitterer Ironie: „Nein, letzte Woche habe ich dich kennengelernt.“ Er biss sich verlegen auf die Unterlippe und starrte zu Boden.

Seine Aussage versetzte ihr einen Schlag in die Magengrube. Von wegen unverfängliches Geplänkel, Fräulein, nun wird das Eis unter deinen Füßen aber langsam dünn.

Wütend funkelte sie ihn an. Sie war wütend auf ihn, weil er ihrem harmlosen Abenteuer die Unschuld nahm und immer das Falsche sagte. Sie war aber noch viel wütender auf sich selbst, weil sie seine Antworten nur zu gerne hören wollte. Wenn sie nicht ins Straucheln geraten wollte, musste sie jetzt die Bremse ziehen, dann war es wieder Essig mit dem schönen Abend.

„So etwas solltest du nicht sagen!“, fauchte sie ihn leise an, „Ich bin die Frau deines Chefs und ich bin noch dazu etliche Jahre älter als du!“ Reiß dich zusammen, Kirsten, du vergraulst ihn und dann bleibt wieder nur der Champagner! - Egal, so geht es nicht.

Er zuckte mit einer bedauernden Geste die Schultern: „Es tut mir wirklich leid, dass du die Frau meines Chefs bist. Das kannst du mir glauben.“ Er zögerte. „Aber ich finde dich sehr interessant“, am Schluss wurde er äußerst leise, denn die neugierigen Geier zogen in enger werdenden Kreisen durch den breiten Flur.

Langsam gingen sie immer weiter auf die Ecke zu, weg von den anderen, die mit ihren Blicken folgten, weil es ihnen ungewöhnlich vorkam, dass sich die schweigsame Frau des Chefs ausgerechnet mit dem Referendar unterhielt.

„Ich finde dich interessanter, als du es für mich sein solltest. Um genau zu sein, es regt mich auf, dich zu sehen. Dass du ein bisschen älter bist, macht die Sache doch eigentlich nur interessanter für uns beide“, flüsterte er weiter und blickte ihr erwartungsvoll in die Augen.

Seine Augen waren blau, wunderschöne blaue Augen, in denen man sich verlieren konnte, wenn man es zuließ. Lass es nicht zu, er wird dich nur ausnutzen und enttäuschen! Schiel auf den Boden, lenk dich ab, ignorier das Kribbeln.

Seine Offenheit hatte sie nicht erwartet. Sie hatte damit gerechnet, an diesem Abend ein wenig unverfänglich mit ihm zu plaudern und vielleicht ein bisschen zu flirten, aber mehr auch nicht, denn dieser Mann war für sie nach wie vor eine Taube auf dem Dach. Ein junges, verbotenes, leckeres, knuspriges Täubchen, liebevoll auf dem Silbertablett angerichtet, das sie mit ihrem Verhalten mit dem Rücken an die Wand drückte wie ein verschrecktes Wiesel und Entscheidungen von ihr verlangte, die sie nicht zu treffen wagte. Dieses alte Lied sauste durch ihren dröhnenden Kopf. Barfuß oder Lackschuh, alles oder nichts. Dazu die lustige Nummer dieser Comedytruppe. Billige Reize...

„Was willst du von mir?“, fragte sie leise. Wenn sie sich auf glattes Eis wagte, musste sie den Einsatz genau kennen. Für bloße Vermutungen war das Unternehmen zu riskant.

„Kirsten, ich will dich doch nur ein bisschen kennenlernen, mehr nicht. Da ist nichts dabei“, antwortete er betont unbedarft. Was er sonst noch wollte, fügte er nur in Gedanken hinzu, denn das traute er sich nicht zu sagen. Er war sowieso schon viel zu offensiv gewesen und hatte sie mit seinen Äußerungen total überrumpelt, das spürte er deutlich und sah es auch an ihrem Blick. So hatte sie sich den Abend gewiss nicht ausgemalt. Doch ihr Anblick hatte ihn kopflos gemacht und ihr Geruch ihn berauscht. Nie zuvor hatte er sich bei einer Frau, die er kaum kannte, so weit aus dem Fenster gelehnt und dabei so viel riskiert. Was, wenn sie ihrem Mann erzählte von den Dingen, die er von sich gegeben hatte? Das konnte ihn einen glatten Start in seine berufliche Zukunft kosten. Doch viel schlimmer war die Vorstellung, sie zu verschrecken und in die Flucht zu schlagen mit seinem liebestollen Verhalten. Deswegen atmete er nun tief durch und beschloss, ihre Reaktion abzuwarten.

Sie wurde puterrot und schwieg.

Er zählte die Sekunden der Stille.

George Michael sang Last Christmas, das ganze Lied, ohne dass einer von ihnen noch etwas sagte.

- Er wartet auf eine Antwort, sag was, irgendwas. Er will was von dir! Yeah! Was er alles von ihr wollte, konnte sie ohne Probleme erahnen, denn er sah sie voller Erwartung und unverhohlener Begierde an. Vor ihrer Ehe hatte sie sich genug ausgetobt, um diesen Blick zu kennen und zu entschlüsseln. Florian hatte sie niemals so angesehen, vielleicht konnte er das mit der Brille auch gar nicht, doch das war jetzt egal, denn Florians Gleichgültigkeit hatte sie erst in diese Lage gebracht. Wäre Florian ihr gegenüber nicht abgetaucht wie ein U-Boot in feindlichen Gewässern, dann hätte sie jetzt überhaupt keine Zweifel gehabt, sondern Christoph sofort eine Abfuhr erteilt nach dem Motto: Tut mir leid, du bist ein toller Mann, aber ich bin glücklich verheiratet. Und der letzte Funken Verstand in ihr, der zaghaft aufglimmte, plädierte entschieden für diese Variante. Doch ihre Abenteuerlust und ihr ganzer Ehefrust, der ganze Frust an ihrem Leben, gewannen einen ungleichen Kampf und sie schwieg. Fakt war, dass dieser junge Typ sie wollte, Fakt war, dass sie sich aufgebretzelt hatte, um diesem Typen zu gefallen, und dafür gab es einen einfachen Grund: Sie wollte auch. Zumindest sehen, wie weit das gehen würde, was passieren würde. Die Bremse würde sie schon noch früh genug ziehen, beruhigte sie sich, was konnte auf einer Weihnachtsfeier schon passieren? Doch zunächst wollte sie den Zug an Fahrt gewinnen lassen. Verbuch es als Marktanalyse.

