Читать книгу Kurfürstenklinik Staffel 6 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 5

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Dr. Adrian Winter hatte einen freien Tag und schlenderte langsam in die edle Lobby des Hotels King’s Palace in Berlin, wobei er seine Blicke unauffällig umherschweifen ließ. Doch er fand nicht, was er suchte und wollte sich gerade enttäuscht der eleganten Bar zuwenden, um dort einen zwar sehr teuren, dafür aber auch erstklassigen Espresso zu trinken, als er hinter sich die Stimme jener Frau hörte, nach der er insgeheim auf der Suche war.

»Herr Winter, sind Sie das wirklich? Warum sind Sie nicht in Ihrer Notaufnahme und retten Menschenleben?« fragte Stefanie Wagner.

Als er sich zu ihr umdrehte, stellte er fest, daß sie sich nicht verändert hatte seit ihrem letzten Treffen – und das lag nun schon eine recht lange Zeit zurück. Im Gegenteil, sie schien sogar immer schöner zu werden. Wie immer bewunderte er vor allem ihre Augen, die nicht einfach blau waren, sondern der Farbe der Veilchen ähnelten. Sie beherrschten ihr Gesicht und verliehen ihm eine ganz besondere Note.

Sie wäre auch mit einer anderen Augenfarbe schön gewesen, dachte er, aber so war sie einfach unwiderstehlich. Hinzu kamen ihre blonden Locken, die schlanke, gut proportionierte Figur und ihre Eleganz, wozu ihre Position als Assistentin des Hoteldirektors sie verpflichtete.

In Wirklichkeit war Stefanie Wagner die heimliche Chefin dieses Hotels, jedenfalls sahen es die anderen Hotelangestellten und wohl auch die Gäste so, denn Direktor Wingensiefen liebte es zwar, zu repräsentieren, aber für »den täglichen Kleinkram«, der die Hauptarbeit in einem Hotel ausmachte, interessierte er sich gar nicht. Den überließ er Stefanie mit Freuden.

»Ich habe einen freien Tag und konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als Sie zu treffen und mit Ihnen einen Kaffee zu trinken«, antwortete Adrian und wunderte sich selbst über seinen Mut.

Seine Empfindungen für Stefanie Wagner waren höchst kompliziert. Er war der Ansicht, daß sie in festen Händen war, denn er hatte sie bereits mehrmals mit einem Mann gesehen, der sich ihr gegenüber höchst besitzergreifend verhielt. Und weil sie also offensichtlich gebunden war, versuchte Adrian, seit er sie kennengelernt hatte, über seine Gefühle für Frau Wagner möglichst nicht nachzudenken. Denn wenn er das täte, glaubte er, käme er wahrscheinlich zu dem Ergebnis, daß er sie liebte und um sie kämpfen mußte und machte sie womöglich noch unglücklich, weil sie dann plötzlich zwischen zwei Männern stand und sich entscheiden mußte.

Manchmal jedoch hielt Adrian es nicht mehr aus und kam unangemeldet im Hotel vorbei oder er rief sie an und lud sie zum Essen ein. Immer verbrachten sie wunderbare Stunden oder auch nur Minuten miteinander, und immer endeten ihre Treffen damit, daß er sich sagte, er müsse ihr vielleicht doch endlich gestehen, was er für sie empfand – und nie kam es soweit. Adrian Winter und Stefanie Wagner, das war eine unendliche Geschichte.

Sie war bei seinen Worten ein wenig rot geworden und sagte nun hastig: »Sie haben Glück, daß ich gerade ein bißchen Zeit habe. Außerdem bin ich wieder einmal sauer auf meinen Chef und brauche jemanden, dem ich mein Leid klagen kann.«

Er lächelte. »Sie wollen damit sagen, daß ich Ihnen gerade recht komme?«

Nun lächelte sie auch. »Genau das, Herr Winter. Kommen Sie!« Sie nahm seinen Arm und zog ihn einfach mit sich, was er sich nur zu gern gefallen ließ.

Kurz darauf saßen sie bereits an einem der kleinen Tische in der Bar, jeder mit einem doppelten Espresso vor sich. »Nun erzählen Sie mir mal, worüber Sie sich geärgert haben«, bat er. »Oder ist das hier zu gefährlich, weil es vielleicht Mithörer gibt?«

Sie schüttelte den Kopf, daß die Locken flogen, und ihre schönen Augen blitzten. »Ach was, das ganze Haus ist auf den Chef sauer. Was meinen Sie, was ich mir schon alles anhören mußte, seit er diesen unsinnigen Beschluß gefaßt hat.«

»Welchen Beschluß?« fragte er geduldig. Er kannte ihr Temperament und wußte, daß sie manchmal dazu neigte, mit dem Ende einer Geschichte anzufangen.

»Entschuldigen Sie, Herr Winter, Sie können mir natürlich nicht folgen, wenn ich Ihnen immer nur kleine Bröckchen hinwerfe. Also, Herr Wingensiefen hat beschlossen, zehn Prozent der Angestellten zu entlassen, weil er findet, die Arbeit hier könne auch mit weniger Personal bewältigt werden.« Sie senkte die Stimme und fügte hinzu: »Er war auf einem Seminar, wo es um Kostenreduktion und Gewinnmaximierung ging.«

»Aha«, sagte Adrian. »Das erklärt alles. Er meint also, wenn er Leute entläßt, wirft das Hotel mehr Gewinn ab.«

»Ja, das meint er. Und das könnte ja auch stimmen, wenn wir zu viel Personal hätten«, schimpfte sie, »aber das Gegenteil ist der Fall, wir sind eindeutig unterbesetzt, aber das merkt er nicht, weil der Laden trotzdem läuft. Und er läuft, weil wir uns hier alle die Beine ausreißen.«

»Während er mit japanischen Delegationen beim Innensenator empfangen wird«, sagte Adrian lächelnd.

Sie explodierte fast. »Haben Sie den Bericht gelesen?«

Er nickte.

»Wichtigtuerei«, sagte sie grimmig. »Aber das Schlimme für uns war, daß der Chef einen ganzen Tag lang mit diesen Japanern auf Empfängen war, während wir ihn hier dringend gebraucht hätten. Und das kommt ja relativ häufig vor. Mir leuchtet schon ein, daß es wichtig ist, sich als Direktor eines großen Hotels auch in der Öffentlichkeit sehen zu lassen, aber das muß sich in Grenzen halten. Ein Direktor kann nicht nur nach außen wirken, er muß auch für seine Angestellten da sein.«

Sie trank ihren Espresso und bestellte nach einem Blick auf Adrians leere Tasse mit einer Handbewegung bei dem Mann hinterm Tresen zwei neue.

»So«, sagte sie danach energisch, »und jetzt reden wir nicht mehr über das Hotel, sondern über Sie, Herr Winter. Wie geht es Ihnen?«

Wieder wagte er sich weiter vor als sonst. »Wenn ich hier mit Ihnen sitze und rede, dann geht es mir ausgezeichnet«, antwortete er. »Ich höre Ihnen gerne zu.«

Sie errötete erneut, und für zwei, drei Sekunden verfingen sich ihre Blicke ineinander. Vielleicht hätte Adrian sich, verführt durch das Lächeln in ihren Augen, doch noch weiter vorgewagt, wenn nicht in diesem Moment der Kellner gekommen wäre, um die leeren Tassen abzuräumen und die neuen Espresso zu servieren.

Fast erleichtert darüber, daß die Gefahr weiterer unbedachter Äußerungen zunächst einmal gebannt war, lehnte sich Adrian zurück, murmelte geistesabwesend: »Danke schön« und löffelte sich viel zuviel Zucker in die Tasse.

*

»Er macht sich hier nicht schlecht, der Herr Weyrich«, meinte die Internistin Dr. Julia Martensen leise zu ihrem jüngeren Kollegen, dem chirurgischen Assistenzarzt Dr. Bernd Schäfer. Sie untersuchten in der Notaufnahme der Kurfürstenklinik gemeinsam einen jungen Mann, der völlig betrunken mit seinem Motorrad in einen Vorgarten gerast war. Zum Glück waren seine Verletzungen nicht allzu schlimm – der Garten allerdings, hatte man ihnen berichtet, war komplett verwüstet.

»Finde ich auch«, stimmte Bernd zu. »Gerade an solchen Tagen wie heute, wenn Adrian frei hat, fällt es besonders auf, daß wir jetzt Verstärkung bekommen haben.«

Sie unterhielten sich über Dr. Marc Weyrich, einen jungen Unfallchirurgen aus Heidelberg, der für ein paar Monate nach Berlin gekommen war, um andere Behandlungsmethoden kennenzulernen und mit seinen Berliner Kollegen Erfahrungen auszutauschen. Dieses Projekt hatte der Verwaltungsdirektor der Kurfürstenklinik, Thomas Laufenberg, angeregt. Im Gegenzug war eine junge Internistin nach Heidelberg gegangen. Man erhoffte sich eine Menge von diesem Austausch.

»Wie lange bleibt er eigentlich hier?« erkundigte sich Bernd.

»Ein paar Monate, höchstens ein halbes Jahr«, antwortete Julia und richtete sich auf. »So, der Patient kann nach oben in den OP – ein Wunder, daß er sich nicht mehr gebrochen hat als das Schlüsselbein.«

»Ich bring’ ihn hoch«, erbot sich Bernd.

Er war gerade mit dem Patienten im Aufzug verschwunden, als Marc Weyrich neben Julia auftauchte. Er war Anfang dreißig, dunkelhaarig und gut aussehend – der Traum jeder Schwester und jeder jüngeren Kollegin. Doch der junge Heidelberger war erstaunlich zurückhaltend, flirtete zwar ein bißchen, ließ sich jedoch ansonsten auf nichts ein. Julia vermutete, daß er entweder frisch verliebt war oder aber ein ganz gerissener Frauenheld. Sie fand ihn sympathisch, und fachlich war an ihm ebenfalls nichts auszusetzen.

»Nun, schöne Kollegin«, sagte er charmant, »was kann ich nun tun? Das Wartezimmer ist leer – könnte es sein, daß wir eine kleine Ruhepause haben?«

»Wenn es so wäre, hätte ich nichts dagegen«, erwiderte Julia müde. »Es kommt selten genug vor, und der Morgen war ja bis jetzt nicht ohne.«

Er unterdrückte ein Gähnen. »Allerdings«, gab er zu. »Ich muß Ihnen sagen, Frau Martensen, daß die Notaufnahme der Kurfürstenklinik mit unserer in Heidelberg überhaupt nicht zu vergleichen ist. Es ist ja ungeheuerlich, wie viele Menschen Sie hier mit so wenig Personal versorgen müssen.«

»Wir beschweren uns ständig, aber eine weitere Planstelle bekommen wir nicht bewilligt. Immerhin geht es uns besser, seit der Verwaltungsdirektor gewechselt hat«, sagte Julia. »Er sorgt dafür, daß wir öfter Ärzte im Praktikum hier haben – oder jetzt Sie. Es ist sicher kein Zufall, daß bei dem Ärzte-Austausch zwischen den beiden Krankenhäusern auch ein Notfallmediziner war. Herr Laufenberg versucht schon, uns zu helfen. Aber die Anforderungen steigen ständig, und wir haben außerdem das Gefühl, daß immer mehr Menschen zu uns kommen.«

»Das ist allerdings eine Entwicklung, die wir in Heidelberg auch beobachtet haben«, bemerkte Marc.

Die Türen der Notaufnahme öffneten sich, und Julia seufzte, als sie die Sanitäter hereinstürmen sah. »Die Verschnaufpause ist vorüber, Herr Weyrich«, sagte sie. »An die Arbeit!«

*

»Er ist nicht da, Janine, du brauchst dich gar nicht so unauffällig umzusehen!« stellte Andrea Reddemann seelenruhig fest und begann die Speisekarte des Krankenhaus-Restaurants zu studieren.

Ihre Freundin seufzte. Janine Gerold und Andrea Reddemann waren Ärztinnen im Praktikum an der Kurfürstenklinik – Andrea arbeitete auf der Chirurgischen Station, Janine auf der Inneren. Sie hatten sich erst hier in Berlin kennengelernt und sich auf Anhieb gut verstanden. Seit kurzem bewohnten sie sogar eine kleine Wohnung zusammen, was ihre Ausgaben zum Glück erheblich reduzierte, denn Berlin war ein teures Pflaster, das hatten sie beide bald festgestellt.

»Er arbeitet schließlich in der Notaufnahme«, fuhr Andrea fort, »die haben immer völlig unregelmäßige Pausen, das weißt du doch.« Andrea war eine hübsche, pummelige Blondine, die sich durch nichts die Laune verderben ließ. Die Patienten liebten sie, weil sie immer fröhlich war, und auch mit ihren Kolleginnen kam sie gut klar.

Janine fiel das nicht ganz so leicht. Sie war, mit ihren dunkelroten Haaren und den grünen Augen, eine ausgesprochen hübsche junge Frau – und das machte ihre Kolleginnen vielleicht mißtrauisch. Jedenfalls fand sie längst nicht so leicht Anschluß wie Andrea. Und die Tatsache, daß vor allem die männlichen Patienten ständig versuchten mit ihr zu flirten, machte Janine das Leben nicht eben leichter. Sie litt darunter, wußte aber nicht, was sie hätte tun sollen, um etwas zu ändern.«

Andrea sah das ganz nüchtern. »Du bist zu schön, um dich leicht mit Frauen zu befreunden«, hatte sie Janine einmal erklärt. »Finde dich damit ab, dann fällt’s dir leichter, es zu ertragen. Und ab und zu taucht dann mal eine wie ich auf, der deine Schönheit egal ist, Janine.«

Sie hatten beide lachen müssen nach dieser kurzen »Predigt«, wie Andrea sie selbstironisch genannt hatte – und danach das Thema nicht wieder angeschnitten.

»Wieso verliebst du dich aber auch sofort in den nächstbesten Arzt?« fragte Andrea nun, nachdem sie sich ausgesucht hatte, was sie essen wollte.

»Er ist nicht der nächstbeste!« widersprach Janine. »Außerdem kann ich nichts dafür, Andrea. Ich hab’ mich doch nicht freiwillig in ihn verliebt. Es ist einfach so passiert.«

Sie gaben ihre Bestellung auf, dann setzten sie das Gespräch fort. »Das glaubst du doch selbst nicht«, meinte Andrea nachdenklich. »Wenn ich mich nicht verlieben will, dann tue ich es auch nicht. Und wenn die Sache so aussichtslos ist wie in diesem Fall…« Sie ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen.

»Ja, ich weiß«, sagte Janine niedergeschlagen. »Er reagiert einfach nicht. Auf keine Frau reagiert er. Ich bin sicher, daß er mich noch nicht einmal richtig wahrgenommen hat.«

»Dr. Marc Weyrich«, sagte Andrea nachdenklich. »Doch, er sieht gut aus, und er scheint nett zu sein. Außerdem soll er als Arzt auch nicht schlecht sein. Aber trotzdem, Janine: Einen wie ihn findest du überall. Warum muß es ausgerechnet dieser Mann sein, der sich überhaupt nicht für dich interessiert? Alle anderen, schätze ich mal, könntest du haben.«

»Alle nicht«, sagte Janine.

»Aber viele! Also, warum bist du so verbohrt?«

Janine sah sie an und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Andrea. Aber es ist einfach so. Ich bin total verliebt in Dr. Weyrich. Ihn oder keinen.«

»Du spinnst ja«, sagte Andrea voller Überzeugung. »Heute abend gehen wir ins Kino und ziehen uns einen Liebesfilm rein. Da kannst du einen von diesen Hollywood-Helden anschmachten – vielleicht hilft das.«

Janine erwiderte nichts, und Andrea betrachtete sie prüfend. »Nein«, sagte sie dann ergeben. »Es wird auch nichts helfen.«

Zum Glück wurde ihr Essen gebracht, und sie mußten das traurige Thema um Janines aussichtslose Liebe zumindest im Augenblick nicht weiter vertiefen.

*

Stefanie sah auf ihre Uhr und stieß einen kleinen Laut des Erschreckens aus. »Über eine Stunde sitze ich jetzt schon hier mit Ihnen, Herr Winter – die Zeit ist wie im Flug vergangen, ich habe gar nicht gemerkt, daß es schon so spät ist.«

»Dann haben Sie sich offenbar nicht gelangweilt mit mir«, sagte er lächelnd, »das nehme ich als Kompliment, Frau Wagner.«

Sie wollte gerade etwas erwidern, als im Raum hinter ihnen Unruhe entstand. Adrian drehte sich um und sah im selben Augenblick eine Frau, die zusammengesunken in seiner Nähe saß. Ihr Gesicht war auf den vor ihr stehenden Tisch gefallen, beide Arme hingen schlaff nach unten. Er sprang auf, wobei er die Umstehenden, die ratlos und bestürzt auf die Frau sahen, energisch beiseite schob.

»Bitte, lassen Sie mich durch, ich bin Arzt«, sagte er. Als er die Frau erreicht hatte, richtete er sie vorsichtig auf und griff nach ihrem Herzen, dann nach ihrem Puls. Gleich darauf stand Stefanie mit besorgtem Gesicht neben ihm.

»Einen Rettungswagen, schnell, Frau Wagner. Und benachrichtigen Sie meine Notaufnahme.«

Ja, er sagte wirklich »meine« – so sehr identifizierte er sich mit der Station, die er nun schon seit mehreren Jahren leitete. Stefanie kam seiner Bitte umgehend nach und sagte, kaum zwei Minuten später: »Der Wagen wird gleich hier sein. Ihre Kollegen in der Kurfürstenklinik erwarten Sie, Herr Winter.«

»Danke. Helfen Sie mir bitte, ich möchte, daß wir die Frau hinlegen und ihre Kleidung öffnen, damit sie sie nicht beengt.«

Sehr leise fügte er hinzu: »Und schaffen Sie die Neugierigen hier raus, wenn Sie können.«

Sie nickte, half ihm, die Frau lang auszustrecken und bat dann die Gäste der Bar mit umwerfender Liebenswürdigkeit, ihre Getränke mit in die Lobby zu nehmen, bis der Rettungswagen gekommen sei und die Dame abgeholt habe.

Innerhalb kürzester Zeit war die Bar leer, und Adrian sagte erleichtert: »Vielen Dank, Frau Wagner.« Er beobachtete voller Sorge die regungslos am Boden liegende Frau und hoffte, daß der Rettungswagen früh genug eintraf, um sie zu retten.

»Ist das ein Herzinfarkt?« fragte Stefanie.

»Nein, das glaube ich nicht. Kennen Sie die Frau? Ist sie Gast Ihres Hotels?«

»Das ist Alida Roth«, sagte Stefanie leise. »Sie ist Stammgast bei uns.«

»Die Witwe des Reeders Roth?« fragte Adrian. Jetzt erst bemerkte er die teure Kleidung der Frau, ihren unauffälligen, aber sehr kostbaren Schmuck. Sie war, wenn er sich richtig an einige Artikel erinnerte, die er gelesen hatte, etwa Mitte fünfzig.

»Ja, genau die«, antwortete Stefanie. Jetzt flüsterte sie fast. »Achten Sie auf Alkohol und Drogen – es kann gut sein, daß ihr Zusammenbruch dadurch hervorgerufen wurde.«

»Danke für den Hinweis, vielleicht dient er ihrer Rettung.«

»Sie ist ein ganz armer Mensch«, sagte Stefanie traurig. »Sie hat schrecklich viel Geld, aber es nützt ihr nichts.«

Sie hörten das Martinshorn des Rettungswagens, und gleich darauf eilten die Sanitäter herein. Adrian kam nicht mehr dazu, sich von Stefanie zu verabschieden, denn der Zustand der Patientin war so kritisch, daß nun ein dramatischer Wettlauf mit der Zeit begann.

