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Lübeck, 2012

Es dauerte fast eine Woche, bis wir einen Termin bei Dr. Joachim Stein, einen renommierten Anwalt für Erbrecht, bekamen.

In dieser Woche bekam ich natürlich kein Auge zu. Immer wieder nahm ich mir das Foto und begutachtete das Haus. Es sah gepflegt aus, hatte gehäkelte Gardinen vor den Fenstern und Blumentöpfe auf der schmalen Veranda. Mit dem Daumen strich ich über das Bild. Schade, dass ich kein Foto von Brian und Mary-Ann hatte oder sogar von Sue-Ann. Wie gerne hätte ich gewusst, ob ich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihnen hatte.

Wenige Stunden vor dem Anwaltstermin machte mein Herz einen Satz. Ich war so aufgeregt und doch hatte ich ein mulmiges Gefühl im Magen. Ich versuchte, die Aufregung zu unterdrücken, denn ich wusste, dass Mama das Herz blutete. Sie war schließlich die Frau, die mir zum ersten Mal das Gefühl gab, zu irgendjemand dazuzugehören. Im Herzen war sie meine Mutter.

Mit einer dicken Mappe unterm Arm stieg ich in den bordeauxroten Fiat Stilo.

Obwohl Kevin immerzu nach dem Auto fragte, durfte er ihn nie fahren. Unser Vater wollte das Lenkrad nicht aus der Hand geben, denn sonst würde er das Auto nie mehr wiedersehen. Was ja auch stimmte, denn wenn man erst einmal auf den Geschmack gekommen war, dann war es schwer sich wieder zu trennen. Ich schmunzelte bei dem Gedanken, mit meinem Vater morgens zur Bushaltestelle zu gehen, während Kevin hupend an uns vorbeifuhr.

Wir fuhren am Holstentor, dem wohl bekanntesten Wahrzeichen Lübecks, vorbei.

Das spätgotische Gebäude gehörte zu den Überresten der Stadtbefestigungsanlage. Im späten Mittelalter war man der Ansicht, die Stadt vor Bedrohung schützen zu müssen, und erbaute daher eine Stadtbefestigung mit vier Stadttoren. Zwei von ihnen standen heute noch. Das Burgtor im Norden und das Holstentor im Westen.

Wir fanden zähneknirschend einen Parkplatz, nachdem uns dreimal der Parkplatz vor der Nase weggeschnappt wurde.

»Komm, wir sind spät dran.« Papa blickte auf seine Uhr und zog uns mit sich durch die Altstadt, bis wir in einer Einkaufsstraße standen und nach dem Eingang zwischen den vielen kleinen Geschäften Ausschau hielten.

Ein schäbiges Treppenhaus führte uns ins Dachgeschoss, wo eine modern eingerichtete Anwaltskanzlei uns empfing. Eine Sekretärin öffnete uns die Tür und begrüßte uns mit einem breiten Lächeln. Sie trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock mit hochhackigen Schuhen, auf denen sie besonders gut laufen konnte. Sie bot uns Kaffee an und bat uns im Wartebereich Platz zu nehmen, bis Dr. Stein uns aufrief.

Ich blätterte in den neusten Illustrierten, als ein kahlköpfiger Mann mit großer Nase und kleiner Brille zu uns kam und meinen Namen rief: »Jordan Vogel.«

»Ja, das bin ich.« Ich meldete mich wie in der Schule und stand auf.

Wir folgten Dr. Stein in ein kleines Büro mit vielen Familienfotos an den Wänden. Er nahm hinter einem großen Mahagonischreibtisch Platz und bat seine Sekretärin durch eine Sprechanlage, einen weiteren Stuhl zu bringen, da nur zwei schwarze Sessel vor dem Schreibtisch standen.

»Also.« Er faltete die Hände. »Erzählen Sie mir, warum Sie mich aufgesucht haben.«

»Ich hatte Ihrer Angestellten schon erzählt, dass wir Post von einer Erbermittlungsagentur aus Gera bekommen haben. Sie müssen wissen, dass wir Jordan mit zehn Jahren aus dem Waisenhaus zu uns geholt haben«, sagte Mama und setzte sich auf den Klappstuhl, den die Sekretärin ins Büro gestellt hatte.

»Danke, Vivien«, sagte Dr. Stein.