Aber sie durfte ihn nicht wollen, sie war verheiratet, und das nicht mit irgendwem. Doch sie spürte, wie seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten, wie das blinde Huhn in ihr feixte wegen des einen Korns, das es gefunden hatte, und allen anderen Hühnern im Stall jubelnd die Zunge herausstrecken wollte. Sie musste eine Entscheidung treffen, ein feiges Kneifen würde sie nicht weiterbringen, kneifend würde es nicht bei dem Bisschen Champagner bleiben, es würde ausarten, sie würde sich besaufen und morgen jammernd in ihrem Bett der Tristesse ihres Daseins erliegen.

„Wir sollten reden, irgendwo, wo es nicht so viele Lauscher an der Wand gibt“, sagte sie schließlich leise mit belegter Stimme.

Er nickte, erleichtert darüber, dass sie nach seinem Frontalangriff überhaupt noch etwas von sich gab. Beruhigend sprach er sich innerlich Mut zu, denn die Spannung war kaum mehr zu ertragen: "Ruhig Blut, sie redet mit dir, das ist schon einmal gut. Sie könnte dich auch gleich hier vor allen zum Teufel jagen."

Nach einem tiefen Durchatmen wagte er den nächsten Schritt: „Ich werde jetzt in mein Büro gehen und du kommst nach, wenn sie alle abgelenkt sind“, schlug er flüsternd vor. Er war sich nicht sicher, ob sie alles verstanden hatte, denn Freddie Mercury schmetterte gerade aus vollem Halse „thank god it's christmas“. Doch sie nickte und so ging er los in das letzte Büro des Ganges, das sie ihm hier zur Verfügung gestellt hatten. Wahrscheinlich war das vorher eine Art Abstellraum gewesen, denn es war sehr klein verglichen mit den Büros der anderen. Doch er war hier nur der Referendar und konnte froh sein, dass er überhaupt ein eigenes Büro bekommen hatte, in dem nicht die Putzsachen gelagert wurden. Aber hin und wieder bildete er sich ein, dass eine sanfte Brise Putzmittelduft durch das Kämmerlein wehte.

Er setzte sich auf den gemessen an der Größe des Büros vollkommen überdimensionierten Drehstuhl und das Warten begann. Durch die Tür konnte er hören, dass nun das Buffet eröffnet war, doch er hatte sowieso keinen Hunger. Die Minuten vergingen mit quälender Langsamkeit. Er legte seinen Kopf in seine aufgestützten Hände und merkte, dass diese unangenehm feucht und kalt vor lauter Aufregung waren. Lächerlich! Natürlich war das nicht die erste Frau, in die er sich verguckt hatte, denn verlieben konnte er sich immer sehr schnell. Vielleicht war das der einzige Bereich in seinem Leben, über den er nicht die Kontrolle hatte, aber das störte ihn nicht. Wenn der Funke übergesprungen war, mochte er es nicht, wenn zwei Menschen erst noch wochenlang umeinander herumstreiften wie hungrige Löwen um ein Hyänenrudel. Er legte die Karten lieber von Anfang an offen auf den Tisch und konfrontierte sich umgehend mit der Reaktion seiner Auserwählten. Wochenlanges Herumbaggern konnte zudem mitunter teuer werden und viel Geld hatte er noch nicht. Außerdem gab es kein beschisseneres Gefühl, als nach Wochen abgewiesen zu werden. Dann lieber kurz und schmerzlos, wenn noch nicht zu viel Verliebtsein im Spiel war.

Doch diese Frau war nicht irgendeine Frau, das war ihm von dem Moment an bewusst gewesen, als er sie in ihrem Haus das erste Mal gesehen hatte. Diese Frau hatte ihn eiskalt erwischt und schwirrte ihm seit einer Woche pausenlos durch den Kopf, morgens, mittags, abends und vor allem nachts. Das konnte sie tatsächlich sein, die große Liebe, und er war hoffnungslos in sie verliebt, das hatte er bei ihrem Wiedersehen heute sofort gewusst. Natürlich hatte er sich das nicht eingestehen wollen, dass er sich so einfach Knall auf Fall in eine Fremde verliebte, doch als er seinem besten Freund Markus voller Euphorie von der Begegnung mit Kirsten bei der Geburtstagsfeier berichtet hatte und ihm erläutert hatte, in welcher Verbindung sie zueinander standen, war dieser sehr überrascht gewesen und hatte schließlich lachend zu ihm gesagt:

„Alter, da kannst du jetzt noch so viele Haare in der Suppe suchen, du hast dich total verknallt in sie.“

Und Christoph hatte geahnt, dass Markus Recht behalten würde, als er sagte: „Wenn sie wirklich die eine für dich ist, musst du es zumindest versuchen, auch wenn deine Chancen schlecht stehen, Kumpel. Hättest es wirklich leichter haben können.“

Und weil es so war, würde er sie nicht kampflos aufgeben, weil sie mit einem ätzenden Aufschneider verheiratet war, der momentan sein Chef war. In acht Wochen würde er fertig sein, dann war er hier weg und der widerwärtige Florian Meiffert, der hinter seinem Rücken nur „Teigfresse“ genannt wurde, konnte ihn mal kreuzweise. Er würde seine Chance nutzen, wenn sie ihm denn eine einräumte. Wenn nicht, würde er auch ohne Kirsten Meiffert weiterleben, allerdings mit dem unguten Gefühl behaftet, etwas Außergewöhnliches verpasst zu haben.