*

»Ich habe Sie heute vormittag fast eine halbe Stunde vergeblich gesucht, Frau Wagner«, begann Andreas Wingensiefen, Stefanies Chef, mit hörbarer Ungeduld in der Stimme. »Es wäre wichtig gewesen, Sie sofort zu sprechen, aber Sie waren unauffindbar – sorgen Sie bitte in Zukunft dafür, daß Ihre Sekretärin weiß, wo Sie sich aufhalten.«

Sie erwiderte nichts, sondern wartete darauf, daß er zur Sache kam, obwohl sie wußte, daß sie ihn dadurch nur noch mehr verärgerte.

Sie hatte sich nicht getäuscht, sein Gesicht wurde noch düsterer, als er sich nun ungehalten erkundigte: »Wo waren Sie denn eigentlich?«

»In der Bar«, antwortete Stefanie wahrheitsgemäß. »Frau Roth ist dort ohnmächtig zusammengebrochen – zum Glück war ein Arzt anwesend. Wir mußten einen Rettungswagen rufen und vor Ort erste Hilfe leisten.«

Ihm war der Wind aus den Segeln genommen, und er fiel in sich zusammen wie ein schlaff gewordener Luftballon. Eigentlich kam Stefanie recht gut mit Andreas Wingensiefen klar, da sie seine Schwächen kannte und einzuschätzen wußte. Er machte sich gern wichtig, sie ließ ihn gewähren. Das hatte den Vorteil, daß sie zwar viel arbeiten mußte, aber in der Regel freie Hand hatte, weil er sich nicht einmischte.

Nur manchmal mußte er einfach den Chef herauskehren, damit die Verhältnisse wieder einmal geklärt waren. Das kam alle paar Wochen vor, und sie hatte sich daran gewöhnt. Meistens nahm sie es gelassen hin, gelegentlich ärgerte sie sich so über ihn, daß sie ihn absichtlich reizte – wohl wissend, daß er es sich nicht leisten konnte, sie zu verlieren. Ohne Stefanie Wagner hätte das King’s Palace gleich die Pforten schließen können und Andreas Wingensiefen hätte sich um gerade jene Kleinigkeiten kümmern müssen, die ihn nicht interessierten.

»Das wußte ich nicht«, gab er nun zu. »Wie geht es Frau Roth? Es ist doch hoffentlich nichts Ernstes?«

»Das Übliche«, sagte sie ruhig.

Er sah sie scharf an. »Was soll das heißen, Frau Wagner?«

»Zu viel Alkohol – und wahrscheinlich noch Kokain«, antwortete sie. »Das wissen Sie doch, Frau Roths Probleme sind hier im Hause bekannt.«

»Mir nicht!« entgegnete er scharf. »Und ich wünsche nicht, daß Sie so etwas über einen unserer Stammgäste sagen.«

Jetzt wurde sie zornig. »Ich laufe ja nicht herum und verbreite Gerüchte über Frau Roth, sondern ich sage Ihnen, dem Direktor dieses Hotels, was jeder Angestellte hier weiß. Ich kenne Frau Roth recht gut und weiß, wie viel Alkohol sie bei uns trinkt. Und die Sache mit dem Kokain habe ich vom Zimmerservice. Ich bin der Sache nachgegangen – sie stimmt. Frau Roth schwebt übrigens in Lebensgefahr – deshalb habe ich dem Arzt auch gesagt, was ich weiß.«

»Sie haben was getan?« Sein Gesichtsausdruck war so entgeistert wie seine Stimme.

»Ich habe den Arzt informiert«, erklärte sie kühl, »damit er sie gezielt behandeln kann. Das kann nämlich in solchen Fälle über Leben und Tod entscheiden. Wollten Sie sonst noch etwas, Herr Wingensiefen?«

»Nein, das war alles«, bellte er, und sie verließ eilig das Zimmer. Draußen atmete sie erst einmal tief durch, dann lief sie zu ihrem Büro. Manchmal hatte sie Lust, ihrem Chef an die Kehle zu springen. Heute war wieder einmal so ein Tag.

*

»Mehr Kochsalz«, kommandierte Adrian, und Schwester Monika hängte Alida Roth eine weitere Infusion an. Sie versuchten, die Konzentration von Alkohol und Drogen im Blut der Patientin so weit wie möglich zu verdünnen, zugleich bekam sie Medikamente, die Herz und Kreislauf unterstützten. Ihr Zustand hatte sich ein wenig stabilisiert, war aber noch weit davon entfernt, gut zu sein. Noch immer war sie nicht bei Bewußtsein.

»Frau Roth?« fragte Marc Weyrich, der Adrian bei seinen Bemühungen unterstützte. »Können Sie mich hören, Frau Roth?«

Die Frau schlug zum ersten Mal die Augen auf, schaffte es jedoch nicht, ihren Blick auf einen Punkt zu konzentrieren. Lallend fragte sie: »Was… is’?«

»Reden Sie mit mir, Frau Roth, damit Sie wach bleiben«, sagte der junge Arzt, während Adrian die Zusammensetzung des Medikaments noch einmal änderte, das der Patientin zugleich mit dem Kochsalz verabreicht wurde. »Wissen Sie, was passiert ist? Können Sie sich daran erinnern?«

Aber seine Bemühungen waren vergebens. »Keine… keine Ahnung«, murmelte sie und schloß erneut die Augen.

»Ich hoffe, sie schafft es«, sagte Adrian besorgt. »Meine Güte, sie muß Unmengen Alkohol zu sich genommen haben.«

»Woher haben Sie das gewußt – daß sie getrunken und auch noch Kokain genommen hatte?« fragte Marc. »Sie sieht ja wirklich nicht aus wie ein Junkie.«

»Jemand hat es mir gesagt«, antwortete Adrian. Als er den Blick des anderen sah, lächelte er. »Ich bin kein Hellseher, Herr Weyrich. Daß sie Alkohol getrunken hat, hätte ich gemerkt – aber auf Drogen wäre ich wohl auch nicht so schnell gekommen.«

Marc war erleichtert. »Ich dachte schon, ich hätte etwas übersehen«, gestand er. »Einen Hinweis auf ihren Drogenkonsum, meine ich.«

»Nein, Sie haben nichts übersehen«, beruhigte ihn Adrian.

Sie beugten sich beide wieder über die Patientin, die nun, mit geschlossenen Augen, leise vor sich hin murmelte.

»Vielleicht ist das Schlimmste ja jetzt überstanden!« meinte Marc.

Adrian warf einen Blick auf die Monitore, an die die Patientin angeschlossen war. »Noch nicht«, sagte er ernst.

*

Stefanie wartete bis zum Nachmittag, bis sie in der Notaufnahme der Kurfürstenklinik anrief und darum bat, mit Dr. Winter verbunden zu werden. »Wenn das nicht möglich ist«, sagte sie hastig, als sie das Zögern auf der anderen Seite bemerkte, »dann wäre ich froh, wenn er mich kurz zurückrufen könnte. Ich rufe aus dem Hotel King’s Palace an – Frau Roth gehört zu unseren Gästen.«

»Ach so«, sagte die junge Schwester am anderen Ende, »es geht um Frau Roth. Einen Augenblick bitte!«

Stefanie wartete und spürte, daß ihr Herzschlag sich unwillkürlich beschleunigte, während sie darauf wartete, daß sich Adrian Winter am anderen Ende meldete. Warum nur konnte sie sich diesen Mann nicht aus dem Kopf schlagen? Diesen Mann, dessen Augen ihr manchmal mehr zu sagen schienen als sein Mund, der jedoch noch nie auch nur den geringsten Annäherungsversuch unternommen hatte…

»Frau Wagner?«

»Ja«, sagte sie, froh, aus ihren Gedanken gerissen worden zu sein. »Wie geht es Frau Roth, Herr Winter?» Sie hatte ihn zunächst mit »Dr. Winter« angesprochen, bis er sie eines Tages gebeten hatte, den Titel wegzulassen. Warum fiel ihr das gerade jetzt ein? Verwirrt versuchte sie, sich auf das zu konzentrieren, was er gerade sagte.

»… besser, endlich«, hörte sie. Den Anfang des Satzes hatte sie nicht mitbekommen. »Wir werden sie in der nächsten Stunde auf die Innere verlegen und dafür sorgen, daß sich dort eine junge Ärztin vor allem um sie kümmert.«

»Sie ist also nicht in Lebensgefahr?«

»Nicht mehr«, antwortete er ernst. »Aber sie war es lange genug, Frau Wagner. Es kann gut sein, daß Sie ihr das Leben dadurch gerettet haben, daß Sie mir diese Information haben zukommen lassen. So konnten wir gleich ganz gezielt vorgehen.«

»Ja, das war meine Überlegung dabei«, erwiderte sie, »aber als ich das meinem Chef sagte, hat er mir fast den Kopf abgerissen. Er hat so getan, als hätte ich intime Geheimnisse eines Stammgastes an die Klatschpresse weitergegeben.«

Obwohl er müde und erschöpft war, lachte er leise. »Das ist ein Verhalten, das ich mit Ihnen überhaupt nicht in Verbindung bringen kann, Frau Wagner, eine völlig unmögliche Vorstellung!«

»Danke schön«, sagte sie aufrichtig, »das ist ein sehr schönes Kompliment, Herr Winter. Vielleicht sollte ich Sie demnächst mal mit Herrn Wingensiefen bekannt machen, und Sie erzählen ihm, was für ein Bild Sie von mir haben. Seins scheint im Augenblick ein wenig getrübt zu sein.«

Sie klang so niedergeschlagen, daß er sofort fragte: »Glauben Sie das im Ernst? Sie werden sich doch von Ihrem Chef nicht unterkriegen lassen? Das würde gar nicht zu Ihnen passen.«

Sie klang schon wieder munterer. »Nein, das tue ich auch nicht«, sagte sie, »es war nur heute wieder einmal einer dieser Tage, wo er mir, mit Verlaub, ziemlich auf die Nerven gegangen ist.«

»Wenn ich etwas tun kann, um Sie aufzuheitern, dann sagen Sie es mir«, bat er. »Wie wäre es denn, wenn wir in den nächsten Tagen wieder einmal miteinander essen gingen?«

»Sehr gern«, sagte sie – so schnell, daß es ihr gleich hinterher ein wenig peinlich war.

»Fein. Übermorgen?«

Da hatte sie einen Termin, aber den würde sie absagen – vielleicht gelang es ihr ja doch noch, Dr. Adrian Winter näherzukommen. »In Ordnung.«

Sie verabredeten Ort und Zeit und legten beide sehr zufrieden auf. Stefanies glückliches Lächeln sah niemand, da sie ganz allein im Büro war. Adrian jedoch wurde von Bernd Schäfer mißtrauisch gefragt: »Sag mal, hast du im Lotto gewonnen – oder was ist sonst passiert? Du grinst wie ein Honigkuchenpferd – und das nach einem so anstrengenden Tag. Da kann doch etwas nicht stimmen!«

»Ich habe nicht im Lotto gewonnen, Bernd«, versicherte Adrian. »Aber ich habe eben ein ausgeglichenes Naturell, und deshalb lächele ich selbst nach anstrengenden Tagen.« Mit diesen Worten ließ er seinen Kollegen stehen und eilte, leise vor sich hin pfeifend, wieder an seine Arbeit.

»Bestimmt steckt eine Frau dahinter«, brummte Bernd und strebte zu einem Automaten, um sich einen Riegel Schokolade zu ziehen. Er hatte mindestens fünfzehn Kilo zu viel und wußte, daß Süßigkeiten sein Verderben waren, aber es gelang ihm nicht, etwas dagegen zu unternehmen. Schon gar nicht, wenn er frustriert war, und das war im Augenblick der Fall, denn er hatte sich bei einer sehr attraktiven jungen Ärztin vor einigen Tagen einen Korb geholt.

Der Schokoladenriegel verschwand mit ungeheurer Geschwindigkeit in seinem Mund, und danach sah die Welt schon wieder angenehmer aus. Als er sich wenig später zu Adrian gesellte, fragte dieser scheinheilig: »Wieso siehst du denn so glücklich aus – nach einem so anstrengenden Tag?«

»Das muß mein ausgeglichenes Gemüt sein«, erwiderte Bernd ebenso scheinheilig.

Ihre Blicke trafen sich, dann lachten sie beide. Sie kannten einander schon lange, und ihre kleinen Scherze, mit denen sie sich über den jeweils anderen, aber auch über sich selbst lustig machten, gehörten einfach dazu.

*

»Wo ist Frau Gerold?« fragte Julia Martensen, als sie die Innere Station betrat.

Janine wurde gerufen und kam gleich darauf angerannt. Sie hatte großen Respekt vor der älteren Ärztin, die hier auf der Station als unangefochtene Autorität galt. Dazu trug auch bei, daß Dr. Martensen oft in der Notaufnahme arbeitete und deshalb über breit gefächerte Erfahrungen verfügte. Außerdem war bekannt, daß Dr. Adrian Winter, der die Notaufnahme leitete, an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter höchste Ansprüche stellte. Und da er mit Dr. Martensen schon seit langem regelmäßig zusammenarbeitete, war das so etwas wie ein Ritterschlag.

»Wir verlegen morgen früh eine Patientin hierher auf die Innere, die einen Zusammenbruch nach schwerem Alkohol- und Drogenmißbrauch hatte, Frau Gerold«, sagte Julia. »Bis eben haben wir sie in der Notaufnahme behandelt – sie schwebte in Lebensgefahr, aber nun sieht es so aus, als sei das Schlimmste überstanden. Die Frau braucht intensive Betreuung – und ich habe mit dem Diensthabenden hier auf der Station schon gesprochen, daß Sie das übernehmen sollen. Einverstanden?«

»Ja, sicher«, sagte Janine, die noch nicht genau wußte, ob sie sich über diesen Vertrauensbeweis freuen oder sich lieber vor der Aufgabe fürchten sollte.

»Es handelt sich um Alida Roth«, fuhr Julia fort und behielt ihre jüngere Kollegin dabei scharf im Auge.

Wie erwartet machte Janine große Augen, als sie den Namen hörte. »Die Alida Roth«, fragte sie. »Die Witwe des Reeders?«

»Genau die«, antwortete Julia knapp. »Sie ist fünfundfünfzig Jahre alt und in schlechter Verfassung – ganz sicher nicht nur körperlich. Sie bekommt ein Einzelzimmer, und ich möchte, daß Sie sie möglichst wenig allein lassen, während Ihrer Dienstzeit.«

»Ja, sicher«, hauchte Janine. »Glauben Sie denn… also, ich meine, rechnen Sie denn damit, daß sie…«

»Es war kein Selbstmordversuch, falls Sie das annehmen«, erklärte Julia und fügte leiser hinzu: »Frau Roth begeht offenbar Selbstmord auf Raten – aber ich bin nicht sicher, ob sie das überhaupt weiß.«

»Ich verstehe«, sagte Janine. »Auf keinen Fall darf sie also Zugang zu Alkohol oder Medikamenten haben.«

»So ist es. Wir müssen versuchen, sie von der Notwendigkeit einer Entziehungskur zu überzeugen – und das möglichst schnell. Sie ist in einem erbärmlichen Zustand.«

Janine zögerte, fragte dann aber doch: »Warum gerade ich, Frau Martensen? Ich habe doch noch sehr wenig Erfahrung.«

Julia sah die aparte junge Frau mit den schönen grünen Augen nachdenklich an, dann lächelte sie. »Reiner Instinkt von mir. Ich hoffe, Sie gewinnen Frau Roths Vertrauen – Sie sind ihr ähnlich.«

»Ähnlich? Ich?«

Janine war so bestürzt, daß Julia rasch erklärte: »Rein äußerlich, Frau Gerold. Sie muß als junge Frau so ähnlich ausgesehen haben wie Sie, ich habe Fotos von ihr gesehen. Es kann allerdings sein, daß meine Rechnung nicht aufgeht.«

»Wenn ich sie an ihre verlorene Jugend erinnere und sie das nicht verkraftet, dann haßt sie mich bestimmt«, sagte Janine leise.

Julia nahm diese Worte als Beweis für die Sensibilität der jungen Frau und dachte im stillen, daß sie durchaus Recht haben konnte mit ihrer Vermutung. »Lassen Sie es uns versuchen«, sagte sie trotzdem. »Wenn es gar nicht geht, dann muß eben jemand anderes diese Aufgabe übernehmen. Oder möchten Sie gleich einen Rückzieher machen? Zwingen will ich Sie nicht, Frau Gerold.«

»Ich will es gern versuchen«, sagte Janine.

»Gut! Sie haben ja noch bis morgen früh Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.« Julia lächelte ihrer jungen Kollegin noch einmal zu und eilte zurück in die Notaufnahme.

*

Stefanie ging an diesem Abend früher als sonst nach Hause – und das hing vor allem mit ihrem noch immer brodelnden Zorn auf Andreas Wingensiefen zusammen. Sie blieb normalerweise bis neun oder zehn im Hotel, oft genug wurde es auch noch später. Wenn es ein Problem gab oder viel Arbeit liegen geblieben war, dann brachte sie es nicht fertig, einfach nach Hause zu gehen, sondern arbeitete so lange, bis alles erledigt war.

Doch heute ging sie, obwohl sie noch mindestens zwei Stunden zu tun gehabt hätte, um alles aufzuarbeiten, was sich auf ihrem Schreibtisch stapelte. Die Rezeptionisten sahen ihr verwundert nach, als sie zu ungewohnt früher Stunde und mit einem knapperen Gruß als gewöhnlich an ihnen vorüber nach draußen schoß. Stefanie war nicht nur deshalb im Hotel so beliebt, weil sie schuftete wie ein Pferd, sondern auch, weil sie immer freundlich und zudem bereit war, sich die Anliegen eines jeden anzuhören, der im Hotel arbeitete. Sie machte keinen Unterschied zwischen einem Küchenjungen und einem Prokuristen, und das wurde ihr allgemein hoch angerechnet.

Daß sie an diesem Abend ein höchst verschlossenes Gesicht machte, fiel jedem auf, der ihr begegnete – und bald war man sich einig darüber, daß das, wieder einmal, die Schuld des Chefs war, der unbegreiflicherweise immer noch nicht begriffen zu haben schien, was er an seiner engsten Mitarbeiterin hatte.

Stefanie ließ ihr Auto stehen und stürmte zu Fuß nach Hause. So wütend war sie, daß sie nicht nach rechts oder links sah, sondern einfach so schnell lief, bis sie völlig außer Atem zu Hause ankam. Und sie wäre sicher genauso weiter die Treppen hinaufgestürmt, wenn nicht die freundliche Stimme ihres neuen Nachbarn sie aufgehalten hätte: »Hallo, Frau Wagner. Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?«

Sie blieb stehen und sah sich um. »Ach, Sie sind’s, Herr Weyrich«, sagte sie und lächelte unwillkürlich, denn er war ein ausgesprochen sympathischer Mann. Sie wußte praktisch nichts von ihm, weil er ein sehr zurückgezogenes Leben führte und offenbar sehr viel arbeitete, aber wann immer sie sich trafen, wechselten sie ein paar Worte miteinander.