Nickend lehnte sie die Tür an, um wenig später mit zwei Kaffeebechern und einem Wasserglas zurückzukommen.

Ich reichte Dr. Stein meine Mappe und beobachtete, wie er die Unterlagen darin studierte.

»Das klingt doch alles ganz positiv, vorausgesetzt, Sie wollen das Erbe annehmen.«

Ich fühlte mich auf dem großen Sessel fehl am Platz und rutschte so weit nach hinten, dass meine Beine in der Luft hingen. »Ach, bevor ich es vergesse…« Ich nahm meine Handtasche und holte das Foto, welches ich sorgfältig in die Seitentasche gesteckt hatte, heraus. »Hier, dieses Foto hat die Agentur mitgeschickt.«

»Mm, nett.« Er räusperte sich. »Wenn Sie möchten, kann ich die Erbangelegenheiten für Sie übernehmen. Ich werde mich mit der Agentur in Verbindung setzen und die Unterlagen anfordern.«

»Das klingt gut.« Mein Vater saß schweigend in dem Sessel neben mir und rieb sich das Kinn.

»Falls Sie das Erbe annehmen, verlangt die Agentur 25% vom Erbe. Das ist aber im normalen Bereich. Und wie ich es hier ablesen kann, haben Sie ganz gut geerbt, Frau Vogel.« Er blickte mich an. Mir war das alles sehr unangenehm. Sollte ich wirklich Hausbesitzerin in Amerika werden?

»Mir ist nur wichtig, dass meine Tochter keine Schulden erbt«, sagte mein Vater und richtete sich gerade auf.

»So wie ich es hier sehe, wird sie definitiv keine Schulden haben. Zwar ist das kleine Häuschen keine Villa, doch haben ihre Großeltern eine hohe Ersparnis, die jetzt auf Jordan übertragen wird.«

Er drückte auf den roten Knopf der Sprechanlage und bat Vivien Kopien von den Formularen zu machen. »Am besten melde ich mich bei Ihnen, wenn ich Bescheid von der Agentur habe. Sicher wollen Sie dann auch nach Amerika und sich das Haus ansehen, oder?« Dr. Stein stand auf und suchte in einem Regal hinter sich ein Buch über Amerika heraus. »Ich bin wirklich beeindruckt, wie ein Kind aus Amerika nach Deutschland kam und hier adoptiert wurde.«

»Wir wissen nicht viel über Jordans Vergangenheit«, sagte Angela. Sie rieb sich über die Nase.

»Ich habe hier noch ein Buch über Amerika, vielleicht möchten Sie einen Blick hineinwerfen.« Er legte es vor mir auf den Schreibtisch. Es war so dick, dass ich Mühe hatte, die ersten Seiten aufzuschlagen. Im Register suchte ich nach Oklahoma und wurde schnell fündig. Das Haus lag in Midwest City, die vor zwei Jahren die achtgrößte Stadt in Oklahoma war.

»Bevor Sie nach Amerika reisen, sollten Sie sich ein bisschen informieren, schließlich sind Sie gebürtige Amerikanerin und sollten etwas über das Land wissen.« Er schob seine Brille auf dem Nasenrücken zurecht. »Wenn Sie möchten, dürfen Sie sich das Buch ausleihen und bringen es mir zum nächsten Termin wieder mit.«

»Wirklich?« Ich freute mich und mir fiel wieder ein, wie meine Mutter mich vor einigen Wochen wegen Erdkunde ermutigt hatte. Jetzt war mein Kampfgeist geweckt und ich wollte mich in dem Fach mehr anstrengen.

»Was Sie natürlich bedenken sollten«, unterbrach Dr. Stein meine Gedanken. »Ein Haus muss man pflegen, man muss viel Geld hineinstecken. Strom, Wasser, Heizung, alles muss bezahlt werden. Das erfordert eine Menge Arbeit. Ich weiß nicht, ob Sie das von Deutschland aus schaffen.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es sei denn, Sie verkaufen das Objekt.«

Mein Herz setzte aus. Ich rutschte auf dem Sessel nach vorne und nahm einen Schluck Wasser. Verkaufen wollte ich auf keinen Fall. Es war das Letzte und Einzige, was ich von meiner leiblichen Familie hatte.

»Ja.« Mama seufzte.

»Falls Sie meinen letzten Vorschlag in Erwägung ziehen sollten, könnte ich Ihnen dabei helfen. Ich habe Kontakte in die Staaten.« Dr. Stein bedachte mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte.