Dass sie heute überhaupt noch mit ihm sprach, war eine ungeheure Erleichterung. Genauso gut hätte sie ihn nach seinem Kontrollverlust beim Abschied in ihrer Küche komplett ignorieren können, und das wäre ihr gutes Recht gewesen und er hatte das durchaus einkalkuliert. Denn was gab ihm die Erlaubnis, sich in ihre Ehe zu drängen? Dazu hatte er kein Recht, das war einfach falsch – wüsste seine Mutter davon, hätte sie ihm wohl unmissverständlich den Kopf gewaschen. „Junge, so etwas tut man nicht!“ Und das stimmte, so etwas machte Mann nicht. Und wenn sich wirklich mehr daraus entwickeln würde, wäre das Resultat eine zerstörte Ehe. Ihre Ehe. Und was, wenn es nicht langfristig funktionierte mit ihnen? Sie würde bestimmt nicht skrupellos lange zweigleisig fahren, so schätzte er sie nicht ein. Also würde sie seinetwegen ihren Mann verlassen, dabei war er selbst noch nie imstande gewesen, eine Beziehung zu führen, die länger anhielt, wobei sein bester Freund darauf beharrte, dass sich dieser Umstand ändern würde, wenn erst einmal die Richtige vor ihm stünde. Doch er verlor nichts und riskierte relativ wenig, im Gegensatz zu ihr. Sie verlöre ihr ganzes Leben, das sie nun führte, obwohl er sich eingestehen musste, dass er nicht genau wusste, was dieses Leben bis jetzt ausmachte. Sie wohnte in einem tollen Haus und hatte ihr Studium abgebrochen, arbeitete halbtags als Sekretärin und hatte relativ jung Florian Meiffert geheiratet. Mehr Informationen hatte er bisher nicht. Doch er vertraute auf ein Gefühl, das er bei der Geburtstagsfeier bekommen hatte: In der Ehe der Meifferts stand es nicht zum Besten. Und dieses Gefühl schien sich heute zu bestätigen, denn Kirsten Meiffert war auf dem Weg in sein Büro.

Die Tür ging nach einer halben Ewigkeit, durchsortierten Ablagefächern, einem aufgeräumten Rollcontainer und natürlich nach unzähligen Weihnachtsliedern einen Spaltbreit auf und sie schlüpfte herein. Durch seine Gedankengänge war er wieder relativ ruhig gewesen, doch nun machte sich die blanke Panik in ihm breit.

„Da bist du ja endlich“, sagte er erleichtert.

„Das war gar nicht so einfach, da wegzukommen“, beteuerte sie.

„Wo ist dein Mann?“, fragte er.

„In seinem Büro mit einer Sekretärin. Er hat mir gesagt, er müsste noch arbeiten.“

Das passte zu diesem furchtbaren Egomanen, dass er seine wunderschöne Frau alleine auf der Weihnachtsfeier stehen ließ, um zu arbeiten.

Für einige Sekunden herrschte ein beklommenes Schweigen zwischen ihnen, weil keiner es wagte, den Anfang zu machen aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Hier standen sie nun. Er, der ganz genau wusste, was er wollte, und sie, die nicht verstand, wieso sie genau das unbedingt wissen wollte. Weshalb sie sich dem Reiz ihrer Begegnung nicht entziehen konnte.

„Weißt du“, begann er schließlich vorsichtig, „ich wollte dich eben nicht erschrecken, ich wollte dich generell nicht erschrecken“, korrigierte er sich hastig, „aber ich bin lieber ehrlich und sage dir von Anfang an, woran du bei mir bist“. „Jetzt bloß keinen Fehler machen", fügte er in Gedanken hinzu.

„Du hast mich vollkommen überrumpelt damit, mit allem, was du tust. Ich bin verheiratet, und du solltest nicht solche Sachen zu mir sagen oder mir Küsschen geben und mich umarmen“.

Womit sie zweifelsohne Recht hatte.

„Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich dich sehr interessant finde. Sehr, sehr interessant“, fügte er ernsthaft hinzu.

„Interessant auf welche Art?“, fragte sie unsicher zurück.

Oh Gott, sie zwang ihn wirklich dazu, es ihr in aller Deutlichkeit zu sagen, dabei fürchtete er nichts mehr als das. Wenn er die Karten offen auf den Tisch legte, gab es wirklich kein Zurück mehr. Dennoch, er würde es sich niemals verzeihen, diese eine Chance verstreichen zu lassen. NIEMALS.

„Interessant auf eine Art, auf die du nicht interessant für mich sein solltest, weil du ja vom Markt bist. Aber natürlich gibt es mir Hoffnung, wenn du mich nach unserem Treffen beim Geburtstag noch grüßt und mit mir sprichst.“

Du machst ihm Hoffnung, sagt er. Au weia.

„Ich kann das nicht richtig nachvollziehen. Wie definierst du interessant?“ Natürlich konnte sie es nachvollziehen, doch sie wollte es hören. Sie musste es hören. Bei dem Risiko durften keine Fragen offen bleiben, da mussten alle Zweifel vom Tisch sein. Und Gründe für Zweifel gab es zur Genüge.

„Ist das wirklich so schwer zu erraten? Du scheinst dir keinen Begriff davon zu machen, wie attraktiv du bist.“

Sie schwieg, ratlos, fassungslos, ein bisschen aber auch geschmeichelt, erfreut, ermutigt, das Spiel weiterzuspielen, nur um zu sehen, nur um auszutesten. Das war genau genommen nicht allzu schlimm, wenn sie es nicht auf die Spitze trieb. Ein bisschen unfair ist es vielleicht schon, aber nur ein bisschen.

Ihr eisiges Schweigen zwang ihn dazu, weiter auszuholen, als er es eigentlich vorgehabt hatte. Er hatte schon viel zu viel riskiert, um jetzt nicht klarzumachen, was er wollte:

„Ich war letzte Woche hin und weg von dir, und dann kommst du hier heute her und siehst so aus“, er machte eine ausholende Bewegung, die ihre Silhouette nachformte, „und ich könnte dich hier jetzt gleich -“, er stockte und brach ab. In ihm schrie alles Alarm!!! „Junge! Halt deine große Klappe! Erst denken, dann reden! Redeverbot! Absolutes Redeverbot!"