»Also?« fragte er wieder. »Wie heißt die Laus?«

»Sieht man mir das so deutlich an?« fragte sie, fast schuldbewußt.

»Und ob. Sie haben eine steile Falte auf der Stirn, die ich vorher noch nie gesehen habe – und Ihre Augen funkeln so kampflustig, daß ich richtig Angst bekäme, wenn ich nicht wüßte, daß Sie unmöglich auf mich zornig sein können.«

Nun mußte sie lachen. »Auf Sie wirklich nicht«, sagte sie. »Ich bin sauer auf meinen Chef – er muß einfach immer mal wieder den Macho herauskehren, und das kann ich nicht leiden, weil es völlig überflüssig ist. Er verdirbt mir nur die Laune und treibt mich, wie heute, vorzeitig von meinem Schreibtisch weg, weil ich plötzlich keine Lust mehr habe, mich von ihm schikanieren zu lassen. Und darunter leidet die Arbeit dann wirklich.«

Er betrachtete sie nachdenklich, dann sagte er spontan: »Trinken Sie ein Glas Wein mit mir! Sie brauchen ein bißchen Abwechslung, scheint mir – und ich bin heute auch nicht böse drum. Mich hat zwar niemand geärgert, aber es war ein durchaus anstrengender Arbeitstag.«

»Ich weiß nicht einmal, wo Sie arbeiten«, stellte sie fest.

»Kommen Sie herein, dann erzähle ich es Ihnen«, sagte er.

Sie ließ sich nicht lange bitten, sondern folgte seiner Einladung. An diesem Abend konnte ihr nichts Besseres passieren, fand sie.

*

Janine und Andrea saßen beim Abendessen in der Küche ihrer kleinen Wohnung und berichteten einander die Ereignisse des Tages. Seit dem gemeinsamen Mittagessen hatten sie sich nicht mehr gesehen, denn Janine war an diesem Abend ungewöhnlich spät nach Hause gekommen, weil auf der Inneren so viel zu tun gewesen war, daß sie nicht einfach hatte gehen können.

Als Janine schließlich zögernd von ihrem Gespräch mit Julia Martensen erzählte, ließ Andrea sofort die Gabel sinken und sah ihre Freundin mit offenem Mund an. »Alida Roth? Diese Frau, über die jede Woche ein Artikel in irgendeinem Klatschblatt steht?«

»Ja, die Witwe des Reeders.«

»Und die soll mal so ausgesehen haben wie du? Nie im Leben, Janine. Ich habe erst kürzlich ein Foto von ihr gesehen – also, da sah sie aus wie mindestens siebzig.«

»Sie ist Mitte fünfzig«, stellte Janine klar. »Und wenn sie schon lange zu viel trinkt, ist es kein Wunder, daß sie nicht gut aussieht. Außerdem hat sie grüne Augen, wie ich. Das stimmt schon mal.«

Andrea blieb skeptisch. »Die haßt dich garantiert, jung und schön wie du bist«, meinte sie. »Komische Idee von Dr. Martensen, ausgerechnet so eine Schöne wie dich mit der Sonderbetreuung zu beauftragen.«

»Zuerst war ich auch ziemlich erschrocken«, bekannte Janine, »aber jetzt finde ich eher, daß es eine interessante Aufgabe ist.«

»Interessant ja«, gab Andrea zu, »aber kniffelig. Alkoholiker sind unberechenbar, Janine. Und wenn sie außerdem noch Drogen nimmt – Mann, da kommt ja ’ne Menge auf dich zu.«

»Das glaube ich allerdings auch«, meinte Janine. »Aber ich bin ja nicht allein.«

»Und Dr. Weyrich?« erkundigte sich Andrea. »Immerhin hat der sie ja wohl auch behandelt in der Notaufnahme. Vielleicht läßt er sich mal blicken auf der Inneren, um zu sehen, wie es ihr geht? Dr. Winter macht das immer, das habe ich schon oft gehört. Der beschränkt sich nicht auf die Notaufnahme, sondern besucht Patienten, die er behandelt hat, auch auf den anderen Stationen.«

Janine war flammend rot geworden. »Es ist ja nicht jeder wie Dr. Winter«, sagte sie.

»Leider, nicht?« grinste Andrea. »Eine interessante Sonderaufgabe und tägliche Besuche des heimlich angebeteten Arztes – kannst du dir noch mehr vom Leben wünschen?«

Sie machte bei dieser Frage ein so treuherziges Gesicht, daß Janine schließlich ihre Verlegenheit vergaß. »Hör auf, mich ständig mit Dr. Weyrich aufzuziehen«, sagte sie. »Es tut mir schon leid, daß ich dir überhaupt davon erzählt habe.«

»Ich bin ja schon still«, sagte Andrea friedlich – und tatsächlich nahm sie den Namen des attraktiven jungen Arztes an diesem Abend nicht mehr in den Mund.

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Stefanie verschluckte sich fast, als sie hörte, welchen Beruf Marc Weyrich ausübte – und wo er das tat. »Sie sind Unfallchirurg und arbeiten in der Notaufnahme der Kurfürstenklinik?« fragte sie.

Er betrachtete sie erstaunt. »Was bringt Sie denn daran so aus der Fassung?« fragte er.

»Überhaupt nichts!« versicherte sie eilig, denn sie würde ihm nicht verraten, welche besondere Beziehung sie mit dieser Notaufnahme verband. Das war ihr Geheimnis und ging ihn nichts an, obwohl es ungeheuer verführerisch gewesen wäre, jetzt zu fragen: »Dann arbeiten Sie also mit Dr. Winter zusammen?« Doch sie sagte nichts dergleichen.

»Es ist nur so«, fuhr sie fort, »daß ich gar nicht auf die Idee gekommen bin, Sie könnten Arzt sein.«

»Wieso?« fragte er gekränkt. »Wie sehe ich denn aus? Wie ein Buchhalter? Wie ein Lehrer? Wie ein Bankkaufmann?«

Sie lachte hellauf. »Nun seien Sie bloß nicht beleidigt, Herr Doktor!«

Er drohte ihr. »Lassen Sie den Titel weg, ich höre ihn tagsüber oft genug – in meinem Privatleben mag ich ihn nicht.«

»Ich hätte Sie eher für einen Bankkaufmann gehalten«, behauptete sie todernst, »Sie haben so etwas ungeheuer Seriöses.«

Erneut wollte er empört reagieren, doch dann sah er ihre Augen und fing an zu lachen. Sie alberten noch eine Weile in dieser Art herum, bis Stefanie wieder ernst wurde und sagte: »Heute ist übrigens einer unserer Stammgäste nach einem Zusammenbruch bei Ihnen eingeliefert worden – Frau Roth. Hatten Sie mit ihr zu tun?«

Er nickte. Nun war es an ihm, erstaunt zu sein. »Sie arbeiten also in einem Hotel?« fragte er. »Sehen Sie, das hätte ich nun auch nicht vermutet.«

»Lehrerin? Bankkauffrau?« fragte sie augenzwinkernd.

»Nein, irgendwas beim Fernsehen«, sagte er lächelnd. »So, wie Sie aussehen!«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und ging nicht näher auf seine Bemerkung ein. Dann stellte sie ihm eine Menge Fragen zu Frau Roth, die er beantwortete, soweit die ärztliche Schweigepflicht es erlaubte. Anschließend fragte er sie nach ihrer Arbeit im Hotel aus.

Es war für beide ein ausgesprochen interessanter Abend, und sie waren sich einig, daß sie sich bald wieder einmal privat treffen sollten, um ihr Gespräch fortzusetzen.

»Falls Sie die Absicht haben, Frau Roth einmal zu besuchen«, meinte Marc, »sagen Sie mir doch vorher Bescheid. Ich führe Sie dann in der Kurfürstenklinik ein bißchen herum und benehme mich so, als ob sie mir gehört. Ich bin nämlich ziemlich stolz, daß ich für eine Weile dort arbeiten kann, wissen Sie?«

»Sie hat einen sehr guten Ruf, nicht wahr?« fragt sie harmlos.

»O ja, sie ist eines der besten Krankenhäuser des Landes. Aber das Beste daran ist diese gigantische Notaufnahme. Der Chef dort, Dr. Winter, ist unter Medizinern ein ziemlich berühmter Mann. Ihnen wird der Name nichts sagen, aber für mich ist es eine Ehre, daß ich mit ihm zusammenarbeiten kann.«

»Wie schön für Sie«, murmelte Stefanie, die spürte, daß ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Und da sie fürchtete, sie werde über kurz oder lang aus Versehen doch noch verraten, daß sie mit dem Namen »Dr. Winter« durchaus etwas anfangen konnte, verabschiedete sie sich wenig später und ging hinüber in ihre Wohnung.

»Bis bald!« rief er ihr im Hausflur nach.

»Ja, bis bald, Herr Weyrich!«

*

»Frau Roth«, sagte Adrian am nächsten Tag ernst, »wir werden Sie jetzt auf die Innere verlegen – da hat das Personal mehr Zeit für Sie als wir hier in der Notaufnahme. Sie bleiben so lange dort, bis Sie sich besser fühlen.«

Der Blick ihrer grünen Augen in dem eingefallenen Gesicht, das die einstige Schönheit noch ahnen ließ, war ohne Hoffnung. »Ich werde mich nie besser fühlen, Herr Doktor«, sagte sie mit ihrer Stimme, die vom vielen Whisky rauh geworden war. »Es ist ganz gleich, wie lange ich hier bleibe oder ob Sie mich sofort entlassen – an meinem Zustand wird das nichts ändern.«

»Sie wären fast gestorben«, sagte er ruhig.

»Von mir aus«, erwiderte sie gleichgültig. »Ich hätte nichts dagegen, abzutreten.«

Er griff nach ihrer Hand und wunderte sich fast, daß sie es geschehen ließ, ohne sie ihm sofort wieder zu entziehen. »Warum sagen Sie das?« fragte er, während er sie nachdenklich betrachtete.

Ihre Haare waren früher rot gewesen, das wußte er, jetzt waren sie offenbar grau. Sie färbte sie zwar, doch das künstliche Rot wirkte zu grell, und der Ansatz hätte dringend nachgefärbt werden müssen. Sie hatte nicht viele Falten, aber sie wirkte ausgezehrt mit ihren hohlen Wangen, den Schatten unter den Augen und dem bleichen Mund, der das Lachen oder Lächeln wohl schon lange verlernt hatte.

Seine Faszination erhielt dieses Gesicht nach wie vor von den strahlend grünen Augen, denen Alkohol, Drogen und das Unglück vieler Jahre nichts von ihrer Schönheit hatten rauben können. Und noch immer wurden sie von einem dichten Wimpernkranz umrahmt, als hätte die Natur beschlossen, diesen Teil des Körpers von Alida Roth unangetastet zu lassen. Die Augen waren so jung wie alles andere an der Frau alt war.

Ihre Hand, die nun ruhig in seiner lag, war knochig, die blauen Adern traten deutlich auf dem Handrücken hervor. »Ich sage das«, antwortete sie nach langem Schweigen auf seine Frage, »weil es die Wahrheit ist. Ich hänge nicht mehr am Leben. Es wäre eine Lüge, wenn ich etwas anderes behaupten würde.«

»Und Sie glauben, das könnte sich nicht noch einmal ändern, Frau Roth?« fragte er.

Sie lachte kurz auf. Es klang bitter. »Glauben Sie an Wunder, Herr Doktor?«

»Ich habe schon gelegentlich eins erlebt«, antwortete er ruhig. »Im medizinischen Bereich, wohlgemerkt.«

»Wundersame Heilungen?« fragte sie voller Spott. »Lahme, die wieder gehen und Blinde, die wieder sehen konnten?«

Er schien ihren Spott gar nicht wahrzunehmen. »Ja, so ähnlich«, sagte er langsam. »Man darf das nur nicht so wörtlich nehmen. Aber manchmal überleben Menschen, obwohl sie eigentlich keinerlei Chancen haben. Für mich ist das jedesmal ein Wunder.«

»Ich überlebe nicht«, sagte sie mit großer Festigkeit in ihrer dunklen Stimme. »Mein Leben ist vorbei, es hat mir nichts mehr zu bieten. Ich habe alles verloren, was ich geliebt habe – einen Neuanfang wird es für mich nicht mehr geben. Mir liegt nichts daran.«

»Und deshalb trinken Sie?« fragte er. »Und nehmen Kokain?«

»Das geht Sie nichts an«, erklärte sie abweisend, und nun entzog sie ihm endlich ihre Hand, um ihm zu zeigen, daß er zu weit gegangen war.

»Oh, doch«, entgegnete er durchaus freundlich. »Es geht mich sehr wohl etwas an. Sie sind unsere Patientin, Frau Roth, Ihr Leben ist uns anvertraut, und ich werde um Ihr Leben kämpfen.«

»Da bin ich aber gespannt, wie Sie das machen wollen, Herr Doktor!« spottete sie. »Auf meine Mithilfe dürfen Sie dabei nicht zählen.«

Er sah, daß es keinen Sinn hatte, im Augenblick noch länger mit ihr zu reden, und so sagte er nur: »Wir werden sehen, Frau Roth. Jedenfalls bringe ich Sie jetzt auf die Innere Station, wo man Sie bereits erwartet – und ich werde in den nächsten Tagen regelmäßig nach Ihnen sehen.«

»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte sie, auf einmal unendlich müde. »Kümmern Sie sich lieber um die Patienten, die noch eine Zukunft haben. Das ist wichtiger.«

An dieser Stelle wurde sie von Schwester Monika unterbrochen. »Adrian, du mußt kommen, dringend. Ein schwerer Unfall – vier Schwerverletzte.«

»Gehen Sie, Herr Doktor!« sagte Alida Roth mit traurigem Lächeln. »Tun Sie etwas für die Menschen, die an ihrem Leben hängen!«

»Darüber sprechen wir noch«, gab er zurück, dann rannte er hinter Schwester Monika her zu den Behandlungskabinen, in die gerade die Unfallopfer gebracht wurden.

*

Eine Stunde später war die Lage in der Notaufnahme wieder weitgehend unter Kontrolle – und nun fiel Adrian die Patientin Alida Roth wieder ein. »Herr Weyrich, darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«

»Mich? Ja, klar«, antwortete Marc, der die ganze Zeit neben Adrian gestanden und um das Leben eines zehnjährigen Mädchens gekämpft hatte. Jetzt schien es, als hätten sie diesen Kampf gewonnen.

»Bringen Sie Frau Roth auf die Innere – sie wird dort erwartet. Ich wollte das eigentlich selbst machen, aber ich möchte jetzt nicht von hier weg. Und Frau Dr. Martensen ist auch unabkömmlich.«

»Wenn Sie auf mich verzichten können, mache ich das gern«, sagte Marc.

Adrian gab ihm rasch noch einige Informationen, dann zog sich der junge Arzt zurück und machte sich auf den Weg zu Alida Roth, die die Augen geschlossen hielt und nicht zu merken schien, daß jemand den Raum betrat.

»Frau Roth?«, fragte Marc leise. »Ich bin’s, Dr. Weyrich. Ich bringe Sie jetzt auf die Innere Station – Herr Dr. Winter muß sich noch um ein verletztes Kind kümmern.«

Unvermittelt sah sie ihn an, und der Blick dieser strahlend grünen Augen ging ihm durch und durch. Auf einmal ahnte er, wie sie vor zwanzig oder dreißig Jahren ausgesehen haben mußte. So ähnlich, dachte er, wie diese schöne rothaarige Ärztin im Praktikum, der er manchmal

im Krankenhaus-Restaurant begegnete....

Aber den Gedanken verdrängte er gleich wieder, denn er wollte sich nicht in eine Kollegin verlieben, da er wußte, daß das in der Regel eine Menge Komplikationen nach sich zog. Außerdem würde er nicht in Berlin bleiben, sondern nach Heidelberg zurückkehren, und eine Liebe auf Distanz war nichts für ihn. Er wollte sich mit einer festen Beziehung noch Zeit lassen, bis er in seinem Beruf sicher Fuß gefaßt hatte.

»Mir ist es egal, wohin Sie mich bringen, das habe ich Ihrem Kollegen schon gesagt. Sie werden mich nicht retten, glauben Sie mir. Ich trinke wieder, sobald ich diese Klinik verlassen habe. Versuchen Sie gar nicht erst, mich davon abzubringen. Mein Leben ist vorüber, und keiner von euch Ärzten wird daran etwas ändern.«

Im ersten Augenblick wußte er nicht, was er darauf erwidern sollte, dann entschied er sich für Offenheit. »Gut, wie Sie wollen, Frau Roth. Es ist Ihr Leben. Aber meine Aufgabe ist es jetzt, Sie auf die Innere Station zu bringen, und genau das werde ich tun.«

Einige Sekunden lang war sie verblüfft, weil sie wohl damit gerechnet hatte, auch er werde ihr jetzt ins Gewissen reden, dann zeigte sich der schwache Schimmer eines Lächelns auf ihrem Gesicht. »Jedenfalls sind Sie nicht auf den Mund gefallen«, stellte sie fest. »Also los, dann bringen Sie mich hier weg, junger Mann!«

Mit Schwung schob er das Bett auf den Gang und steuerte dann auf einen der Aufzüge zu.

*

»Ist die angekündigte Patientin immer noch nicht hier?« fragte eine von Janines Kolleginnen, als sie Janine ganz normal ihren Stationsdienst verrichten sah. »Ich denke, du sollst dich vor allem um sie kümmern.«

Janine zuckte mit den Schultern. »Ja, soll ich, aber sie ist noch nicht da. Ich habe vorhin in der Notaufnahme angerufen, aber die hatten gerade einige Schwerverletzte von einem Unfall zu behandeln – ich nehme an, deshalb hat sich alles verzögert. Und weil hier auch so viel zu tun war, konnte ich nicht weg, um sie eventuell selbst abzuholen.«

In diesem Augenblick murmelte die andere: »Wenn man vom Teufel spricht, Janine. Ich wette, der attraktive Dr. Weyrich bringt die Patientin gerade.«

Bei diesem Namen fuhr Janine herum und sah Marc Weyrich direkt auf sich zukommen. Ihre Knie wurden weich, und sie hätte sich am liebsten irgendwo festgehalten, bis dieser merkwürdige Schwindel in ihrem Kopf nachgelassen hatte. »Bis später«, hörte sie ihre Kollegin sagen, dann stand Marc Weyrich auch schon vor ihr.

»Sind Sie Dr. Gerold?« fragte Marc, der selbst hörte, wie belegt seine Stimme klang.

Janine nickte. »Ja, und Sie bringen mir also Frau Roth?«

Nun nickte Marc. Er wollte warten, bis er sicher sein konnte, daß seine Stimme wieder normal klang. Gerade hatte er noch an die schöne Rothaarige gedacht, und nun stellte sich heraus, daß ausgerechnet sie Alida Roth betreuen würde.

»Guten Tag, Frau Roth«, sagte Janine ruhig zu der Patientin, die mit geschlossenen Augen dalag. »Ich bin Dr. Janine Gerold.« Sie wartete auf eine Reaktion, doch Frau Roth hatte offenbar beschlossen, sich schlafend zu stellen.

»Wohin soll ich sie bringen?« fragte Marc.

»Ich helfe Ihnen«, sagte Janine, ergriff das Kopfende des Bettes und dirigierte es zu dem Zimmer, das bereits für die Patientin vorbereitet worden war.