»Ja, danke. Das ist sehr lieb von Ihnen.« Ich hielt das Buch fest umschlungen und blickte zur Tür, als Vivien meine Akte nahm, zum Kopierer im Flur ging und ein Blatt nach dem anderen vervielfältigte.

Dabei summte sie eine Melodie vor sich hin, die wahrscheinlich nur ich hören konnte, denn niemand anderes sagte etwas.

Der restliche Nachmittag war entspannt. Ich saß in meinem Zimmer und blätterte in dem ausgeliehenen Buch. Es machte mir plötzlich richtigen Spaß, die einzelnen Städte in Oklahoma zu suchen. Währenddessen fuhr ich meinen Laptop hoch und gab ins Suchfeld Midwest City ein. Der größte Arbeitgeber war United States Air Force. Wirklich interessant.

Vielleicht hatte mein Großvater dort gearbeitet? Vielleicht gehörte er zu einer der Fliegertruppen, doch konnte er im Zweiten Weltkrieg nicht beteiligt gewesen sein, da war er ja erst sieben Jahre alt.

Jetzt ging meine Fantasie aber mit mir durch. Ich schüttelte den Kopf und überhörte, dass meine Mutter mich zum Essen rief. Erst als es an der Tür klopfte und Lukas seinen Kopf ins Zimmer steckte, stand ich auf und folgte ihm in die Küche.

»Heute gibt es Lasagne«, sagte Mama erfreut und stellte die Auflaufform auf den Tisch.

Es war Freitag und Lena war zu Besuch. Diesmal saßen wir in der Küche, obwohl es hier noch enger war als in der Wohnstube.

»Also, erst einmal muss ich sagen, ich bin froh, dass es doch sehr gut klappt mit unserer Besuchsregelung«, sagte unser Vater, nachdem Mama seinen Teller aufgefüllt hatte. »Und dann seid ihr sicher neugierig, wie es heute beim Anwalt war.«

»Ich sterbe vor Neugierde«, sagte Lena und füllte sich ebenfalls auf.

Kevin schmunzelte und küsste Lena auf die Wange.

»Möchtest du erzählen, Jordan?« Mein Vater blickte mich an.

»Gerne.« Ich zog den Stuhl an den Tisch heran. Danach hielt ich meiner Mutter den Teller zum Auffüllen hin. »Der Anwalt meinte, ich hätte nicht nur das Haus geerbt, sondern auch viel Geld. Ich sollte mir aber überlegen, ob ich das Haus nicht lieber verkaufen möchte, da es ja in Amerika steht.« Ich steckte eine Gabel mit Lasagne in den Mund. »Recht hat er ja, doch weiß ich nicht, ob ich das kann. Es ist wahrscheinlich das Einzige, was mir von meiner leiblichen Familie geblieben ist. Vielleicht könnte man es vermieten«, schlug ich vor.

»Das ist unmöglich. Du musst vor Ort sein, um bei Gelegenheit Dinge zu reparieren oder Sachen zu klären.« Unser Vater trank einen Schluck Wasser.

»Aber ich möchte dort so gerne mal hin.« Ich machte einen Schmollmund. »Was wäre, wenn wir in den Sommerferien alle nach Amerika fliegen? Wir könnten uns das Haus ansehen und vielleicht einige Sachen mit nach Deutschland nehmen. Vielleicht gibt es irgendetwas Wertvolles. Etwas, das besser als ein Haus ist.«

»Wir alle?« Lena fiel die Kinnlade herunter.

»Ja, der Anwalt meinte, ich hätte genug Geld, also warum nicht?«

»Wann hast du denn Urlaub, Kevin?«, wollte unsere Mutter wissen.

»Mittig der Ferien habe ich drei Wochen.« Kevin blickte zu Lena, die ihm zunickte.

»Er hat die dritte, vierte und fünfte Woche Urlaub.«

»Du hast die letzten drei Ferienwochen Urlaub, oder?« Unsere Eltern tauschten einen Blick

»Ja. Wir wollten doch Last-Minute buchen.«

»Na ja, sozusagen wäre das Last-Minute, Papa.« Ich schmunzelte. Es war Ende des Schuljahres. Die letzten Tests waren geschrieben und die Zeugniskonferenzen standen unmittelbar bevor.

Die Seelen der Indianer

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