Sie wurde knallrot. Noch nie, noch nie zuvor war ein Mann so offensiv ihr gegenüber gewesen und sie wollte unbedingt hören, was er hatte sagen wollen in diesem letzten Satz, darum fragte sie forschend weiter: „Du könntest mich hier jetzt gleich was?“

Sag nichts Falsches, Christoph, sag nichts Falsches, du kennst sie nicht, das könnte eine Falle sein. Sag auf gar keinen Fall, was du sie jetzt wirklich könntest, was du nur zu gerne tun würdest. Brems, zieh die Leine!

„Ich könnte dich hier jetzt gleich - “, er zögerte.

Sie sah ihm seinen inneren Kampf deutlich an, sie sah, wie er sich schließlich geschlagen gab, mit hängenden Schultern und seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger bearbeitend, bekannte: „Küssen, während dein Mann nebenan sitzt.“ Nun war es raus, und er war froh, das nur das unschuldige Verblein küssen aus seinem Mund gekommen war. Gleichzeitig mussten seine Ohren glühen. Glücklicherweise gab es in diesem Büro keinen Spiegel.

„Das soll wohl ein Scherz sein!“, gab sie brüsk zurück.

„Das ist kein Scherz! Ich war schon letzte Woche ganz kurz davor.“ Nun schoss auch ihm das Blut in die Wangen. Sie registrierte es mit Genugtuung. Nun hatte sie es quasi schriftlich. Der Zeitpunkt einer Entscheidung war da und ohne noch lange zu überlegen sagte sie fordernd:

„Dann tu's doch“. Ich will wissen, wie es ist.

„Los, wir sind ganz allein“, ermutigte sie ihn weiter.

„Was?“, stammelte er verwirrt.

„Komm her und küss mich, wenn du dich traust“, wiederholte sie leise ihr Angebot. Hast DU das gesagt? Bist du nicht mehr ganz bei Trost? Kirsten, was machst du denn? Du wolltest doch nur wissen, wie weit es gehen würde, und nun hast du deine Antwort, also beende das jetzt. Das ist genug. - Nein, ich will wissen, wie es sich anfühlt, wenn man einen Kuss von einem Mann bekommt, der einen so anschaut.

„Das meinst du doch nicht ernst!“, sagte er mit gerunzelter Stirn.

Sie schwieg, abwartend, gespannt bis in die kleinste Faser. Doch, sie meinte es ernst, sehr ernst.

Skeptisch sah er sie an, dann erhob er sich langsam, zögernd.

„Und dann langst du mir eine und läufst schreiend weg und erzählst allen da draußen, dass ich dich vergewaltigen wollte, was?“ Er lächelte unsicher, versuchte, die brisante Situation durch Witze zu entschärfen.

„Quatsch!“

„Du willst ernsthaft, dass ich dich küsse?“ Seine Miene war kritisch. Voller Argwohn blickte er sie an.

Ja, sie wollte ernsthaft einen Kuss von ihm. Nur einen, was ist schon dabei?

„Nur einen“, gab sie kleinlaut zu. Vielleicht ist das doch keine gute Idee. Vielleicht solltest du doch besser gehen.

„Und was bringt dir das?“, hakte er nach. Das klang einfach zu schön, um wahr zu sein. Aber es klang auch sehr nach Verarsche. Und benutzen lassen wollte er sich auch nicht einfach, dann lieber mit Stolz untergehen.

„Herrgott, stell doch nicht so viele Fragen! In den Filmen tun es die Männer einfach immer und du diskutierst erst stundenlang. Wenn du nicht willst, dann sag es einfach.“

Prüfend ging er einen Schritt auf sie zu, zweifelnd blieb er wieder stehen.

„Ich will ja, aber ich lasse mich nicht gerne benutzen“, gestand er. „Genau genommen lasse ich mich nicht gerne verletzen", fügte er leise hinzu.

„Ich will dich nicht benutzen und erst recht nicht verletzen.“ Doch, genau das willst du und das wirst du.

Nun war sie es, die den letzten Schritt auf ihn zumachte. Die Nähe seines Körpers war beinahe unerträglich. Kirsten! Dreh um und geh raus, weg von hier! Das ist unfair allen gegenüber! - Nur das eine Mal! Was ist schon dabei!

Unbeholfen standen sie sich gegenüber, unschlüssig, was zu tun war.

Kirsten, er steht direkt vor dir und er tut es noch, mach was dagegen! - NEIN, verdammt. Ich will es so!

Ihr Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, ihr Brustkorb würde unter seinen Schlägen erzittern. Bis eben hatte sie sich ganz großartig gefühlt, als Herrin über die Situation. Als er so nah vor ihr stand, änderte sich ihre Wahrnehmung in einem Sekundenbruchteil, denn sie konnte sich nicht mehr rühren: Sie war das Kaninchen, er die Schlange, schön bunt anzusehen, aber giftig, gefährlich. Doch das süße Kaninchen war selbst schuld, es hatte die Schlange herbeigelockt. Und er zog sie so übermenschlich an, dass sie ihn am liebsten umschlungen und nie mehr losgelassen hätte.

Er neigte seinen Kopf zu ihrem, zögerte wieder und – küsste sie.

Ganz zart zuerst. Und sie ließ es in der Tat zu, sie hielt ihm zaghaft stand und knallte ihm keine, wie er es durchaus einkalkuliert hatte. Seine warmen weichen Lippen drückten sich ganz sanft gegen ihre, und er roch so gut. Noch nie hatte jemand sie so sanft geküsst, es war mehr ein Hauch als ein wirklicher Kuss.