Marc räusperte sich, denn noch immer fühlte er sich befangen und rang um seine sonstige Gelassenheit. Unvermittelt traf ihn ein Blick aus den grünen Augen der Patientin. Es war ein kurzer, sehr scharfer Blick, gleich darauf schlossen sich die Lider wieder. Er war versucht, Frau Roth anzusprechen, denn ganz offensichtlich schlief sie ja nicht, aber er sagte nichts, sondern fragte sich statt dessen, was ihr Blick zu bedeuten gehabt hatte. Es kam ihm fast so vor, als hätte sie seiner Stimme angehört, wie ihm zumute war.

»So«, sagte Janine und blieb stehen, »da wären wir. Hier hinein bitte.«

Vorsichtig rangierten sie das Bett durch die Tür, und nun fragte Marc die Patientin doch mit lauter Stimme: »Wo möchten Sie das Bett stehen haben, Frau Roth? Und stellen Sie sich bitte nicht schlafend, ich weiß, daß Sie wach sind.«

Ein erstaunter Blick von Janine traf ihn, die es ein wenig ungehörig fand, wie er mit einer Frau sprach, die gerade eben dem Tod entgangen war. Noch viel erstaunter aber war sie, als die Patientin die Augen öffnete und sie zum ersten Mal ansah.

»Wir haben die gleiche Augenfarbe!« entfuhr es ihr. »Sie sind der erste Mensch, Frau Roth, der die gleiche Augenfarbe hat wie ich – jedenfalls ist mir bisher noch kein anderer begegnet.«

Alida Roth betrachtete die schöne junge Ärztin, die ihren Blick voll ehrlichen Erstaunens erwiderte. Schließlich wandte sie sich an Marc und sagte: »Ich möchte ans Fenster. Es ist immer noch besser, nach draußen zu sehen, als ständig die Wände seines Gefängnisses anzustarren.«

Janines Gesicht wurde ernst. »Das ist kein Gefängnis, Frau Roth«, sagte sie mit dem Ernst der noch sehr jungen und idealistischen Ärztin. »Die Kurfürstenklinik ist das beste Krankenhaus weit und breit, das werden Sie bald merken. Wir werden alles tun, damit es Ihnen hier schnell besser geht. Und ich bin sicher, Sie werden sich wohl fühlen bei uns.«

Vor diesem Ernst kapitulierte Alida Roth, zumindest zunächst einmal. Sie verzichtete auf eine zynische Antwort, nickte sogar dem jungen Arzt, der sich nun verabschiedete, kurz zu.

Als sie allein waren, fragte Alida: »Sie wissen, warum ich hier bin?«

»Ich denke schon«, antwortete Janine. »Sie sind zusammengebrochen – weil Sie zuviel Alkohol und Drogen zu sich genommen haben.«

»Angst, die Wahrheit auszusprechen, haben Sie jedenfalls nicht«, stellte Alida fest. »Weiß dieser junge Arzt, daß Sie in ihn verliebt sind?«

Flammende Röte stieg in Janines Gesicht. »Wie kommen Sie darauf?«

»Ich bin zwar ein versoffenes altes Wrack«, stellte Alida fest, »aber ich habe immer noch Augen im Kopf. Er ist schüchtern und zurückhaltend. Wenn Sie ihn haben wollen, müssen Sie’s ihm schon sagen.«

»Das kann ich nicht«, murmelte Janine und bemerkte nicht einmal, daß sie damit praktisch zugab, was ihre Patientin vermutete.

»Unsinn, natürlich können Sie das – jedenfalls, wenn es Ihnen wichtig ist. Sie ahnen gar nicht, was man alles kann.«

»Auch aufhören zu trinken und Drogen zu nehmen?« fragte Janine leise.

Die grünen Augen der Älteren funkelten sie böse an. »Wir haben gerade von Ihnen geredet, nicht von mir.«

»Sie haben von mir geredet«, stellte Janine klar. »Und ich rede jetzt von Ihnen.«

Alida schwieg eine Weile, dann sagte sie – und es klang ein wenig Bewunderung durch: »So harmlos wie Sie aussehen, sind Sie jedenfalls nicht. Sie können ganz schön hartnäckig sein, was?«

»Gut, daß Sie das so schnell begriffen haben«, sagte Janine lächelnd. »Möchten Sie jetzt einen Tee, Frau Roth?«

»Sie wissen verdammt genau, was ich jetzt möchte – Tee jedenfalls ganz sicher nicht.«

»Whisky kriegen Sie hier nirgends«, versicherte Janine. »Tee, Wasser, Saft – vielleicht auch Kaffee. Das ist alles, was ich Ihnen bieten kann. Ich rate Ihnen, mein Angebot anzunehmen, sonst bekommen Sie nämlich gar nichts.«

Alida ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Janine wollte gerade wortlos das Zimmer verlassen, als die Patientin knurrte: »Dann bringen Sie mir Ihren blöden Tee, wenn es nichts Besseres gibt.«

»Gern, ich bin gleich wieder da.«

Lächelnd eilte Janine über den Flur. Die erste Runde war an sie gegangen, ganz klar. Aber leicht würde es nicht werden mit Alida Roth, das hatte sie bereits begriffen.

*

Stefanie hatte soeben ein Telefongespräch beendet und wollte gerade das nächste führen, als sich nach kurzem Klopfen die Tür zu ihrem Büro öffnete. Es war ihr Chef, der vorsichtig hereinkam. Blitzschnell dachte Stefanie nach, aber ihr fiel nicht ein, wann das schon einmal vorgekommen war. Normalerweise ließ Andreas Wingensiefen sie zu sich kommen – und dann mußte sie es in der Regel ertragen, daß er sie noch mindestens zehn Minuten warten ließ, bis er endlich die Zeit fand, sich ihr zuzuwenden. Dieses Ritual diente nur dazu, ihr klarzumachen, was für ein wichtiger Mann er war, und sie fand es jedesmal ein wenig lächerlich. Aber sie ertrug es. Wenn er es so dringend zur Selbstbestätigung brauchte…

»Herr Wingensiefen!« sagte sie nun aufrichtig erstaunt. »Wie komme ich denn zu der Ehre?«

»Ich kam gerade an Ihrem Büro vorbei«, sagte er, »und da dachte ich, ich frage mal, wie es Frau Roth geht? Haben Sie Nachricht von ihr?«

»Sie ist auf die Innere verlegt worden und wird zumindest ein paar Tage in der Klinik bleiben müssen. Die Ärzte werden versuchen, sie davon zu überzeugen, daß sie eine Entziehungskur machen muß.«

»Entziehungskur«, murmelte er.

Sie sah ihn neugierig an. Von seiner gestrigen Aggressivität war nichts mehr zu spüren, sie hatte ihn sogar in Verdacht, daß er sich am liebsten entschuldigt hätte, aber so weit würde er wohl kaum gehen.

»Ja«, bestätigte sie, »wie ich Ihnen schon sagte, ist Frau Roth alkohol- und drogenabhängig – wobei ich denke, daß der Alkohol das größere Problem ist. Wenn sie nicht aufhört zu trinken, wird sie bald nicht mehr leben.«

»Und wird sie sich darauf einlassen?«

»Wahrscheinlich nicht«, erklärte Stefanie sachlich. »Ihr liegt nichts mehr am Leben, deshalb trinkt sie. Ich glaube, sie sieht keinen Grund, damit aufzuhören.«

»Wie kommt es, daß Sie so viel über sie wissen?«

Stefanie war erstaunt. »Frau Roth kommt seit Jahren hierher, Herr Wingensiefen. Ich unterhalte mich jedesmal mit ihr, manchmal trinken wir sogar einen Kaffee miteinander, wenn es sich ergibt. Es bleibt nicht aus, daß man über die Jahre hinweg einiges über die Gäste erfährt.«

Er schwieg, denn für ihn galt das nicht. Er wußte von den Prominenten im King’s Palace nur, was man in jeder Zeitung lesen konnte – und weniger bekannte Gäste nahm er erst gar nicht zur Kenntnis. Er war niemand, der sich übermäßig für andere Menschen interessierte.

Bevor das Schweigen peinlich wurde, fragte er hastig: »Haben Sie die Absicht, Frau Roth in der Kurfürstenklinik zu besuchen? Ich will damit nicht sagen, daß das zu Ihren Aufgaben gehört – das ist natürlich nicht der Fall! Aber wenn Sie trotzdem daran denken sollten, dann…«

Sie unterbrach sich. »Ich habe es tatsächlich vor, nur kann ich noch nicht genau sagen, wann es sich einrichten läßt. Heute ganz sicher nicht mehr, aber vielleicht morgen.«

Er schien erleichtert zu sein. »Dann grüßen Sie sie bitte ganz herzlich von mir. Ja, und… Wie ist das denn mit der Suite, die sie bei uns bewohnt?«

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, Stefanies Stimme klang ein wenig spöttisch, »dem Hotel wird sicher kein Schaden durch Frau Roth entstehen.«

»Na, schön. Dann will ich Sie nicht länger aufhalten, Frau Wagner. Auf Wiedersehen.«

Er verschwand, und sie brauchte noch einige Sekunden, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. Dieser kurze Besuch – war das nun seine Art gewesen, sich bei ihr zu entschuldigen?

Es klopfte erneut, und ihre Sekretärin steckte den Kopf zur Tür herein. »Was hat er denn gewollt?« fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Sich entschuldigen, weil er gestern so herumgebrüllt hat?«

»So ähnlich«, antwortete Stefanie.

»Tatsächlich? Er macht Fortschritte«, stellte die Sekretärin fest und verschwand.

Stefanie aber wandte sich erneut ihrer Arbeit zu. Der Groll von gestern war vergessen, heute machte ihr alles, was sie tat, wieder den denkbar größten Spaß.

*

»Harter Tag, nicht?« fragte Adrian, als er abend mit Marc Weyrich langsam die Notaufnahme verließ. Julia Martensen und Bernd Schäfer gingen vor ihnen, in eine angeregte Diskussion vertieft.

»Ja, das schon, aber mich stört das nicht«, erwiderte Marc. »Ich bin froh, wenn viel los ist – nur so lerne ich etwas.«

»Ich war zwischendrin noch einmal bei Frau Roth«, berichtete Adrian, »vielen Dank übrigens, daß Sie sie vorhin auf die Innere gebracht haben, als es bei uns so chaotisch zuging.«

»Das habe ich gern gemacht«, sagte Marc und sah unwillkürlich Janine Gerold vor sich.

»Frau Roth ist nach wie vor störrisch«, meinte Adrian. »Ich kann nur hoffen, daß sich ihre Haltung bald ändert. Sie braucht Hilfe, und sie hat, meiner Meinung nach, nicht mehr sehr lange Zeit.«

Marc nickte, in Gedanken noch immer bei den schönen grünen Augen der jungen Ärztin.

Adrian sah ihn an und bemerkte den versonnenen Gesichtsausdruck des anderen. Er lachte leise. »Entschuldigen Sie, Herr Weyrich, daß ich immer noch von unseren Patienten rede – ich sehe, Sie sind in Gedanken schon ganz woanders.«

Marc lächelte verlegen. Fast wäre ihm herausgerutscht, daß er zumindest, was den Ort betraf, keineswegs woanders war, aber das behielt er lieber für sich. Es war schon schlimm genug, daß er diese junge Ärztin den ganzen Tag lang nicht mehr aus dem Kopf bekommen hatte – er mußte das nicht auch noch anderen erzählen. Und so sagte er: »Ja, Sie haben recht, Herr Winter.»

»Wie sieht sie denn aus?« fragte Adrian, und das Lächeln auf seinem Gesicht vertiefte sich.

»Sie hat wunderschöne Augen«, rutschte es Marc heraus. »Ich habe noch nie so schöne Augen bei einer Frau gesehen.«

Adrians Gesichtsausdruck veränderte sich, denn ihm fiel Stefanie Wagner ein, die Frau mit den veilchenblauen Augen, mit der er morgen zum Essen verabredet war. Würde er es dann endlich schaffen, sie nach diesem Mann zu fragen, den er für ihren Freund hielt?

Er merkte, daß Marc Weyrich ihm offenbar eine Frage gestellt hatte und fragte verlegen: »Wie bitte? Entschuldigen Sie, ich war mit meinen Gedanken gerade woanders.«

»Ich habe gefragt, ob ich etwas Falsches gesagt habe«, erklärte Marc unsicher. »Irgendwie hatte ich den Eindruck.«

»Nein, nein«, beeilte sich Adrian zu erklären, »keineswegs. Ich habe nur gerade an etwas denken müssen, das mir zu schaffen macht – aber das hat nichts mit dem zu tun, was Sie gesagt haben.« Das war nicht die Wahrheit, aber es beruhigte den jungen Kollegen aus Heidelberg sichtlich, und das war Adrians Absicht gewesen. Um das Thema zu wechseln, fragte er: »Haben Sie nicht morgen frei?«

Marc nickte. »Ja, ich werde mir Berlin ein wenig ansehen.«

»Und was haben Sie sich speziell vorgenommen?«

Jetzt lachte Marc. »Alles!« sagte er. »Aber anfangen werde ich mit dem Zoo. Können Sie sich vorstellen, daß ich bisher noch nicht ein einziges Mal im Zoo war?«

»Eigentlich nicht«, sagte Adrian, aber im selben Moment fiel ihm ein, daß er dem Zoo auch schon mindestens zwanzig Jahre lang keinen Besuch mehr abgestattet hatte. »Dann viel Spaß morgen.«

»Sehen Sie mal nach Frau Roth?« fragte Marc. »Ich… ich mache mir Sorgen um sie, muß ich sagen.«

»Ja, ich auch«, erwiderte Adrian. »Natürlich sehe ich nach ihr, Herr Weyrich.«

Sie gingen ein wenig schneller und hatten gleich darauf Julia und Bernd erreicht, an deren Debatte über einen umstrittenen Kollegen sie sich beteiligten, bis sie sich vor der Klinik alle voneinander verabschiedeten, um ihren jeweiligen Heimweg anzutreten.

*

»Wieso gehen Sie nicht nach Hause?« fragte Alida ihre junge »Bewacherin«, wie sie Janine insgeheim nannte. »Sie sind den ganzen Tag hier gewesen, Ihr Dienst muß doch allmählich zu Ende sein.«

»Wollen Sie mich loswerden, Frau Roth?« fragte Janine lächelnd und setzte sich an das Bett ihrer Patientin.

»Ja!« antwortete Alida kurz und bündig. Sie sah ein wenig besser aus, das Gesicht hatte mehr Farbe, die Schatten unter den Augen waren nicht mehr so dunkel.

»Dann bleibe ich noch«, erklärte Janine ruhig. »Mir scheint, es wäre nicht gut, Sie jetzt allein zu lassen. Wenn es dunkel ist, werden Sie noch ruhiger, das habe ich schon gemerkt.«

»Sie halten sich wohl für ganz besonders schlau, was?« fragte Alida böse. »Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe mit Ihrer sanften Stimme und Ihrem freundlichen Lächeln. Ich will Sie nicht mehr sehen, Frau Dr. Gerold!«

»Dann machen Sie die Augen zu«, rief Janine gelassen.

Das war so schlagfertig, daß Alidas Mundwinkel unwillkürlich zuckten. »Sie sind eine merkwürdige junge Frau«, meinte sie nach einer Weile. »Wo haben Sie Ihre Hartnäckigkeit her?«

Janine zuckte mit den Schultern. »Ich glaube gar nicht, daß ich besonders hartnäckig bin, Frau Roth.«

»O doch, jede andere junge Ärztin hätte genauso lange bei mir ausgeharrt, wie ihr Dienst es ihr vorgeschrieben hätte – und dann wäre sie schleunigst gegangen. Aber Sie sitzen immer noch hier – an einem schönen Abend wie diesem.«

»Ich denke mir, es ist wichtiger, bei Ihnen zu bleiben, als jetzt nach Hause zu gehen«, erklärte Janine.

»Wie meinen Sie das?« fragte Alida.

»Ich kann es nicht genau erklären, Frau Roth, aber ich habe das Gefühl, ich kann etwas für Sie tun. Und umgekehrt habe ich dieses Gefühl komischerweise auch – daß Sie nämlich etwas für mich tun können.« Sie lächelte verlegen. »Halten Sie mich bitte nicht für albern, aber ich glaube, wir sind einander ähnlich – nicht nur äußerlich.«

Die Ältere schwieg – so lange, daß Janine schon glaubte, sie sei eingeschlafen. Dann sagte sie auf einmal: »Wenn wir einander ähnlich sind, dann kann ich nur für Sie hoffen, daß Sie mit Ihrem Leben mehr anfangen, als ich es getan habe.«

Janine sah in die grünen Augen, die ihr wie ein Spiegelbild ihrer eigenen erschienen und erwiderte leise: »Wenn Sie mir etwas aus Ihrem Leben erzählen, dann kann ich vielleicht etwas daraus lernen.«

Unvermittelt wurde das Gesicht der anderen hart und verschlossen, die grünen Augen funkelten die junge Ärztin böse an. »Haben Sie gedacht, ich falle auf Ihre Masche herein? Sie glauben wohl, so kriegen Sie mich zum Reden – und irgendwann haben Sie mich weichgekocht, und ich stimme auch einer Entziehungskur zu, was? Nicht mit mir, Frau Dr. Gerold, nicht mit mir!«

Janine war viel zu erschrocken, um sofort etwas auf diese Vorwürfe zu erwidern. Stumm starrte sie Alida Roth an, stumm und feindselig erwiderte diese ihren Blick. Es war die Ältere, die sich zuerst abwandte.

Janine blieb noch fast eine Stunde. In dieser Zeit fiel kein Wort. Als Janine endlich aufstand, sagte sie mit einer ganz fremden Stimme: »Gute Nacht, Frau Roth. Bis morgen.«

Sie ging zur Tür, öffnete sie und schloß sie geräuschlos wieder. Ihr war zum Weinen zumute, ohne daß sie hätte sagen können, warum.

Alida Roth starrte der jungen Ärztin nach. Verflixt, warum fühlte sie sich jetzt so mies? Sie hatte doch nur gesagt, was vermutlich der Wahrheit entsprach! Kein Grund also, sich darüber noch länger Gedanken zu machen.

Aber etwas an Janine Gerolds Gesicht hatte ihr gesagt, daß sie Unrecht hatte. »Verdammt noch mal«, murmelte sie vor sich hin, »ich werde nicht anfangen, dieses junge Ding gernzuhaben. Nein, das werde ich nicht!«

Sie schloß die Augen und drehte sich auf die Seite. Wenn sie doch nur einen Whisky hätte trinken können!

*

»Na, endlich!« rief Carola Senftleben, als Adrian an ihrer Tür klingelte. Seine fast siebzigjährige Nachbarin hatte ihn an diesem Abend, wie so oft, zum Essen eingeladen und auf ihn gewartet. »Ich bin halb verhungert, Adrian. Sie hatten also viel zu tun?«

Er folgte ihr in ihre große Küche, die das Herzstück der Wohnung bildete – nicht nur, weil sie gemütlich und perfekt ausgestattet war, sondern auch, weil Frau Senftleben sich hier am liebsten aufhielt, und das merkte man dem Raum an. Auch Adrian kannte von der Wohnung seiner Nachbarin die Küche am besten, und das aus gutem Grund: Hier nahm er in der Regel mindestens zweimal in der Woche zusammen mit Frau Senftleben ein erstklassiges Mahl ein.