Als sie sich nicht sträubte, zog er sie zögernd an sich und positionierte eine Hand vorsichtig in ihrem Nacken, die andere verdächtig dicht und mit etwas festerem Griff oberhalb ihres Pos. Ihre Passivität ermutigte ihn, wenn auch nur ein bisschen, denn schließlich schob sie ihn immer noch nicht von sich und rannte schreiend davon oder traktierte ihn mit den Absätzen ihrer Schuhe.

Und dann wagte sie sich vor, erwiderte seinen zuckersüßen Kuss, der einfach zu süß war, um zu widerstehen, und schmiegte sich vorsichtig an ihn.

In ihr schrillten alle Glocken durcheinander: Was tust du da, du Verrückte?, rief ihr Verstand. Genieß es, sagte ihre romantische Ader. Öffne endlich deine Lippen, mischte ihr Körper sich ein. Und ihr Herz, befreit aus dem finsteren, kalten Verlies der Burg Florian, hüpfte einfach nur vor Freude.

Langsam schob sie ihre Zunge vor und er tat es ihr gleich. So hatte sie seit Jahren kein Mann mehr geküsst und so hatte sie seit Jahren keinen Kuss mehr erwidert. Der Fußboden schien aus Watte zu bestehen. Irgendwie setzte sich der Raum in Bewegung und in ihr wurden drei Sätze mit jeder Sekunde, die verstrich, lauter: DAS IST ER! DAS IST ES! SO MUSS ES SEIN!

Sie zu küssen übertraf alle Erwartungen, die er an den heutigen Abend geknüpft hatte. Das kühnste, was er sich ausgemalt hatte, war eine zugesteckte Telefonnummer gewesen, aber gewiss kein leidenschaftliches Geknutsche in seinem Büro.

Innerlich hallte Jubelgeschrei durch seinen Kopf: „BINGO! Du bist im Spiel!"

Als sie ihre Lippen und Zungen wieder voneinander lösten, schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Draußen dudelte hartnäckig die Musik, jetzt war einer dieser gruseligen Kinderchöre an der Reihe und verhunzte Gloria in exselsis deo, und das Stimmengewirr war nach dem gefräßigen Schweigen wieder angeschwollen, der Alkohol lockerte langsam die steifen Zungen.

Doch noch ein anderes Geräusch mischte sich ein in den Reigen, ein lustvolles Stöhnen.

Christoph schien es nicht zu hören, denn er stand nur ganz nah vor ihr mit Spuren von ihrem verschmierten Lipgloss auf seinen Lippen und lächelte sie verunsichert aus seinem erhitzten Gesicht an. Seine Hände hielten Kirsten immer noch fest. Zufrieden merkte er, dass sie beide schneller atmeten.

Doch sie hörte es. Jemand stöhnte, und dieses Stöhnen klang nicht nach Zahnschmerzen. Es holte sie zurück aus dem siebten Himmel auf den harten Tatsachenboden. Und die Realität sah wie folgt aus: Sie in der Firma ihres Mannes eng umschlungen knutschend mit dem Referendar in dessen Büro. Noch Fragen?

„Hörst du das?“

„Was?“

„Dieses Stöhnen!“

Er lauschte angestrengt, dann sagte er: „Ich höre nur diese grässliche Musik!“

Das Geräusch war weg.

„Jetzt höre ich's auch nicht mehr.“

„Das hast du dir bestimmt nur eingebildet“, versonnen strich er ihr über die Wange, er hatte das Gefühl, das nun zu dürfen.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch ganz eng beieinander standen. Wenn jetzt jemand hereinkam, brauchte der- oder diejenige keine Brille, um zu sehen, was hier passierte. Also machte sie einen kleinen Schritt rückwärts, um ihn wieder auf Abstand zu bringen, so schwer ihr das auch fiel. Er ließ seine Hände sinken. Ein brennendes Schamgefühl breitete sich in ihr aus.

„Du hast Lipgloss am Mund“, klärte sie ihn verlegen auf und erschrak ein wenig über die abweisende Distanz in ihrer Stimme, denn sie klang mit einem Mal unglaublich arrogant. Er wischte sich schüchtern lächelnd mit dem Handrücken über seine Lippen. Wie jugendlich diese Geste noch wirkte.

„Wir sollten da wieder rausgehen“, schlug sie vor und streckte ihren Rücken durch, bemüht um Haltung. Dabei war sie eben nicht weit davon entfernt gewesen, Dinge zu tun, die sie nicht tun sollte, schon gar nicht hier und nicht mit ihm. Das, was sie getan hatte, war schon viel zu viel gewesen. Sie durfte das nicht, das war nicht in Ordnung.

Innerlich zuckte er voller Enttäuschung zusammen über ihr plötzliches Von-oben-herab. „Ja, das wäre wohl klüger“, presste er hervor. Ein tonnenschwerer Stein machte sich in seinem Magen breit. Sie hatte ihn augenscheinlich nur benutzt, um auf die Schnelle ihr Ego aufzupolieren. Und das war es jetzt.

Sein enttäuschtes Gesicht erfüllte sie mit Kummer und Mitleid. Und ganz plötzlich überkam sie die erschreckende Gewissheit, dass dieser Mann ihr mehr bedeutete als er es sollte. Er sollte ihr einerlei sein, ein Spielzeug höchstens, um sich ein wenig den Alltag zu versüßen, aber er brachte sie stattdessen aus der Fassung, völlig aus dem Gleichgewicht. Er war ihr ganz und gar nicht einerlei, er war ihr wichtig, und das nach einem einzigen Kuss. Ihn nun von sich zu weisen und damit offenbar zu kränken, fiel ihr schwer und tat ihr immens leid, war jedoch unvermeidbar, weil ihre Situation alles in allem schlicht unmöglich war. Wenn sie alleine hier mit ihm gewesen wäre, hätte sie ihn wieder geküsst, um ihn zu trösten. Doch diese Option war ausgeschlossen, denn sie befürchtete, dass sie einen weiteren Kuss nicht schadlos überstehen würde – und das wohl nicht grundlos. Wenn die Tür aufginge... nicht auszudenken. Und noch schlimmer: Wenn sie sich weiter hinreißen ließe, würde sie mit ihm auf oder unter seinem Schreibtisch enden, in jedem Falle aber auf oder unter ihm, und das war schlicht unmöglich. Sie war immerhin keine Ehebrecherin, nur ein wenig frustriert. Aber ein Kuss, meine Güte, ein läppischer Kuss. Das konnte ja mal passieren, erst recht auf einer Weihnachtsfeier in angeschickerter Stimmung. D'accord, aber du hast noch nichts getrunken, meine Liebe. Und du bist benebelt wie ein angefixter Junkie.