»Nur der Gedanke an das Abendessen mit Ihnen hat mich in den letzten Stunden aufrecht gehalten, Frau Senftleben«, erklärte er, und das war nicht gelogen. »Wir hatten schrecklich viel zu tun, so viel wie schon lange nicht mehr.«

»Setzen Sie sich«, kommandierte sie freundlich. »Es ist alles fertig, wir können sofort essen.«

»Sie hätten nicht auf mich warten sollen«, sagte er reumütig. »Ich bringe Ihre ganze Planung durcheinander, Frau Senftleben, durch meine unregelmäßigen Arbeitszeiten.«

»Reden Sie kein dummes Zeug, Adrian«, wies sie ihn mit gespielter Strenge zurecht. »Ich habe doch gewußt, worauf ich mich einlasse, wenn ich mich mit einem jungen Notaufnahmechef befreunde.«

Es machte ihn glücklich zu hören, daß sie von ihm als einem Freund sprach, und so strahlte er sie an und ließ sich den Teller reichlich füllen. Sie war nämlich der Ansicht, daß er nur bei ihr etwas Ordentliches zu essen bekam, und ganz falsch lag sie mit dieser Meinung nicht. Adrian hatte einen fatalen Hang zu Fertiggerichten, die er, kaum erwärmt, hinunterschlang, ohne überhaupt richtig zu bemerken, was er aß. Für die Küche fehlte ihm jegliche Begabung.

Als sie ihm gegenübersaß und sie beide die ersten Bissen des vorzüglichen Huhns in Weißweinsauce genossen hatten, fragte sie: »Was war denn nun Besonderes los bei Ihnen?«

»Viele Unfälle«, murmelte er und trank einen Schluck Wein. »Und ein Fall, der mir nicht aus dem Kopf geht. Eine reiche Dame mittleren Alters, die Alkohol und Drogen nimmt und von beidem offenbar zu viel erwischt hat – deshalb ist sie zusammengebrochen und in unsere Notaufnahme eingeliefert worden. Ich war rein zufällig dabei, als sie zusammengebrochen ist und habe sie in die Klinik begleitet. Das war gestern.«

»Da hatten Sie doch einen freien Tag«, sagte sie vorwurfsvoll. »Statt sich auszuruhen und ein wenig zu erholen, sind Sie also an Ihrem freien Tag in die Klinik gegangen.«

»Es hat sich so ergeben, Frau Senftleben!«

»Sie sind ein unverbesserliches Arbeitstier, Adrian«, stellte sie kopfschüttelnd und voller Sorge fest. »Denken Sie mehr an sich selbst – sonst brechen Sie eines Tages selbst zusammen und müssen als Patient in Ihre Klinik gebracht werden.«

Er sagte nichts, und sie fragte: »Was ist nun mit der Frau, deren Zusammenbruch Sie mit angesehen haben?«

»Sie will nicht mehr leben«, sagte er, und auf einmal fühlte er sich müde und ausgebrannt. »Sie trinkt, weil sie unglücklich ist.«

»Das tun die meisten, oder nicht?«

»Viele, ja. Und irgendwann rutschen sie so weit hinein, daß sie abhängig werden – dann ist es meistens zu spät, um sich ohne Probleme wieder vom Alkohol abzuwenden.«

»Und Drogen nimmt sie auch?«

»Kokain. Ich denke, damit könnte sie wieder aufhören, ohne daß es ihr allzu schwer fiele. Aber mit dem Alkohol, das ist eine andere Sache. Sie müßte eine richtige Entziehungskur machen.«

»Und das will sie nicht?«

»Nein«, bestätigte Adrian. »Das will sie nicht.«

Schweigend aßen sie weiter. Schließlich sagte Adrian: »Das sind die Fälle, die schwer zu ertragen sind, Frau Senftleben. Wenn man als Arzt erkennen muß, daß man vermutlich nicht helfen kann – weil es nämlich weniger um medizinische als um ganz andere Hilfe geht. Aber ich wüßte nicht, wen diese Frau überhaupt an sich heranlassen würde.«

Sie nickte mitfühlend, bald darauf wechselte sie behutsam das Thema, weil sie glaubte, ein wenig Ablenkung werde ihrem jungen Nachbarn guttun.

Und so war es auch. Als Adrian sich später von ihr verabschiedete, war sein Gesicht deutlich entspannter als zu Beginn des Abends, denn Carola Senftleben hatte zu einem kleinen Trick gegriffen. Sie hatte ihm aus ihrem Berufsleben als Schneidermeisterin mit eigenem Betrieb erzählt. Und da auch vornehme Damen und Herren bei ihr hatten arbeiten lassen, konnte sie die eine oder andere pikante Geschichte aus dem deutschen Hochadel zum Besten geben. So entführte sie ihren jungen Nachbarn in eine andere Welt. Adrian vergaß für ein paar Stunden Alida Roth und alle anderen Probleme.

»Danke, Frau Senftleben«, sagte er, als er sich an der Tür von ihr verabschiedete. »Für das Essen sowieso, aber auch dafür, daß Sie mir das alles erzählt haben. Es war ein wunderbarer Abend für mich.«

»Für mich auch«, versicherte sie ihm und lächelte.

Er umarmte sie leicht und ging dann zu seiner Wohnung hinüber. Den besorgten Ausdruck in ihren klaren blauen Augen sah er nicht mehr.

*

»Heute haben Sie sich wohl nicht geärgert, Frau Wagner«, sagte Marc, als er Stefanie auch an diesem Abend beim Nachhausekommen wieder traf. Er hatte in einer Kneipe noch ein paar Bier getrunken und fühlte sich jetzt angenehm müde – er würde garantiert schlafen wie ein Stein.

»Das stimmt«, gab Stefanie vergnügt zu. »Mein Chef hat sich quasi entschuldigt – … auf seine Art, meine ich, und im Hotel lief heute alles wie am Schnürchen. Übrigens will ich morgen Frau Roth besuchen.«

»Morgen?« rief er aus. »Ausgerechnet morgen, wenn ich meinen freien Tag habe, Frau Wagner? Das haben Sie sich aber ganz schlecht ausgesucht – ich wollte Sie doch ein wenig herumführen!«

Er sah so enttäuscht aus, daß sie hastig sagte: »Vielleicht klappt es ja auch nicht, dann gehe ich übermorgen. Mal sehen, wie es mit meiner Arbeit auskommt.«

In Wirklichkeit war sie fest entschlossen, den geplanten Besuch bei Alida Roth am nächsten Tag zu machen. Es war ihr gar nicht so unlieb, daß Marc Weyrich dann nicht in der Klinik sein würde, denn sie hatte ihrem Nachbarn ja verschwiegen, daß sie den Chef der Notaufnahme kannte. Und erst recht natürlich, daß sie am nächsten Abend mit ihm zum Abendessen verabredet war.

Warum sagte sie ihm das eigentlich nicht einfach? fragte sie sich selbst verwundert. Es ist schließlich nichts dabei, er kann es ruhig wissen. Aber sie schwieg trotzdem. Irgendwie gefiel es ihr besser, wenn ihre Bekanntschaft mit Dr. Adrian Winter ihr Geheimnis blieb.

»Begleiten Sie mich doch lieber in den Zoo!« bat Marc in diesem Augenblick. »Nachdem ich mich ausgeschlafen habe, will ich nämlich dorthin – ich kenne ihn bisher nicht.«

»Das geht nicht, Herr Weyrich«, sagte Stefanie. »Mein Besuch bei Frau Roth ist ja sozusagen dienstlich – ich gehe als Vertreterin des Hotels. Sie ist eine unserer Stammgäste, es gehört zum guten Ton, jedenfalls nach dem Verständnis unseres Hauses, daß man sich in einem solchen Fall im Krankenhaus blicken läßt. Daß ich das, ganz privat, ohnehin getan hätte, weil ich Frau Roth gern habe, ist eine andere Sache. Aber ich kann nicht mitten am Tag mit Ihnen in den Zoo spazieren.«

»Schade!« sagte er. »Sie hätten mich herumführen können, wir hätten bestimmt eine Menge Spaß gehabt.«

»Ein anderes Mal, ja?« Sie lächelte ihn an. »Und jetzt würde ich Ihnen raten, sofort ins Bett zu gehen – sonst fange ich an, mich zu fragen, ob ich Sie langweile.«

»Weil ich dauernd gähne? Entschuldigen Sie bitte – ich bin wirklich schrecklich müde. Also, gute Nacht, Frau Wagner.«

»Gute Nacht, Herr Weyrich.«

Als Stefanie später im Bett lag, überlegte sie, was sie am kommenden Abend, für das Essen mit Dr. Winter, anziehen sollte. Elegant sollte es schon sein, dachte sie, aber auch nicht so sehr, daß es kühl und abweisend wirkte.

Sie mußte über sich selbst lachen und drehte sich auf die Seite. Bald darauf schlief sie mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

*

»Du bist ja völlig durcheinander«, stellte Andrea fest.

Janine war erst spät nach Hause gekommen, aber ihre Freundin war zu ihrer großen Erleichterung noch wach gewesen, so daß sie ihr von ihrem letzten Gespräch mit Alida Roth noch hatte erzählen können.

»Kein Wunder, wenn Frau Roth solche Sachen sagt«, fuhr Andrea fort. »Aber du darfst das nicht so nah an dich heranlassen, Janine. Die Frau versucht dich zu provozieren, das ist dir hoffentlich klar?«

»Ich weiß nicht, ob sie das versucht. Sie ist einfach so verdammt unglücklich, Andrea!«

»Das berechtigt sie aber noch nicht dazu, dich anzugreifen«, stellte Andrea fest.

»Jedesmal, wenn ich sie ansehe, habe ich das Gefühl, in einen Spiegel zu sehen«, fuhr Janine fort, als habe Andrea überhaupt nichts gesagt. »In einen Spiegel, der mich in dreißig Jahren zeigt – das ist wirklich gespenstisch.«

»Auch wenn ihr euch ähnlich seht – du wirst in dreißig Jahren nicht so aussehen wie Frau Roth!« Andreas Stimme klang eindringlich, sie fing allmählich an, sich Sorgen um Janine zu machen, die sich ihrer Ansicht nach viel zu sehr mit der ihr anvertrauten Person identifizierte.

»Wer weiß?« fragte Janine abwesend. »Ich habe ein paar alte Fotos von ihr gesehen, Andrea. Sie war unglaublich schön und hat in die Kamera gestrahlt. Damals hätte sie sicher auch nur müde gelächelt, wenn jemand ihr vorhergesagt hätte, daß sie einmal trinken und Kokain schnupfen wird, ums ich zu betäuben. Das ganze Leben lag vor ihr, und sie sah so aus, als betrachte sie es als Wundertüte, die nur freudige Überraschungen bereithält.«

Sie sah Andrea direkt in die Augen. »So wie ich, verstehst du? Aber im Umgang mit ihr wird mir erst klar, wie man werden kann, wenn nichts so läuft, wie man das gern möchte. Und vieles davon geschieht einfach, man kann gar nichts dagegen tun. Es sind ja nicht immer nur die eigenen Fehler, die einen auf die schiefe Bahn bringen, falls man das so sagen kann.«

Andrea nickte nachdenklich. »Ich verstehe, was du meinst. Weißt du etwas über ihr Leben? Was sie so unglücklich macht?«

»Fast nichts«, antwortetet Janine. »Die Ehe mit dem Reeder Roth soll unglücklich gewesen sein, sie hat wohl schon getrunken, als er noch lebte.«

»Ja, das habe ich auch irgendwo gelesen«, meinte Andrea. »Kinder hat sie nicht, oder ?«

»Nein. Mir kommt es so vor, als hätte sie überhaupt keine Angehörigen«, meinte Janine. »Keiner ruft sie an und fragt nach ihr – nur eine Frau aus dem Hotel King’s Palace, wo sie abgestiegen ist hier in Berlin. Es ist eine so schrecklich traurige Angelegenheit, diese reiche Frau zu sehen, wie sie eigentlich nur eines im Sinn hat – zu sterben, ohne direkt Selbstmord zu begehen.«

»Wenn dich das so belastet, solltest du vielleicht darum bitten, daß sich von jetzt an jemand anders um Frau Roth kümmert«, schlug Andrea vor.

Aber nun schüttelte Janine den Kopf, und ihre Erwiderung fiel so heftig aus, daß Andrea ihre Freundin erneut verwundert, aber auch sorgenvoll betrachtetet.

»Auf keinen Fall! Frau Roth braucht mich, auch wenn sie so biestig ist!«, sagte Janine. »Ich weiß ganz genau, daß sie mich insgeheim mag – und ich mag sie auch, trotz allem.«

»Merkwürdig«, murmelte Andrea.

»Ja«, gab Janine zu, »merkwürdig ist das, aber so sind meine Gefühle nun einmal.«

»Und Dr. Weyrich?«

»Das habe ich dir noch gar nicht erzählt«, sagte Janine langsam. »Sie hat sofort gewußt, was ich für ihn empfinde und mich danach gefragt.«

»Sie hat es gewußt?«, fragte Andrea erstaunt. »Wie denn das?«

Janine zuckte die Schulter. »Ich weiß es nicht, Andrea. Sie muß eine sehr ausgeprägte Beobachtungsgabe haben. Sie hat mich gefragt, ob er weiß, was ich für ihn empfinde.«

»Das wird ja immer merkwürdiger mit dieser Frau«, murmelte Andrea.

Janine nickte.

Danach schwiegen sie beide. Als sie wieder sprachen, wandten sie sich anderen Themen zu, als sei es zu gefährlich, noch länger über Alida Roth reden. Und das war es ja vielleicht auch.

*

Stefanie war am nächsten Morgen sehr früh im Büro, obwohl sie es am Abend zuvor erst recht spät verlassen hatte. Aber die Vorfreude auf ihr Treffen mit Adrian Winter hatte sie zeitig aufwachen lassen, und sie war umgehend aus dem Bett gesprungen. Singend hatte sie unter der Dusche gestanden und über sich selbst den Kopf geschüttelt, weil sie wegen dieser Verabredung so aus dem Häuschen war. »Gut, daß das keiner weiß«, murmelte sie vor sich hin, als sie sich abtrocknete. »Ich führe mich ja auf wie ein Teenager!«

Eine Stunde später saß sie im Büro, und ihre gute Laune hielt an. Die Arbeit ging ihr locker von der Hand, sie löste ein Problem nach dem anderen, ohne daß es ihr erkennbare Schwierigkeiten bereitete.

Und dann sagte ihre Sekretärin: »Da ist ein Dr. Winter von der Kurfürstenklinik am Apparat.«

Im selben Augenblick wußte Stefanie, daß aus ihrem abendlichen Essen nichts werden konnte. »Stellen Sie durch«, sagte sie.

»Frau Wagner? Winter hier. Ich muß unsere Verabredung leider absagen. Ein Großbrand, ganz hier in unserer Nähe – wir haben in sämtlichen Krankenhäusern der Umgebung Katastrophenalarm. Es ist völlig ausgeschlossen, daß ich heute abend rechtzeitig hier herauskomme. Wir verschieben das Essen, ja?«

»Ja, natürlich«, murmelte sie und wollte gerade eine Frage zu dem Brand stellen, als sie merkte, daß die Leitung bereits wieder tot war. Er hatte schon aufgelegt. Natürlich, dachte sie, er hat’s ja eilig.

Ihre Schultern sackten nach vorn, auf einmal verließ sie jegliche Energie. Was ihr eben noch so leicht von der Hand gegangen war, türmte sich nun als lauter unlösbare Probleme vor ihr auf. Am liebsten hätte sie geweint, doch das verbot sich natürlich.

Dann kam ihr eine Idee, und sie dachte nicht länger darüber nach, sondern griff zum Telefon. Wenig später meldete sich die Stimme ihres neuen Nachbarn. »Hallo, Herr Weyrich, hier ist Wagner.«

»Nanu!« rief er. »Womit habe ich denn das verdient, daß Sie mich anrufen, Frau Wagner?«

»Weil ich meine Meinung geändert habe«, erklärte sie. »In meiner Mittagspause werde ich Frau Roth besuchen – und wenn Sie immer noch in den Zoo wollen, würde ich Sie hinterher begleiten, allerdings nicht lange. Vielleicht für ein Stündchen oder so. Was halten Sie davon?«

»Das fragen Sie noch?« Sie hörte ihm seine Begeisterung an. »Ich habe bis eben geschlafen und könnte jetzt Bäume ausreißen«, erklärte er. »Wann gehen Sie zu Frau Roth? Ich komme dann in die Klinik und hole Sie dort ab.«

Sie versuchte ihm das auszureden, doch er ließ sich auf nichts ein. Also verabredete sie sich mit ihm mittags bei Alida Roth und legte dann auf. Sie fühlte sich besser. Dr. Weyrichs angenehme Gesellschaft würde sie zumindest ein wenig von ihrem entgangenen Abendvergnügen ablenken. Außerdem, dachte sie, ist aufgeschoben ja nicht aufgehoben. Aber gerade heute wäre es so schön gewesen, Herrn Winter zu treffen....

Bevor sie erneut in Frustration versank, wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Aber der Schwung der ersten Morgenstunden stellte sich nicht mehr ein.

*

Der Vormittag mit Alida Roth war schwierig gewesen, fand Janine. Sie hatte nicht die richtigen Worte gefunden, um ihren schweigsamen Abgang vom Abend zuvor zu erklären, und die Ältere war sehr in sich gekehrt gewesen. Aber vielleicht war das auch nicht weiter schlimm, versuchte Janine sich zu beruhigen. Man mußte ja nicht ständig reden.

»Ich gehe jetzt etwas essen, Frau Roth«, sagte sie gegen Mittag. »Haben Sie vorher noch einen Wunsch? Oder kann ich Ihnen etwas mitbringen?«

»Was ich gern hätte, bringen Sie mir sowieso nicht mit«, sagte Alida düster. Sie sehnte sich mittlerweile mehr nach einem Glas Whisky, als sie es für möglich gehalten hatte. Trotz ihres hohen Alkoholkonsums war sie bisher doch immer der Ansicht gewesen, die Menge dessen, was sie zu sich nahm, kontrollieren zu können – nun kamen ihr zum ersten Mal Zweifel, denn ihre Gedanken kreisten, das gestand sie zumindest sich selbst offen ein, mehr oder weniger ständig um Alkohol. Auch eine Prise Kokain hätte sie nicht verschmäht – das Hochgefühl, das sie jedesmal überkam, wenn sie geschnupft hatte, vermißte sie.

»Whisky?« fragte Janine ganz ernsthaft.

»Ja«, antwortete Alida mit rauher Stimme. »Wenn Sie wüßten, was mir jetzt ein Whisky wert wäre.« Sie sah die junge Ärztin an und wartete auf eine Reaktion. Sicherlich hatte Frau Dr. Gerold nicht genug Geld – Krankenhausärzte, das wußte jeder, waren überarbeitet und unterbezahlt. Vielleicht hatte sie ja Glück, und die schöne junge Frau mit den grünen Augen und den glänzenden roten Haaren reagierte auf ihr verstecktes Angebot.

Janine schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich bringe Ihnen alles mit, was Ihnen nicht schaden kann, Frau Roth – aber ganz bestimmt weder Drogen noch Alkohol. Etwas Süßes vielleicht? Oder etwas zum Lesen?«

Hatte sie nicht begriffen, was ihr soeben angeboten worden war – oder wollte sie es nicht begreifen? »Nein, danke«, sagte Alida abweisend, und Janine verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.