Noch immer raste ihr Puls, leider. Aber es hatte sich zu gut angefühlt, um für immer darauf zu verzichten. Schon jetzt war ihr bewusst, dass ihr verfluchter Körper auf der Jagd nach dem nächsten Rausch ihn erneut küssen wollte, denn ihre wackligen Beine sprachen Bände. Untreues Mädchen, untreues, böses Mädchen.

„Was machen wir jetzt?“, fragte sie zögerlich, doch wenn sie sich nun ohne ein weiteres Wort trennten, könnte sie heute Nacht kein Auge zumachen, wohl nie wieder in zahllosen Nächten. „Ich meine mit uns?“ Sie kramte nebenbei aus ihrem Täschchen den Lipgloss heraus und schminkte sich blind den Mund nach, um ihre Unsicherheit zu überspielen.

„Gibt es denn ein uns?“, fragte er vorsichtig.

„Von meiner Seite aus vielleicht“, antwortete sie und klang dabei entspannter als sie es eigentlich war. WAS REDEST DU DA??? Es gibt kein UNS! - Ganz ruhig, nur Marktanalyse, das hat nichts zu bedeuten.

„Nun ja, ich hätte nichts dagegen“, sagte er entschlossen.

Von wegen Marktanalyse!

„Dann sollten wir aber zusehen, dass wir dieses uns vorerst geheim halten.“ Bist du verrückt, Mädchen? Das klingt, als ob du ihn dir als permanenten Liebhaber zulegen möchtest, und nächstes Mal rückt er dir garantiert komplett auf die Pelle. HALLO! Das möchtest du nicht! - Ach nein?

Er nickte. Was hatte er auch erwartet nach einem einzigen Kuss? Dass sie ihn vom Fleck weg gegen ihren Mann eintauschen würde? Aber er würde dranbleiben und auf keinen Fall den edlen Helden spielen und verzichten. Wenn sie es war, die Eine, dann würde er sie nicht wegen eines großkotzigen, backpfeifengesichtigen Ehemanns ziehen lassen, um auf ewig im Ehe-Nirvana vor sich hinzudümpeln. Der Einsatz war hoch, doch der vermeintliche Gewinn übertraf den Einsatz bei weitem. Zwar war er kein Frauenexperte, weiß Gott war er das nicht, doch sein Gespür sagte ihm, dass sich der Einsatz auszahlen würde, denn irgendwie wollte sie ihn genauso wie er sie, das hatte der Kuss offenbart, zumindest in seiner fortgeschrittenen Phase.

„Aber wir müssen dieses uns auch pflegen, denn ein Kuss macht noch kein uns“, warf er lächelnd ein. „Ein 'uns' heißt, dass wir uns ab und zu mal sehen sollten, oder nicht?" Das war ungeheuer mutig, das war ihm sonnenklar. Und dennoch riskierte er eine dicke Lippe, weil er auf keinen Fall wollte, dass sie nun einfach so ging.

Auch wieder wahr. Damit lag er zwar richtig, doch dieses Gespräch, die ganze Situation überrannte sie plötzlich. Raus hier, weg hier! Ihr Mann suchte sie bestimmt schon, und wenn er sie aus diesem Büro würde kommen sehen, konnte es Ärger geben, großen Ärger, und nicht nur für sie. Das wollte sie auf gar keinen Fall riskieren. Und sie hatte schon viel mehr gegeben, als sie zu geben bereit gewesen war, das Regal war leergefegt wie am Morgen des 24. Dezembers, nichts mehr da, alles ausverkauft.

Aber sie hatte auch mehr bekommen, als sie in ihren kühnsten Träumen erwartet hatte, das Lager der Süßwarenabteilung war mit einem Mal prall gefüllt.

Hektisch wandte sie sich zur Tür um. „Warte“, sagte er und schob sich an ihr durch zur Tür, und diese erneute körperliche Nähe ließ sie innerlich erzittern. Es war Lichtjahre her, seit sie so nah an einem fremden Mann gestanden hatte. Er öffnete die Tür einen Spalt breit und linste in den Flur.

„Komm“, wisperte er ihr zu, und sie huschte nach draußen. Keine zehn Sekunden später kam eine der Ehefrauen, deren Namen sie immer vergaß, aus dem großen Besprechungsraum in den Flur. Sie lächelte Christoph und Kirsten freundlich zu, die sich in Windeseile ihre alten Gläser wieder geschnappt hatten, die Dame war offenbar nichtsahnend, so dass sie wohl niemand vermisst oder ihr Fehlen bemerkt hatte. Kirsten kam sich vor wie ein Teenager, der verbotenerweise den Lehrer geküsst hatte. Sie spürte förmlich die Schuld auf ihren Lippen prangen und schämte sich plötzlich sehr dafür, dass sie so eine leichte Beute für ihn gewesen war. So willig und billig hatte sie sich darauf eingelassen. Was, wenn er nur mit ihr spielte? Und zu guter Letzt vielleicht wie eine Petze zu ihrem Ehemann rannte und dem steckte, wie leicht er sie herumgekriegt hatte?

Nun mach mal halblang, Kirsten, meldete sich ihr Gewissen. Ihr habt euch nur geküsst, mehr ist ja nicht passiert. Herumgekriegt hat er dich nicht.

Noch nicht, trällerte ihr Herz, noch nicht! Und außerdem spielst du hier das Spiel.

Im tiefsten Inneren war Florian erleichtert darüber, wie einfach es gewesen war, seine Frau hier abzuhängen, um mit Sandra ein Stelldichein in dem Büro seines Kollegen Schmidt haben zu können. Sie sah in ihrem Kleid so toll aus, dass es ihm vermutlich körperliche Schmerzen bereitet hätte, wenn er sie heute Abend nicht hätte haben können. Doch das war der neue Florian! Der Florian, vor dem sich die Wege ebneten. Das war wie in diesem Bankwerbespot mit dem freien Weg. Florian brauchte sich nur etwas zu wünschen und es geschah.

Nur beim Orgasmus war es nach seinem Geschmack etwas zu laut zugegangen. Doch da hatte ihm der in den höchsten Quietschtönen jubilierende Kinderchor mit seinem Glo-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-ria unfreiwillig zur Seite gestanden, denn entgegen seiner schlimmsten Befürchtungen war niemand hereingekommen und hatte das Licht angeknipst, um nachzuschauen, was da los war. Sandra zog sich gerade mit erhitztem Gesicht ihr Kleid wieder zurecht und er knöpfte zufrieden seine Hose wieder zu. Das einzige Problem war das volle Kondom. Wohin damit? Zum Glück stand auf der Fensterbank eine Blume mit zu großem Übertopf, in den ließ er das Kondom fallen. Bei dem Gedanken an Schmitts dummes Gesicht am Montag musste er beinahe laut loslachen.

„Das kannst du doch da nicht reintun!“, zischte Sandra entsetzt.

„Meinst du, der Alte macht einen DNA-Test, um rauszufinden, wer das war? Hier gibt’s heute genug Paare, die das gewesen sein könnten“, lachte er zurück.

Sie zog zweifelnd die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf.

„Das gefällt mir nicht, Florian, wenn das mit uns rauskommt, dann haben wir jede Menge Ärger am Hals!“

„Das mit uns kommt nicht raus, du wirst sehen“, beschwichtigte er sie.

„Dein Wort in Gottes Ohr!“

Den Rest des Abends hielt Kirsten sich von Christoph fern, um kein weiteres Aufsehen zu erregen. Wie in den früheren Jahren ihrer Anwesenheit gönnte sie sich die eine oder andere Leckerei am Buffet und unterhielt sich tatsächlich ganz nett mit einigen der anwesenden Frauen. Irritiert bemerkte sie die abschätzigen Blicke einer jungen Frau in einem etwas zu kurzen Hauch von einem Kleid, doch sie konnte mit der Dame nichts anfangen und war auch nicht in Stimmung, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Immer, wenn Christophs und ihre Blicke sich begegneten, spürte sie ein flaues Gefühl in der Magengegend und wusste in Sekundenschnelle wieder, was sie bereits alles gegessen hatte, weil ihr Mageninhalt durcheinandergewirbelt wurde. Dieses Unwohlsein verstärkte sich exponential, wenn Florian in ihre Nähe kam. Zum Glück absolvierte ihr Gatte nur kurze Stippvisiten an ihrer Seite, um dann weiter wie ein Vogel durch den Raum zu flattern und Konversation zu betreiben, denn in den wenigen Minuten, die sie tatsächlich nebeneinander standen, merkte er nicht, wie daneben seine Frau war.

Sie betrachtete ihn an diesem Abend immer wieder interessiert von der Seite wie ein Studienobjekt: Wie hatte er sich verändert. Aus dem introvertierten Langweiler war ein richtiger Macher geworden, dem die Menschen seiner Umgebung an den Lippen hingen. Sie erkannte ihn kaum wieder, und das verunsicherte sie zunehmend. Wer war dieser Mann? Was dachte er, welche Pläne verfolgte er, welchen Träumen jagte er nach? Sie hätte es nicht sagen können, weil sie es schlichtweg nicht wusste. Gar nichts wusste sie mehr von ihm, zumindest nicht von seinem aktuellen Ich. In seiner Vergangenheit kannte sie sich gut aus, sie wusste genau, welche Größen die Kleidungsstücke an seinem Körper hatten. Aber die Krawatte, die er trug, kannte sie nicht. Dabei ließ er doch sonst stets sie seine Garderobe kaufen. Nun, dann sind diese Zeiten anscheinend vorbei, kein Grund zu jammern. Dennoch bekümmerte die neue Krawatte sie, weil sie ihr wie ein Symbol für die Distanz erschien, die es sich zwischen ihnen häuslich eingerichtet hatte. Ihr Blick suchte Christoph und heftete sich unauffällig an ihn. Die Ehefrau eines Kollegen sabbelte sie mit Kürbisrezepten voll und schwafelte ungebremst von veganer Küche. Sollte sie doch!

Er unterhielt sich mit einem älteren Kollegen namens Schmidt, den hier alle sehr mochten. Schmidt schien von einem seiner legendären Auftritte als Gitarrist in frühen Jahren zu berichten, denn er spielte für einen Augenblick mit verzücktem Gesicht beeindruckend eine Luftgitarre. Kirsten liebte seine Geschichten über sein wildes Leben, das er vor Studienende geführt hatte, aber leider war er viel zu selten anwesend, wenn es etwas zu feiern gab, und dann wurde er umgarnt wie ein Popstar, weil alle wussten, dass man sich mit ihm amüsieren konnte. Und Christoph schien es nicht anders zu gehen, denn er amüsierte sich offenbar blendend über die Leistung seines Gegenübers, der gerade hingebungsvoll pogte. Er bemerkte ihren Blick und sah sie durch den Raum an, ihre Blicke schienen sich miteinander zu verbinden wie zwei Hände, die einander schüttelten. Unauffällig zwinkerte er ihr zu und schenkte ihr ein breites, etwas selbstgefälliges Lächeln, schließlich drehte er sich scheinbar entspannt wieder Schmidt zu, der in der Zwischenzeit von seiner Frau wieder beruhigt worden war und den seine Tanzeinlage von eben nun etwas peinlich zu berühren schien.