»Verdammt noch mal!« schimpfte Alida vor sich hin. »Wenn ich bloß könnte, wie ich will, dann säße ich hier nicht so auf dem Trockenen.« Sie begann, ernsthaft darüber nachzudenken, wie sie es schaffen sollte, an Alkohol zu kommen. Es war ja nicht wahrscheinlich, daß alle, die hier arbeiteten, so standhaft waren wie Dr. Gerold – irgendeine mitfühlende Seele mußte es hier auf der Station doch geben. Vielleicht einen Pfleger, der selbst ganz gern mal ein wenig zu tief ins Glas schaute?

Es klopfte leise, und gleich darauf kam eine junge Frau herein, deren Auftauchen Alida in höchstes Erstaunen versetzte – zugleich aber freute sie sich aufrichtig. Außerdem lenkte sie dieser Besuch von ihrem quälenden Bedürfnis nach einem alkoholischen Getränk ab.

»Frau Wagner!« rief sie. »Sie haben Zeit, zu mir zu kommen – wo Sie doch im Hotel immer so beansprucht werden von allen Seiten?«

»Für einen Besuch bei Ihnen reicht die Zeit schon noch, Frau Roth«, sagte Stefanie freundlich und reichte der Patientin ein kleines, in hübsches Papier geschlagenes Päckchen. »Ich habe mich gegen Blumen entschieden, weil die im Krankenhaus ja meistens stören«, erklärte sie. »Aber vielleicht haben Sie Lust, sich ein wenig amüsieren zu lassen. Es ist ein Buch, das ich selbst gern gelesen habe, ich hoffe, Sie haben auch Freude daran.«

»Danke schön«, sagte Alida und legte das Buch auf den Nachttisch, ohne es auszupacken. »Bitte, setzen Sie sich doch!«

Stefanie nahm Platz und betrachtete die Patientin forschend. »Gesund sehen Sie immer noch nicht aus«, stellte sie fest, »aber wenigstens besser als neulich.«

»Wer so viel trinkt wie ich«, erklärte Alida freimütig, »sieht nie richtig gesund aus. Mir scheint, das ist unmöglich.«

»Kann sein«, gab Stefanie zu. »Werden Sie damit aufhören?«

»Mit dem Trinken? Meine Liebe, ganz bestimmt nicht. Können Sie mir nicht eine Flasche Whisky besorgen, Frau Wagner? Dafür stifte ich Ihrem Hotel eine schöne Plastik oder ein modernes Bild – denn Sie persönlich lassen sich ja sicher nicht bestechen.«

»Weder ich persönlich, noch das Hotel«, erklärte Stefanie, nicht im mindesten beleidigt.

»Sie sind schon die Zweite, die mich auflaufen läßt«, murrte Alida. »Ich weiß gar nicht, wo all diese charakterfesten Menschen auf einmal herkommen.«

»Es wäre ja auch noch schöner, wenn Sie in einem Krankenhaus, wo man für Ihre Gesundheit verantwortlich ist, jemanden fänden, der Ihnen Alkohol besorgt, Frau Roth«, sagte Stefanie kopfschüttelnd.

»Was heißt hier, noch schöner?« Alida war jetzt ganz ernst. »Soll ich Ihnen etwas verraten, Frau Wagner? Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, daß ich vielleicht doch alkoholabhängig bin.«

»Sicher sind Sie das«, erwiderte Stefanie ein wenig zu schnell, was sie aber sofort bereute, als sie das betroffene Gesicht der anderen sah. »Entschuldigung«, murmelte sie, »es steht mir nicht zu, so etwas zu sagen, Frau Roth.«

»Aber es ist Ihre Meinung?«

Stefanie wich dem Blick der anderen nicht aus. »Ja«, sagte sie rundheraus, »es ist meine Meinung. Ich kenne Sie ja nun schon recht lange, wir haben uns gelegentlich unterhalten, und ich…« Sie stockte, weil sie erneut in Gefahr war, etwas zu sagen, das Frau Roth verletzen konnte.

»Bitte, sprechen Sie weiter«, bat Alida. »Ich möchte hören, was Sie zu sagen haben.«

»Es wird Ihnen nicht gefallen«, warnte Stefanie.

»Das muß es ja auch nicht. Ich möchte es trotzdem hören.«

»Es ist mir nicht entgangen, daß Sie jedesmal, wenn Sie bei uns waren, mehr getrunken haben als beim Mal davor«, sagte Stefanie leise. »Ich habe es an den Abrechnungen gesehen, aber auch an Ihrem Gesicht, Frau Roth. Sie bringen sich auf Raten um, und ich glaube, das wissen Sie auch. Wenn ich wüßte, wie ich Sie davon abhalten könnte, würde ich es tun – leider befürchte ich jedoch, daß Sie sich gar nicht davon abhalten lassen wollen. Sie machen einfach so weiter, bis es vorbei ist.«

Alida schwieg betroffen. Sicher, ihr lag nichts mehr am Leben, und sie hatte sich keine große Mühe gegeben in den letzten Jahren, das zu verbergen. Aber sie hatte nicht angenommen, daß andere in ihr eine alkoholkranke Frau sahen, die ihrer Sucht hilflos gegenüberstand.

»Ich dachte«, sagte sie schließlich, nach einer Pause, die beiden Frauen sehr lang erschien, »daß ich alles in der Hand habe. Daß ich trinke, weil ich trinken will – damit ich aufhören kann zu denken.«

»Ich fürchte, Sie trinken, weil Sie trinken müssen«, sagte Stefanie leise. »Sie können gar nicht mehr anders.«

Wieder war es lange still, dann sagte Alida, indem sie kurz nach Stefanies Hand griff und sie drückte: »Danke für Ihre Offenheit, Frau Wagner.«

»Wenn sie nur etwas bewirken würde«, erwiderte Stefanie hilflos.

»Ich glaube nicht. Jetzt habe ich noch mehr Verlangen nach einem Whisky als vorher.«

Ihre Blicke trafen einander, und völlig unerwartet lächelte Alida Roth. »Verrückt, was?«

»Ein bißchen schon, Frau Roth. Aber wissen Sie was? Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Sie haben noch so viel Kraft in sich – das kann ich spüren.«

Wieder griff die Ältere nach ihrer Hand. Dieses Mal hielt sie sie fest und ließ sie lange nicht los.

*

»Ich denke, Sie wollten heute in den Zoo, Herr Weyrich«, sagte Adrian erstaunt. »Sie haben doch frei, oder?«

»Ja, habe ich – und ich gehe auch in den Zoo«, antwortete Marc, »aber nicht allein, Herr Winter. Ich hole jemanden ab.«

»Ach, so!« Adrian lächelte. »Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß. Seien Sie froh, daß Sie heute nicht hier sein müssen!«

»Ich hab’ schon von dem Brand gehört«, sagte Marc, »ist es schlimm?«

»Katastrophal, ich muß deshalb auch sofort zurück!« Der Notaufnahmechef winkte mit dem Brötchen, das er sich gerade gekauft hatte und verschwand eilends, während Marc zur Inneren Station lief. Hoffentlich begegnete er Janine Gerold wenigstens ganz kurz…

Er klopfte und betrat das Zimmer von Frau Roth, in dem sich jedoch außer der Patientin und Stefanie Wagner niemand befand. Er spürte eine vage Enttäuschung, die jedoch durch Stefanies Lächeln deutlich gemildert wurde.

»Da sind Sie ja, Herr Weyrich«, sagte sie und stand auf.

»Sie kennen sich?« erkundigte sich Alida erstaunt.

»Ja, wir sind Nachbarn, seit Herr Weyrich hier an der Klinik arbeitet«, erklärte Stefanie, »und ich habe ihm versprochen, jetzt noch mit ihm für ein Stündchen in den Zoo zu gehen, damit er sich dort nicht völlig verloren vorkommt.«

Marc trat zu der Patientin und sagte erstaunt: »Sie sehen viel besser aus, Frau Roth, als bei meinem letzten Besuch.«

»Das ist auch kein Wunder«, stellte Alida trocken fest. »Erst hat mich Ihre junge Kollegin, Dr. Gerold, in die Mangel genommen – und nun noch Frau Wagner. Das regt den Kreislauf ordentlich an, Herr Doktor!«

Er lachte über ihre Selbstironie und freute sich zugleich darüber, daß sie sich selbst vielleicht ja doch noch nicht ganz aufgegeben hatte.

Sie verabschiedeten sich von Alida, und Marc nahm höflich Stefanies Arm, als sie zur Tür gingen. Dort trafen sie Janine, die gerade zurückkehrte. Ihre Augen leuchteten kurz auf, als sie den Arzt erkannte. Dann jedoch sah sie die Frau an seiner Seite, bemerkte seine Hand an ihrem Arm und erstarrte. Es dauerte jedoch nur Sekunden, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte und mit erzwungener Gelassenheit sagen konnte: »Mit Ihnen hatten wir heute gar nicht gerechnet, Herr Weyrich.«

»Es liegt an Frau Wagner, daß ich hier bin«, erklärte er und strahlte sie dabei an. Nun hatte er sie also doch noch gesehen – und sie erschien ihm heute schöner als je zuvor. »Oh, Entschuldigung, Sie kennen einander ja gar nicht – Frau Wagner – Frau Dr. Gerold. Frau Wagner begleitet mich in den Zoo, was ich sehr nett von ihr finde. Allein im Zoo ist es vermutlich nicht sehr amüsant.«

Die beiden Frauen gaben sich die Hand, Janine wandte sich danach hastig ab. »Viel Spaß im Zoo«, sagte sie, bemüht, ihre Stimme unbefangen und locker klingen zu lassen.

»Danke. Tschüß, Frau Roth, bis morgen.«

»Ja, auf Wiedersehen, Frau Roth«, sagte nun auch Stefanie. »Vielleicht komme ich in den nächsten Tagen noch einmal vorbei, und wir setzen unser Gespräch fort. Auf Wiedersehen, Frau Dr. Gerold.«

Die Tür klappte hinter ihnen zu, und Alida sagte ruhig: »Setzen Sie sich, Kind, sonst kippen Sie mir noch um. Sie sind ja bleich wie der Tod.«

*

»Laß uns einen Kaffee trinken«, sagte Julia Martensen, die wie alle anderen in der Notaufnahme blaß und müde aussah. Sie brauchten eine kurze Verschnaufpause an diesem furchtbaren Tag, der die Notaufnahme durch den Großbrand in einer Charlottenburger Firma in ein lange nicht mehr dagewesenes Chaos gestürzt hatte. Adrian war nicht einmal dazu gekommen, sein Brötchen aufzuessen, weil unablässig neue Patienten eingeliefert worden waren – mit schlimmen Brandverletzungen. Einige von ihnen hatten sie nicht mehr retten können, und das machte diesen Tag noch schrecklicher.

»Ja, ich komme sofort«, murmelte Adrian. »Aber ich brauche ein bißchen Zuckerzufuhr. Wie wär’s mit einem Müsliriegel?«

»Du ziehst das Süßzeug aus dem Automaten, ich besorge den Kaffee«, entschied Julia, und Adrian spurtete los. Viel Zeit blieb ihnen nicht, weitere Verletzte waren bereits angekündigt worden. Es gab nur gerade eine kleine Lücke, und er hoffte, daß die Zufuhr von Kaffee und Zucker seine Lebensgeister wieder in Schwung brachte.

Er rannte durch den großzügigen Eingangsbereich der Klinik zum Automaten, zog mehrere Müsliriegel – man wußte schließlich nie, wie dieser Tag sich noch entwickelte – und wollte gerade in die Notaufnahme zurückkehren, als er Stefanie Wagner in Begleitung von Marc Weyrich aus einem der Aufzüge kommen sah. Adrian blieb wie angewurzelt stehen und starrte die beiden an. Sie war also die Frau mit den wunderschönen Augen, von der sein Kollege neulich gesprochen hatte? Ihretwegen war er hierhergekommen, weil sie gemeinsam in den Zoo gehen wollten! Mitten an einem Arbeitstag ging sie mit Marc Weyrich in den Zoo?

Er konnte es kaum glauben. Er wußte nicht allzu viel über Stefanie Wagner, aber eines wußte er ganz sicher: Daß sie ihre Arbeit überaus ernst nahm. Wenn sie also jetzt bereit war, mit seinem Kollegen einen Stadtbummel zu machen, dann konnte das nur eins heißen…

Er drehte sich um und kehrte, auf einmal im Schneckentempo, in die Notaufnahme zurück. Es ist meine eigene Schuld, sagte er sich verzweifelt. Vielleicht hat sie sich schon vor langer Zeit von ihrem Freund getrennt. Wenn ich sie jemals gefragt hätte, dann wäre ich jetzt vielleicht derjenige, an dessen Arm sie diese Klinik verließ.

Er verbot sich, weiter an Stefanie zu denken. Zwar fragte er sich, wieso sie bereit gewesen war, abends mit ihm essen zu gehen, wenn sie sich in Marc Weyrich verliebt hatte – aber dann fiel ihm ein, daß sie bisher seine Einladungen immer ohne zu zögern angenommen hatte. Und warum auch nicht? Sie waren gute Bekannte, nicht einmal Freunde. Warum sollte sie nicht mit ihm essen gehen?

Er hätte heulen können, als er die Notaufnahme betrat, und im selben Augenblick sagte Julia zu ihm: »Was ist passiert? Du siehst aus, als wolltest du in Tränen ausbrechen.«

»So ungefähr fühle ich mich auch«, murmelte er und gab ihr zwei Müsliriegel, die sie umgehend gegen einen Becher Kaffee tauschte.

»Die meisten haben wir retten können, Adrian«, sagte sie ernst.

»Ich weiß«, erwiderte er. Die drei Menschen, die bisher an ihren Brandverletzungen gestorben waren, hatten ihm in der Tat den ganzen Vormittag über schwer zugesetzt, und er ließ Julia in dem Glauben, daß er in diesem Moment noch immer ihretwegen so durcheinander war.

Die Wahrheit, dachte er müde, geht niemanden etwas an.

Julia aber warf ihm, während sie einträchtig ihren Kaffee tranken, mehrere forschende Blicke zu. Da ist noch etwas anderes, dachte sie beunruhigt. Aber was?

*

»Geht’s wieder?« fragte Alida sanft.

Janine nickte, wandte jedoch dabei den Kopf ab. Ganz sicher war sie noch immer nicht, daß die Tränen nicht erneut fließen würden. Sie wußte selbst nicht, wie es hatte passieren können, daß sie vor der Patientin so bitterlich geweint hatte – vielleicht hatte es an Alida Roths mitfühlendem Blick und ihren sanften Worten gelegen. Jedenfalls hatte Janine die Beherrschung verloren und verzweifelt zu schluchzen angefangen. Sie war nur froh, daß währenddessen niemand hereingekommen war.

»Ich wasche mir eben das Gesicht«, sagte sie leise und ging zum Waschbecken hinüber. Anschließend kehrte sie zu ihrer Patientin zurück, die sie nachdenklich betrachtete.

Es war eine merkwürdige Verkehrung der Rollen, die in der letzten halben Stunde stattgefunden hatte. Auf einmal schien Janine die Patientin zu sein und Alida Roth die Ärztin. Denn sie war ruhig geblieben, während Janine die Fassung verloren hatte.

»Tut mir leid, Frau Roth«, sagte sie. »Ich hätte mich nicht so gehen lassen dürfen. Das ist unverzeihlich.«

»Im Gegenteil, es macht Sie menschlich – und das ist mir sympathischer als eine perfekte junge Ärztin, die alles richtig macht und deshalb kein Verständnis für Fehler hat«, entgegnete Alida mit Nachdruck. »Außerdem darf ich Sie daran erinnern, daß mein größtes Problem wohl ist, daß ich mich in den letzten Jahren allzu sehr habe gehen lassen – ich habe also gerade für diese Schwäche Verständnis.«

»Aber… es ist so albern«, meinte Janine. »Ich meine, er weiß ja überhaupt nicht, was ich für ihn empfinde. Und natürlich war anzunehmen, daß er eine Freundin hat – ich weiß gar nicht, warum mich das jetzt so umgehauen hat.«

»Frau Wagner ist mit Sicherheit nicht seine Freundin«, stellte Alida fest. »Sie sind seit neuestem Nachbarn, das ist alles.«

»Was sagen Sie da? Woher wollen Sie wissen, daß sie nicht auch ein Liebespaar sind? Auf mich haben sie jedenfalls so gewirkt.«

»Sie haben ja gar nicht richtig hingesehen«, stellte Alida milde fest. »Sie haben nur gesehen, was Ihre geheimen Befürchtungen bestätigt. Die beiden haben wie gute Bekannte gewirkt, nicht wie ein Liebespaar.«

Janine ließ sich fassungslos auf einen Stuhl neben Alidas Bett fallen. »Manchmal werde ich aus Ihnen nicht klug, Frau Roth«, sagte sie zutiefst verwundert. »Sie haben sofort gesehen, daß ich in Dr. Weyrich verliebt bin – und jetzt behaupten Sie, daß er nicht in Frau Wagner verliebt ist. Dabei ist sie eine sehr schöne Frau – und Männer lieben doch Blondinen über alles.«

»Reden Sie nicht so töricht«, befahl Alida streng. »Sie wissen doch selbst, daß Sie eine Schönheit sind – Sie brauchen andere Schönheiten wahrhaftig nicht zu fürchten. Außerdem lieben längst nicht alle Männer Blondinen. Und wo haben Sie überhaupt Ihre Augen? Haben Sie nicht bemerkt, wie er immer strahlt, wenn er Sie bloß sieht? Er hat nicht halb so gestrahlt, als er Frau Wagner hier im Zimmer sah, das können Sie mir glauben.«

»Was wollen Sie damit sagen, Frau Roth?« stammelte Janine entgeistert.

»Habe ich mich unklar ausgedrückt?« Alidas Stimme klang gereizt. »Daß der Mann in Sie genauso verliebt ist wie Sie in ihn. Aber wenn nicht einer von Ihnen den Anfang macht, dann wird das nie etwas, das garantiere ich Ihnen.«

Es dauerte eine Weile, bis Janine sich von ihrer Überraschung erholt hatte. Dann beugte sie sich impulsiv über die Patientin und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Danke, Frau Roth«, sagte sie, und ihre grünen Augen strahlten wieder. »Das werde ich Ihnen nie vergessen!«

»Aber so weit, daß Sie mir eine Flasche Whisky besorgen wollen, geht Ihre Dankbarkeit auch wieder nicht, oder?«

Sofort erlosch das Strahlen in Janines Augen. »Ach, deshalb haben Sie das gesagt«, murmelte sie, »damit ich Ihnen was zu trinken besorge.«

»Nein, das stimmt nicht! Ich habe jedes Wort ernst gemeint, das ich gesagt habe«, beteuerte Alida. »Und die Sache mit dem Whisky – na ja…« Sie lächelte ein wenig verlegen. »Ich hätte wahnsinnig gern was zu trinken, aber irgendwie scheint es ja auch ohne zu gehen. Ich glaube, ich hab’s einfach aus Gewohnheit gesagt, Frau Dr. Gerold.«

»Ehrlich?«

Alida nickte, und Janine gab ihr noch einmal einen Kuß. »Glauben Sie nicht auch allmählich, daß wir uns gegenseitig helfen könnten?«

»Es kommt etwas überraschend«, meinte Alida, »aber es sieht tatsächlich ganz so aus.«

*

»Toll!« sagte Marc ein ums andere Mal, wann immer sie sich einem neuen Tiergehege zuwandten. »Ich bin so froh, daß Sie mich begleitet haben, Frau Wagner.«

»Ja, ich freue mich auch«, gab Stefanie zu. »Ich war schon lange nicht mehr hier, muß ich gestehen, dabei hat sich viel verändert, und es gibt unglaublich viel zu sehen.«

»Ja, nicht wahr?« sagte Marc. »Und jetzt noch die Eisbären!«

»Aber danach muß ich gehen«, sagte Stefanie nach einem Blick auf die Uhr. »Und zwar ziemlich schnell. Ich weiß sowieso nicht, wie ich meine lange Abwesenheit erklären soll. Normalerweise mache ich so etwas nie, Herr Weyrich.«

»Gut, daß Sie es mal probiert haben.« Marc grinste wie ein Schuljunge und zog sie zu den Eisbären.

Bevor sie das Gehege erreicht hatten, erkannten sie jedoch bereits, daß etwas passiert sein mußte, denn es ertönten Warnschreie, und eine kleine Menschenmenge drängte sich vor den Absperrgittern. »Was mag da wohl los sein? Auf die Eisbären hatte ich mich am meisten gefreut.«

In diesem Augenblick ertönte ein Schrei aus vielen Kehlen. Marc rannte los, Stefanie folgte ihm – und nun sahen sie auch, was passiert war. Einer der Wärter, der die Tiere hatte füttern wollen, war offenbar von einem Eisbären angegriffen worden und lag blutend in der Nähe der Tür.

Aber das war, wie Stefanie nun voller Entsetzen bemerkte, noch nicht alles. Diese Tür stand offen! Ob der Wärter nicht mehr dazu gekommen war, sie zu schließen, weil der Eisbär ihn sofort angegriffen hatte?

Das riesige Tier hatte sich einige Meter zurückgezogen, und jemand rief: »Wir müssen dem Mann helfen! Man kann ihn doch nicht einfach da liegen lassen!«

Eine Frau rannte los, um die Direktion zu verständigen und Hilfe zu holen – und in diesem Augenblick betrat Marc das Gehege. Langsam ging er auf den verletzten Mann zu, den Eisbären dabei nicht aus den Augen lassend. Die Umstehenden hielten den Atem an. Würde es gelingen, den Wärter aus dem Gehege zu ziehen – oder würde der Eisbär angreifen?

Zentimeter für Zentimeter schob sich Marc an den Verletzten heran. Der Eisbär beobachtete ihn aus seinen kleinen Augen. Er hatte sich hingesetzt und wirkte ein wenig träge, als habe ihn der Angriff auf den Wärter bereits erschöpft.

Stefanie hätte Marc gern zugerufen, er solle sich von der scheinbaren Ruhe des Tieres nicht täuschen lassen – dessen Augen waren hellwach, und ihnen entging nicht die geringste Bewegung des jungen Arztes. Stefanie stand jetzt ganz dicht am Zaun, direkt neben der Tür. Das Geschehen spielte sich kaum vier Meter von ihr entfernt ab.

Und dann machte der Eisbär eine blitzschnelle Bewegung nach vorn. Zwei Schritte, ein kurzer Prankenschlag – dann lag Marc ebenso blutüberströmt wie der Wärter am Boden. Die Menge schrie, Stefanie preßte ihre Hand vor den Mund, um ihren eigenen Entsetzensschrei zu ersticken. Jemand schloß die Tür – aber das hieß nur, daß man die beiden verletzten Männer zusammen mit den gefährlichen Tieren einsperrte.

»Lassen Sie mich durch!« rief Stefanie. »Lassen Sie mich sofort durch!«

Der Eisbär hatte nun offenbar wirklich genug von diesem Spiel, denn er trollte sich zu seinen Artgenossen weiter hinten im Gehege. Vielleicht war es auch die schreiende Menge jenseits des Zauns, die ihn vertrieb.

Stefanie boxte sich bis zur Tür durch und herrschte den Mann, der sie zuhielt, an: »Lassen Sie mich durch – wir müssen die beiden da rausholen, schnell! So lange die Eisbären weit genug entfernt sind.«

»Sind Sie verrückt geworden? Haben Sie nicht gesehen, was passiert ist? Wollen Sie die nächste sein, die verletzt am Boden liegt?«

»Wenn man schnell macht, kann man die beiden herausholen«, drängte Stefanie. »Die Bären sind jetzt auf der anderen Seite. Wenn Sie mir nicht helfen, dann mache ich es allein.« Sie stieß ihn beiseite.

Offenbar hatte er nicht mit ihrer Kraft gerechnet, denn er ließ sofort los. Stefanie riß die Tür auf und rannte in das Gehege. Marc lag ihr am nächsten, sie packte ihn unter beiden Armen, aber es wäre ihr wohl nicht gelungen, ihn schnell genug die paar Meter bis zur Tür zu schleifen, wenn sie nicht plötzlich zwei Helfer gehabt hätte. Kaum hatten sie Marc in Sicherheit gebracht, als die beiden Männer zurück zu dem etwas weiter entfernt liegenden Wärter rannten und diesen ebenfalls aus dem Gehege zogen – keine Sekunde zu früh, denn die Eisbären fingen nun wieder an, sich für das Geschehen zu interessieren und kamen eilig näher. Doch die Tür des Geheges wurde rasch geschlossen, bevor sie herangekommen waren.

Stefanie kniete neben Marc Weyrich, dessen Gesicht wächsern aussah und der aus einer großen Wunde an der Brust blutete. Sie preßte ihren Schal darauf, um den Blutverlust in Grenzen zu halten – sie wußte nicht, was sie sonst hätte tun können. Der Wärter schien noch schlimmere Verletzungen davongetragen zu haben – sie konnte vor lauter Blut sein Gesicht nicht erkennen.

Sie bezwang eisern die Übelkeit, die in ihr aufstieg und hoffte, daß bald Hilfe kam. Die Stimmen der Menschen um sie herum rauschten an ihren Ohren vorbei, sie verstand nichts von dem, was sie sagten, bis sie von irgendwoher ganz klar die Worte vernahm: »Der Rettungswagen wird jeden Augenblick hier sein.«

Marcs Augenlider flatterten. Stefanie griff nach seiner Hand und beugte sich ganz nah an sein rechtes Ohr. »Herr Weyrich, ich bin hier, Stefanie Wagner. Hilfe ist unterwegs, hören Sie? Ich frage, ob man Sie in die Kurfürstenklinik bringen kann – machen Sie sich keine Sorgen, dort wird man sich sofort um Sie kümmern.«

Das Zittern seiner Lider ließ nach, er öffnete die Augen jedoch nicht, und so wußte sie nicht, ob er ihre Worte verstanden hatte. Eine halbe Ewigkeit später berührte jemand ihre Schulter und sagte: »Bitte, gehen Sie beiseite.«

Sie sah auf und erkannte, daß der Rettungswagen offenbar eingetroffen war, denn der Mann, der sie angesprochen hatte, war ein Sanitäter. Sie stand auf, doch im selben Augenblick gaben ihre Knie nach, und sie sank dem Mann in die Arme. Nur das Wort »Kurfürstenklinik« brachte sie noch heraus, dann verlor sie das Bewußtsein.

*

»Eisbären?« fragte Adrian entsetzt. »Wie ist das denn passiert, um Himmels willen?«

»Er hat einen Wärter angegriffen bei der Fütterung – und jemand anders hat versucht, den Wärter aus dem Gehege zu holen, da hat der Eisbär noch einmal angegriffen«, erklärte Julia Martensen eilig. »Die beiden Männer sind schwer verletzt, Adrian, außerdem ist noch eine Frau dabei, die einen Schock hat – das ist alles, was ich weiß.«

»Als hätten wir an diesem Tag nicht bereits genug zu tun mit dieser Brandkatastrophe«, sagte Bernd Schäfer, der Julias letzte Worte gehört hatte.

»Du sagst es. Also los, wir bereiten zwei Behandlungskabinen vor«, kommandierte Adrian und wandte sich nun an Schwester Monika. »Moni, wir brauchen Blutkonserven, Kochsalzinfusionen, Antibiotika wegen der möglichen Infektionsgefahr.«

Schwester Monika nickte nur und machte sich umgehend an die Arbeit, während die Ärzte die Behandlungsräume vorbereiteten. Sie hatten nicht lange Zeit, bis die Sanitäter die angekündigten Patienten brachten. Der erste war der schwer verletzte Wärter, dessen Oberkörper ebenso wie die Arme tiefe Wunden aufwiesen, die ihm die mächtigen Tatzen des Eisbären mit den messerscharfen Krallen geschlagen hatten. Auch sein Gesicht sah furchtbar aus, nur um wenige Millimeter hatte die Pranke des Tieres sein rechtes Auge verfehlt.

»Kochsalz, rasch! Und sein Kreislauf braucht Unterstützung«, sagte Adrian. »Wir müssen als erstes die Blutungen stillen. Sobald er zu sich kommt und stabil ist, schicken wir ihn nach oben in den OP – kündige ihn an, Moni.«

Schweigend arbeiteten sie, während die Sanitäter wieder nach draußen rannten, um den zweiten Verletzten hereinzuholen. Als sie mit ihm kamen, rief Adrian: »Nach nebenan bitte, ich komme sofort. Ist er stabil?«

»Ja, einigermaßen«, antwortete einer der Sanitäter. »Aber er hat ebenfalls eine stark blutende Wunde am Oberkörper, die dringend behandelt werden muß.«

»Geh rüber und sieh dir den Mann an, Adrian«, meinte Bernd. »Wir kommen jetzt hier auch allein klar, Julia und ich.«

Julia nickte zustimmend, und Adrian ging in die Nachbarkabine. Fassungslos starrte er dort auf den Patienten.

»Herr Weyrich!« sagte er ungläubig und rief dann laut: »Es ist unser Kollege Weyrich!«

Julia und Bernd machten betroffene Gesichter, fuhren aber in ihrer Arbeit fort, da der verletzte Wärter ihre volle Konzentration verlangte.

»Herr Weyrich!« sagte Adrian nun ganz leise. »Können Sie mich hören?«

Die Lider des anderen flatterten, doch er öffnete die Augen nicht. Stattdessen murmelte er: »… war schon ganz nah dran…«

»Der Mann ist gerettet, Herr Weyrich!« sagt Adrian. »Und Sie sind es auch. Hören Sie? Niemand ist mehr in Gefahr!«

Nun schlug der andere die Augen auf und fragte mühsam: »Wo ist… Frau Wagner?«

Mit einem Schlag fiel Adrian alles wieder ein. Sicher, Marc Weyrich und Stefanie Wagner hatten ja gemeinsam in den Zoo gehen wollen – sie mußte das Unglück also mit angesehen haben. Aber wo war sie?

Laut rief er: »Wo ist die Frau mit dem Schock?«

»Sie sitzt im Warteraum«, antwortete einer der Sanitäter von draußen, »mein Kollege ist noch bei ihr. Sie ist kurz ohnmächtig geworden, aber bald wieder zu sich gekommen. Allerdings ist sie noch ziemlich wackelig auf den Beinen.«

»Ich kümmere mich gleich um sie«, sagte Julia aus der Nachbarkabine. »Unser Patient ist stabil und kann in den OP, ich bin gleich frei.«

»Gut«, murmelte Adrian, der sich fragte, ob es sich bei der Frau mit dem Schock um Stefanie Wagner handelte. Er hätte es gern gewußt, doch nachsehen konnte er nicht, denn Marc Weyrich brauchte dringend seine Hilfe.

»Adrian?« Schwester Monika stand in der Tür. »Bernd bringt den anderen Patienten jetzt nach oben, er kann sofort operiert werden. Aber für Herrn Weyrich haben wir keinen Chirurgen mehr – kannst du das selbst übernehmen?«

Am liebsten hätte Adrian gesagt: Nein, das kann ich nicht, nicht in diesem Fall. Ich kann nicht den Mann operieren, mit dem die Frau glücklich wird, von der ich seit langem vergeblich träume… Aber das dachte er nicht einmal richtig, es huschte höchstens als verworrenes Gedankengebilde durch seinen Kopf. Laut sagte er: »Natürlich, Moni. Bereite alles vor, Herr Weyrich ist gleich soweit.«

»Danke«, murmelte Marc Weyrich.

»Wofür?« fragte Adrian erstaunt.

»Bei Ihnen fühle ich mich sicher.« Nach diesen Worten verlor der Patient erneut das Bewußtsein.

*

Julia erkannte die schöne, überaus blasse Blondine im Wartezimmer sofort. Stefanie Wagner war bereits früher in der Notaufnahme der Kurfürstenklinik gewesen – davon einmal als Patientin. Und Julia erinnerte sich nun auch, daß Adrian Frau Wagner kannte.

Auch Stefanie erkannte Adrians Kollegin. Sie bemühte sich um ein Lächeln, als die Ärztin sie begrüßte und noch einmal ihren Namen sagte.

»Ich erinnere mich an Sie, Frau Dr. Martensen«, sagte sie leise. »Ich bin Stefanie Wagner.«

Julia bedankte sich bei dem Sanitäter, der bis jetzt bei Stefanie geblieben war und sich nun umgehend verabschiedete. »Kommen Sie, Frau Wagner, ich möchte, daß Sie sich hinlegen«, sagte sie besorgt, als sie den kalten Schweiß auf der Stirn der jungen Frau bemerkte. »Sie sollten die Beine hochlagern, und ich wickele Sie erst einmal in eine Decke. Außerdem gebe ich Ihnen vielleicht eine Spritze.«

Sie stützte Stefanie auf dem Weg zu einer der Behandlungskabinen, half ihr dort, sich hinzulegen und sorgte dann dafür, daß die junge Frau entspannt lag. Sie fühlte ihr den Puls, untersuchte sie und fragte behutsam: »Sie haben alles mit angesehen?«

»Ich war mit Herrn Weyrich im Zoo«, antwortete Stefanie, »er ist mein Nachbar, wissen Sie? Als wir zu den Eisbären kamen, sahen wir schon, daß etwas passiert sein mußte…«

Stockend und mit vielen Unterbrechungen erzählte sie Julia die ganze Geschichte. Sie zitterte jetzt und hatte Tränen in den Augen, aber Julia war froh, daß sie redete, das konnte ihr nur helfen.

»Und als dann dieser Mann die Tür zuhielt und damit praktisch Herrn Weyrich und den Wärter mit den Tieren zusammen einsperrte, da bin ich fast verrückt geworden.« Stefanie schluckte. »Ich habe ihn einfach zur Seite geschickt und bin hineingegangen, die Eisbären hatten sich ja an das andere Ende des Geländes zurückgezogen. Es ging dann auch ganz schnell, zwei Männer haben mir geholfen. Aber als ich zuvor dieses riesige Tier plötzlich auf Herrn Weyrich losgehen sah…« Sie schauderte bei der Erinnerung und schloß unwillkürlich die Augen.

»Nicht«, sagte Julia sanft. »Denken Sie jetzt nicht mehr daran – die beiden Männer sind gerettet worden, und das haben sie zum Teil Ihnen zu verdanken, Frau Wagner.«

Stefanie machte eine abwehrende Handbewegung. »Was habe ich denn schon getan?« fragte sie leise.

Julia entschloß sich, ihr eine Spritze zu geben, damit sie zur Ruhe kam. »Soll ich jemanden benachrichtigen, daß Sie hier sind?« fragte sie.

Stefanie dachte verschwommen an ihren Chef Andreas Wingensiefen und murmelte: »Niemanden benachrichtigen, bitte.«

»Gut, ganz wie Sie möchten.« Juli zog die Spritze auf, stach behutsam zu und wartete dann, bis die regelmäßigen Atemzüge der jungen Frau ihr verrieten, daß sie eingeschlafen war. Leise ging sie hinaus, um Adrian Bescheid zu sagen, daß es sich bei der Patientin mit dem Schock um eine Frau handelte, die er kannte – doch Adrian stand bereits im OP.

*

»Solche Wunden habe ich noch nie gesehen«, sagte der junge Arzt im Praktikum, der Adrian bei der Operation an Marc Weyrich assistierte und mit weit aufgerissenen Augen auf die zerfleischte Brust des Patienten starrte. Man sah ihm an, daß er sich an einen anderen Ort wünschte, einen Ort, wo ihm derart blutige Anblicke möglichst erspart blieben. Er war ziemlich blaß um die Nase und tat Adrian fast leid. Wenn man noch nicht oft im OP gestanden hatte, dann war diese Operation ein echter Härtetest.

»Es war ein Eisbär«, teilte er dem jungen Kollegen mit, während er begann, die Wundränder sorgfältig abzuschneiden, um die Wunde möglichst schnell zu verschließen. Marc Weyrich hatte bereits zu viel Blut verloren.

»Ein Eisbär?«

In wenigen Worten erzählt Adrian ihm und allen anderen, wie es zu dem Unfall gekommen war, denn das Operationsteam war in großer Eile zusammengestellt worden, und die Vorbereitung hatte daher ausfallen müssen. Die meisten Anwesenden wußten, als sie den OP betreten hatten, nicht mehr, als daß es sich bei dem Patienten um einen schwer verletzten Mann handelte.

»Die Infektionsgefahr ist also groß«, erklärte Adrian am Ende seiner Ausführungen, während er ruhig weiterarbeitete. »Außerdem hat der Patient eine Menge Blut verloren, sein Kreislauf ist schwach. Der Körper befindet sich in einem Schockzustand, und Eile ist geboten.«

»Sehr richtig«, ließ sich Werner Roloff in diesem Augenblick vernehmen. Er war der Anästhesist, mit dem Adrian am liebsten zusammenarbeitete – bereits fast sechzig und so erfahren, daß es kaum eine Situation im OP gab, die ihm in seinem langen Berufsleben noch nicht begegnet war.

»Schon gut, Werner«, sagte

Adrian, fast entschuldigend, obwohl er sich trotz seiner Erläuterungen voll konzentriert hatte und auch nicht langsamer geworden war. So etwas lernte man im Laufe der Zeit.

»Ich mache mir Sorgen um Herrn Weyrich, muß ich gestehen«, erklärte sein älterer Kollege, »sein Kreislauf ist schwankend, das gefällt mir nicht, Adrian. Eigentlich müßte er stabil sein, aber das ist er nicht – deshalb ändere ich die Zusammensetzung der Infusion auch ständig.«

Adrian blickte auf, in das besorgte Gesicht des anderen. Wenn Werner Roloff so redete, dann hatte das seinen Grund – er war niemand, der ohne Not Panik verbreitete.

»Helfen Sie mir«, wies Adrian seinen Assistenten an. »Sehen Sie, wie ich es mache und machen Sie es mir nach! Fangen Sie auf der gegenüberliegenden Seite an!«

Zögernd und noch unsicher begann der junge Mann, aber er wurde schnell mutiger, und Werner Roloff atmete auf, als er sah, daß sie beiden Chirurgen nun bedeutend schneller vorankamen. Nach zehn Minuten sagte er: »Er stabilisiert sich. Wie lange werdet ihr noch brauchen?«

»Eine halbe Stunde höchstens«, antwortete Adrian. »Wahrscheinlich kürzer.«

»Gut – ich denke, das wird er schaffen.«

Von nun an sprach niemand mehr, es wurde sehr ruhig im Operationssaal.

*

Es klopfte so heftig an die Tür von Alida Roths Zimmer, daß sowohl die Patientin als auch Janine, die ihr gerade den Blutdruck gemessen hatte, zusammenfuhren.