Doch Kirsten sah, wie Christophs Hände nervös das Glas umklammert hielten.

Sie freute sich zu gar nicht besonders später Stunde über Florians Angebot, dass sie schon ohne ihn nach Hause fahren konnte. Darauf hatte sie nur gewartet! Artig verabschiedete sie sich, auch von Christoph, per Handschlag, doch als sie ihm die Hand gab, spürte sie die nervöse Feuchtigkeit auf ihrer Haut und die hitzige Wärme an seiner. War das aufregend! Doch Christoph sagte weiter nichts, also ging sie so alleine, wie sie hergekommen war. Im Fahrstuhl lehnte sie sich mit geschlossenen Augen an die Wand und atmete tief ein und wieder aus.

Die Tür öffnete sich mit einem Ruck und Kirsten eilte im Parkhaus auf ihren Wagen zu. Trotz der strikten Sicherheitsvorkehrungen fühlte sie sich immer beklommen hier unten so alleine. Per Fernbedienung öffnete sie das Auto, stieg eilig ein und verriegelte den Wagen von innen. Hoffentlich war auf dem Heimweg nicht viel Verkehr, denn nüchtern war sie irgendwie nicht, auch wenn sie keinen Alkohol getrunken hatte. Vermutlich war das das erste Mal, dass sie die Weihnachtsfeier selbst fahrend hinter dem Steuer des Autos verließ, dachte sie schmunzelnd, völlig champagnerfrei, aber dennoch berauscht.

Sie fuhr die Rampe hinauf und hielt wenige Meter nach dem Passieren der Schranke abrupt an, denn Christoph stand winkend am Straßenrand. Sie ließ das Fenster herunter und spürte wieder ihr Herz, das arme, das heute so viel mitmachen musste. Buppbupp, Buppbupp.

„Ich wollte dir nur eine gute Nacht wünschen und drinnen läuft eine Kamera.“

Heimlichtuerei! Wie fühlt sich das an, he? Nicht gut, was?

Er lächelte sie atemlos und aufgeregt an, sein Atem zeichnete sich in der kalten Winterluft ab und ihr schwante, dass dieses Lächeln sie viel mehr in seinen Bann zog, als es sollte, viel mehr, als es ihr und ihrer Ehe gut tat. Ein läppisches Küsschen und schon bist du sein größter Fan. Erbärmlich!

„Darf ich dir noch einen Gutenachtkuss geben?“, fragte er lächelnd. Er hatte sich spontan dazu entschlossen, schließlich schien die Überrumpelungstaktik bei ihr aufzugehen Was hätte er nicht alles gegeben für einen weiteren Kuss von ihr!

Sie nickte nur und er beugte sich durch das geöffnete Fenster in das Wageninnere.

Dieses Mal erwiderte sie den Kuss um einiges schneller und so geriet der Gutenachtkuss ein wenig zu intensiv, um danach noch gut schlafen zu können. Um ein Haar hätte sie ihn ins Auto gebeten, und nicht auszudenken, welchen Verlauf der Abend dann genommen hätte.

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte er ungeduldig, er schlang sich die Arme um den Oberkörper und rieb die Schuhe aneinander. Seine Wangen röteten sich bereits etwas.

Zeit gewinnen, Mädchen! Erst einmal die vielen Hormone ausschwitzen und auf den Boden der Tatsachen aufschlagen!

„Ich ruf dich an“, seufzte sie.

„Du hast meine Nummer noch gar nicht.“

Er kramte in seinem Jackett nach Papier, doch er fand nichts. Sie holte einen alten Parkschein und einen Stift aus der Seite ihrer Tür und reichte ihm beides. Eilig kritzelte er seine Nummer auf das Stückchen Papier und gab es ihr mit einem verlegenen Lächeln, zweifelnd darüber, ob sie ihn wohl jemals anrufen würde.

„Danke. Gute Nacht.“ Sie legte den ersten Gang ein und löste die Handbremse.

„Schlaf schön.“

Er trat vom Auto zurück. Lächelnd fuhr sie an und sah ihn langsam im Rückspiegel verschwinden. Ihr Herz schlug wilde Kapriolen – was für ein Abend. Ob du ihn wohl jemals anrufen wirst?

Zu Hause angekommen kochte sie sich noch einen Tee, den sie sich mit ins Badezimmer nahm. Sie betrachtete sich lange nachdenklich im Spiegel. Wer bist du eigentlich? Zu was bist du fähig? Was geht in dir vor? Hast du das so geplant? Was hat dich dazu gebracht, ihn dazu zu bringen, es zu tun? Was hast du dir dabei gedacht und was gedenkst du nun zu tun?

Sie fuhr sich mit dem rechten Zeigefinger über die Lippen, als könne sie dabei den Kuss noch einmal spüren. Ein wohliger Schauer huschte ihr über den Rücken bei dem Gedanken daran und sie musste unbewusst lächeln.

Langsam zog sie sich aus, Stück für Stück. Nur in Unterwäsche ging sie ins Schlafzimmer und hängte das Kleid ordentlich auf den gepolsterten Bügel. Die durchsichtige Kleiderhülle ließ sie achtlos auf dem Fußboden liegen.

Zurück im Bad bürstete sie sich gedankenverloren das Spray aus den Haaren und begann, sich abzuschminken. Zuletzt griff sie zur elektrischen Zahnbürste und ließ sie im Mund kreisen.

So nüchtern und schlicht sah sie wieder aus wie die Kirsten, die sie kannte, die Kirsten, auf die sie sich immer hatte verlassen können, die Kopf-Kirsten, Florians Kirsten. Christoph weckte plötzlich eine nicht bekannte Seite in ihr, die Bauch-Kirsten, die ihren Empfindungen nachgab, die völlig unlogisch handelte und sich selbst widersprach.

Sie musste über diese Kirsten, Christophs Bauch-Kirsten, die Oberhand gewinnen und sie tief vergraben im Kopf von Florians Kopf-Kirsten.

Versuchung

Подняться наверх