»Ja, bitte?«

Es war Janines Freundin Andrea Reddemann, die gleich darauf den Kopf hereinstreckte. »Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte sie höflich zu Alida Roth und wandte sich dann an Janine. »Ich muß dich ganz dringend kurz sprechen.«

»Jetzt?«

»Ja, sofort. Kannst du herauskommen?«

»Ist etwas passiert?« fragte Janine beunruhigt, doch Andrea antwortete nicht, sondern machte nur eine Kopfbewegung, die Freundin möge ihr möglichst schnell nach draußen folgen.

»Gehen Sie nur«, sagte Alida.

»Es dauert nicht lange, Frau Roth«, versprach Janine und folgte ihrer Freundin auf den Stationsflur. »Was ist denn los, daß du hier so hereinplatzt?« fragte sie, allmählich neugierig geworden.

»Dr. Weyrich ist im Zoo von einem Eisbären angefallen worden und wird gerade von Dr. Winter operiert«, erklärte Andrea hastig. »Er ist schwer verletzt, schwebt aber angeblich nicht in Lebensgefahr. Ich wollte nur, daß du es von mir erfährst und nicht von jemand anderem.« Sie sah, daß Janine die Gesichtsfarbe gewechselt hatte und sagte besorgt: »He, ich hab’ dir doch gesagt, daß er wohl nicht in Lebensgefahr schwebt. Kipp mir bloß nicht um, Janine!«

»Nein, mach’ ich nicht«, brachte Janine heraus. »Von einem Eisbären angefallen, sagst du? Aber dann muß er doch schreckliche Verletzungen haben, Andrea.«

»Eine schlimme Wunde am Oberkörper – mehr weiß ich nicht«, berichtete Andrea. »Und, wie gesagt, Dr. Winter operiert selbst, weil heute ja auch noch diese Brandkatastrophe war – da sind alle Chirurgen sowieso pausenlos im Einsatz gewesen. Aber das Schlimmste war bis mittags vorüber, deshalb konnten sie sich in der Notaufnahme auch gleich um Dr. Weyrich kümmern. Ein anderer Mann soll auch verletzt sein.«

»Ich muß wieder rein«, sagte Janine abwesend, »ich will Frau Roth nicht so lange allein lassen.«

»Natürlich nicht«, erwiderte Andrea. »Wann hast du Schluß? Soll ich dich nachher abholen? Wir könnten zusammen nach Hause gehen, falls wir beide pünktlich aufhören.«

Janine schüttelte den Kopf, obwohl es eigentlich keinen Grund gab, der sie an diesem Tag länger in der Klinik festgehalten hätte. Aber sie konnte nicht einfach nach Hause gehen, ohne sich zu erkundigen, wie die Operation an Dr. Weyrich verlaufen war. Abwesend sagte sie: »Nein, ich will noch ein bißchen länger bei Frau Roth bleiben heute. Sie ist in einer kritischen Phase, weißt du?«

»Okay, dann sehen wir uns irgendwann später«, erwiderte Andrea und umarmte Janine. »Geht’s wieder?«

»Ja, und danke, daß du es mir sofort gesagt hast, Andrea.«

»Ehrensache«, meinte Andrea, »bis später!«

Janine sah ihr nach, wie sie den Stationsflur entlangrannte, dann gab sie sich einen Ruck und kehrte zurück zu ihrer Patientin.

*

Im Hotel King’s Palace herrschte Chaos, denn die heimliche Chefin des Hauses, Stefanie Wagner, war verschwunden, seit sie in der Mittagspause die Reederswitwe Alida Roth, einen der Stammgäste des Hotels, in der Kurfürstenklinik besucht hatte.

»Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!« tobte Andreas Wingensiefen, der sich mit lauter Fragen seiner Mitarbeiter konfrontiert sah, die er nicht beantworten konnte. Denn wenn Stefanie nicht da war, wandten sich selbstverständlich alle an den Direktor, der ja, jedenfalls theoretisch, für das gesamte Haus verantwortlich war. Aber er konnte niemandem weiterhelfen, und allmählich breitete sich überall Panik aus. Auf Stefanies Handy meldete sich niemand, zahlreiche Nachrichten waren ihr bereits hinterlassen worden, doch bisher hatte sie nicht zurückgerufen.

Irgendwann hatte jemand die rettende Idee, Alida Roth in der Kurfürstenklinik anzurufen und sich zu erkundigen, wann denn Stefanie Wagner sie verlassen habe. Die Idee wurde dem Direktor mitgeteilt, der es für angebracht hielt, daß er selbst die Aufgabe übernahm, mit Frau Roth ein entsprechendes Gespräch zu führen.

Und so bekam Alida den ersten Telefonanruf, seit sie in der Kurfürstenklinik lag. Sie kannte Andreas Wingensiefen kaum und hielt nicht besonders viel von ihm, da sie ihn für einen Wichtigtuer hielt. Aber sie hatte auch nichts gegen ihn, und so beantwortete sie seine Fragen zum Besuch von Stefanie Wagner höflich, jedoch zurückhaltend. Jedenfalls behielt sie die Absicht der jungen Frau, mit Dr. Weyrich den Zoo aufzusuchen – ganz offensichtlich während ihrer Arbeitszeit – für sich. Wenn Stefanie ihrem Chef nichts davon gesagt hatte, dann gab es dafür sicherlich gute Gründe, dachte Alida. Sie gab also die Uhrzeit an, zu der Stefanie sie verlassen hatte und legte dann, nachdem sie die besten Genesungswünsche Andreas Wingensiefens dankend entgegengenommen hatte, auf.

Kurz darauf kehrte Janine zurück, und ein einziger Blick in ihr Gesicht genügte Alida. »Was ist passiert?« fragte sie ruhig.

Die grünen Augen der jungen Ärztin gaben Auskunft über die Qualen, die sie litt. »Ein Eisbär hat ihn angefallen im Zoo«, murmelte sie und berichtete ihrer Patientin dann das Wenige, was sie wußte.

»Und was ist mit Frau Wagner?« fragte Alida sofort, die allmählich Böses ahnte. War auch sie verletzt worden und deshalb nicht ins Hotel zurückgekehrt?

»Das… das weiß ich nicht«, stotterte Janine. »Ich… ich kenne sie ja gar nicht, Frau Roth, und ich war so durcheinander wegen Dr. Weyrich…«

»Nicht weinen!« forderte Alida streng. »Dafür ist jetzt keine Zeit, Frau Dr. Gerold. Sehen Sie zu, daß Sie über beide etwas herausfinden – nun machen Sie schon! Sie wollen doch wissen, wie es Ihrem Doktor geht, und ich will wissen, wie es Frau Wagner geht. Da mir niemand etwas erzählen wird, müssen Sie es herausfinden.«

»Aber ich darf Sie nicht allein lassen«, stammelte Janine, während sie sich tapfer bemühte, die aufsteigenden Tränen hinunterzuschlucken. »Ich… ich bin ganz durcheinander, Frau Roth… er ist schwer verletzt, und ich weiß gar nicht…«

Alida ließ sie nicht ausreden. »Eben, weil Sie nichts wissen, sollen Sie sich ja erkundigen«, sagte sie ruhig. »Gehen Sie in die Notaufnahme und fragen Sie nach Frau Wagner – erklären Sie, daß ich von dem Unglück gehört habe und mir größte Sorgen mache. Das ist doch ein wunderbarer Vorwand, schließlich sind Sie im Augenblick für mich verantwortlich. Klar?«

Janine nickte wie eine Schülerin, die gerade eine schwierige Lektion verstanden hatte.

Zufrieden fuhr Alida fort: »Bei der Gelegenheit können Sie dann auch nach Dr. Weyrich fragen. Na, worauf warten Sie noch? Nun laufen Sie schon los, ich verspreche Ihnen, in der Zwischenzeit keinen Versuch zu unternehmen, mir eine Flasche Whisky zu besorgen. Und kommen Sie möglichst schnell wieder, ich mache mir nämlich wirklich Sorgen um Frau Wagner.«

»Danke«, flüsterte Janine, aber Alida scheuchte sie mit einem fast unwilligen Wedeln ihrer Hand aus dem Zimmer.

»Besser, Frau Wagner?«, fragte Julia lächelnd, als Stefanie aufwachte und ein wenig verwirrt um sich blickte.

»Ja«, antwortete Stefanie und richtete sich auf. »Herr Weyrich – was ist mit ihm?«

»Die Operation ist beendet, es ist alles gut verlaufen«, berichtete Julia. »Auch der Wärter wird überleben, obwohl seine Verletzungen viel schwerer waren als die unseres Kollegen.«

»Gott sei Dank«, flüsterte Stefanie. »Sie können sich nicht vorstellen, was für ein schrecklicher Anblick das war.«

»Ich fürchte, das kann ich mir doch vorstellen«, entgegnete Julia ernst. »Ich weiß nicht, ob Sie von der Brandkatastrophe gehört haben – wir haben heute schon Furchtbares gesehen, das dürfen Sie mir glauben.«

Stefanie nickte, ihr Gesicht nahm einen abwesenden Ausdruck an. Julia fühlte ihr unauffällig den Puls und fragte: »Kann sich heute abend jemand um Sie kümmern, Frau Wagner? Es wäre besser, wenn Sie nicht allein wären, denke ich. Sie hatten einen Schock, und Sie leiden noch immer unter den Auswirkungen...«

»Entschuldigung«, sagte in diesem Augenblick eine atemlose Stimme hinter ihnen.

Julia wandte sich um und erkannte Janine Gerold, der sie die Betreuung von Alida Roth übertragen hatte. »Ja?« fragte sie. »Was gibt’s denn, Frau Gerold?«

»Frau Roth ist ganz beunruhigt Ihretwegen, Frau Wagner«, erklärte Janine, halb zu Julia, halb zu Stefanie gewandt. »Sie hat gehört, was passiert ist und möchte wissen, wie es Ihnen gehr.«

»Wie konnte sie denn von dem Unglück erfahren?«, fragte Julia stirnrunzelnd.

»Jemand hat erzählt, daß Dr. Weyrich von einem Eisbären angegriffen wurde, als die Tür offen stand«, log Janine hastig. »Und weil Frau Roth wußte, daß Frau Wagner mit Dr. Weyrich in den Zoo gegangen ist, hat sie gleich gefragt, ob Frau Wagner auch etwas passiert ist.«

»Ich bin mit dem Schrecken davongekommen«, erklärte Stefanie, »während Dr. Weyrich schwer verletzt worden ist.« Sie schauderte erneut bei der Erinnerung an den Angriff des Eisbären.

»Und wie geht es ihm jetzt?« fragte Janine, die Augen angstvoll auf Julias Gesicht gerichtet.

»Ich habe es gerade Frau Wagner erzählt«, antwortete Julia, der durchaus auffiel, daß die junge Ärztin außergewöhnliches Interesse zeigte. »Die Operation ist beendet, dem Patienten geht es soweit gut – den Patienten vielmehr. Auch der Zustand des verletzten Wärters ist soweit zufriedenstellend.«

Janine gab sich keine Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen. Ihre Augen strahlten.

»Frau Roth wird froh sein, das zu hören«, sagte sie.

»Grüßen Sie sie bitte von mir«, bat Stefanie.

»Das mache ich gern«, versprach Janine und verabschiedete sich hastig wieder.

»Sie hat irgendwie Ähnlichkeit mit Frau Roth«, stellte Stefanie fest. »Komisch, das ist mir gar nicht aufgefallen – aber diese Augen...«

»Ja, nicht wahr?« Julia lächelte. Nach allem, was sie hörte vom Zustand der Patientin Roth, war ihre Idee, gerade Janine Gerold zu ihrer Betreuung abzustellen, ein Volltreffer gewesen.

Irgendwo klingelte ein Handy, und Stefanie zuckte zusammen, weil es sie daran erinnerte, daß sie das Hotel vor langer Zeit verlassen, sich seitdem aber dort nicht wieder gemeldet hatte. »Meine Güte«, rief sie. »Ich hätte längst im Hotel anrufen müssen. Die werden sich schon Gedanken machen, was mit mir ist!«

»Ach«, sagte Julia weise, »die werden auch mal ohne Sie zurechtkommen – und wenn nicht, dann schadet es überhaupt nichts, wenn sie endlich feststellen, wie wertvoll Sie für den Betrieb sind.«

»Schön wär’s«, meinte Stefanie und entspannte sich wieder. »Aber Sie haben recht: Sollen sie noch ein Weilchen schmoren! Ich bin immer noch ziemlich müde.«

»Dann schlafen Sie noch ein bißchen«, sagte Julia, deckte Stefanie fürsorglich zu und ging hinaus. An der Tür drehte sie sich noch einmal um, aber die junge Frau war bereits wieder eingeschlafen.

*

Das King’s Palace stand mittlerweile Kopf. Bei seinem Anruf in der Kurfürstenklinik hatte Direktor Wingensiefen nur erfahren, wann Stefanie Frau Roth verlassen hatte – danach verlor sich ihre Spur. Stefanie Wagner war wie vom Erdboden verschwunden.

Abgesehen davon, daß der Chef immer unleidlicher wurde, weil ihm die vielen Fragen der Angestellten, die er nicht beantworten konnte, auf die Nerven gingen, wurde die Stimmung auch deshalb immer angespannter, weil sich Stefanies Kolleginnen und Kollegen ernsthafte Sorgen um ihre heimliche Chefin machten, die von fast allen sehr geschätzt, ja, fast verehrt wurde. Noch nie war sie mehrere Stunden lang einfach verschwunden, ohne Bescheid zu sagen, wo sie war – jedenfalls, wenn nichts passiert war. Die logische Schlußfolgerung lautete also: Es muß etwas passiert sein.

Es war Stefanies Sekretärin, die schließlich bei einer Besprechung im Büro des Direktors mit zaghafter Stimme vorschlug, die Krankenhäuser der Umgebung anzurufen, um festzustellen, ob Frau Wagner vielleicht einen Unfall gehabt hatte und sich deshalb nicht aus eigener Kraft im Hotel melden konnte. Alle, die den Vorschlag hörten, schwiegen zunächst wie vom Donner gerührt – sie hatten vielleicht so etwas gedacht, aber nicht gewagt, eine solche Befürchtung laut auszusprechen. Nun also stand sie im Raum.

Auch der Chef reagierte zunächst mit Schweigen, dann jedoch rief er: »Worauf warten Sie noch? Wenn Sie die Idee schon haben, dann rufen Sie gefälligst auch an! Beeilen Sie sich, das hätten wir längst tun sollen!«

Die Sekretärin verschwand eingeschüchtert und hängte sich in ihrem eigenen Büro sofort ans Telefon, auch die anderen Angestellten verließen eilig das Chefbüro. Am besten war es, wenn man Direktor Wingensiefen im Augenblick aus dem Weg ging – bis Stefanie Wagner wieder da war, die es am besten verstand, ihn zu nehmen.

*

Müde kehrte Adrian, nachdem er im Aufwachraum noch einmal nach Marc Weyrich gesehen hatte, in die Notaufnahme zurück. Die Operation hatte ohne Komplikationen beendet werden können, und er hatte seinen jungen Assistenten am Ende ausdrücklich gelobt, was diesen heftig hatte erröten und stammeln lassen. Aber Adrian, der selbst durch eine harte Schule gegangen war, wußte, wie wichtig es war, für eine gute Leistung auch einmal gelobt zu werden.

In der Notaufnahme herrschten inzwischen fast schon wieder normale Zustände, obwohl noch immer Patienten mit Brandwunden zu behandeln waren. Was für ein Tag, dachte er. Zuerst eine solche Katastrophe – und dann noch eine zweite gleich hinterher.

»Hallo, Julia«, sagte er.

»Du siehst schrecklich aus«, stellte sie fest.

»Wenn ich ehrlich sein soll: Richtig frisch wirkst du auch nicht.«

Sie tätschelte seine Wange. Bernd Schäfer, der gerade eine Behandlungskabine verließ, sah das und bemerkte: »Keine vertraulichen Gesten während der Arbeitszeit, bitte.«

»Komm her«, sagte Julia, »du kriegst auch eine Streicheleinheit, damit du nicht eifersüchtig bist.«

Er war mit zwei Schritten bei ihr, und sie strich ihm liebevoll über beide Wangen. »Zufrieden?«

»Mhm«, brummte Bernd. Er sah ebenfalls völlig erschöpft aus. »Wenn es solche Tage wie heute öfter gäbe, würde ich den Beruf wechseln.«

»Ach« sagte Julia in diesem Augenblick, »da fällt mir ein, daß ich dir vor der Operation ja noch sagen wollte, daß eine Bekannte von dir hier ist, Adrian. Aber du warst schon weg. Frau Wagner. Sie war mit Herrn Weyrich im Zoo und hat alles mit angesehen. Außerdem hat sie ihm, wenn ich das richtig sehe, vermutlich das Leben gerettet.«

Adrian war zu müde, um sich vollkommen zu beherrschen, und so war ihm seine Erregung durchaus anzumerken, als er fragte: »Ist sie noch hier? Wie geht es ihr?«

»Ja, sie ist noch hier. Sie hatte einen Schock, ich habe ihr eine Spritze gegeben, daraufhin ist sie eingeschlafen. Sie war schon einmal wach, ist aber immer noch so müde, daß ich ihr geraten habe, noch zu bleiben.« Julia machte eine Handbewegung. »Sie liegt da vorn, in Kabine sieben.«

»Ich sehe mal nach ihr«, murmelte Adrian.

Als sie allein waren, sagte Bernd leise: »Scheint ihm aber ziemlich viel zu liegen an dieser Bekannten, was?«

»Sieht so aus«, antwortete Julia nachdenklich. »Sieht ganz so aus, Bernd.«

*

Stefanie schlug die Augen auf und war sicher, daß sie träumte. Sie zwinkerte und sah den Mann, der sich über sie beugte, danach noch einmal an – aber er sah immer noch aus wie Adrian Winter. Und als er nun mit leiser Stimme sagte: »Hallo, Frau Wagner«, begriff sie, daß sie wohl doch wach war.

Sie versuchte es mit einem Scherz. »Wir waren heute abend verabredet, Herr Winter – und weil Sie keine Zeit hatten, bin ich eben hierher gekommen.«

Er setzte sich. »Die Brandkatastrophe«, sagte er müde. »Das allein war schon schlimm genug – und dann auch noch dieser Unfall im Zoo.« Er betrachtete sie aufmerksam. »Geht es Ihnen besser? Meine Kollegin sagte mir, daß Sie einen Schock hatten. Sie haben also alles mit angesehen?«

»Ja, aus nächster Nähe«, erklärte sie und schlang unwillkürlich die Arme um ihren Körper, als müsse sie sich schützen.

Er mußte sie gar nicht auffordern, sie erzählte von sich aus, was sich ereignet hatte. Und dabei fiel ihm auf, daß sie immer »Herr Weyrich« sagte, wenn sie von seinem Kollegen sprach. War es denn möglich, daß sie einander doch nicht so gut kannten, wie er angenommen hatte?

»Jedenfalls haben wir die beiden gerade noch aus dem Gehege holen können, bevor der Eisbär mit seinen Genossen wieder zurückkam«, schloß sie. Sie sah ihn an. »Haben Sie schon einmal gesehen, wie riesig ein Eisbär ist, wenn er einem Menschen gegenüber steht? Wenn er richtig zugeschlagen hätte, dann wäre Herr Weyrich tot gewesen – und der Wärter auch. Sie hätten keine Chance gehabt, Herr Winter.«

»Sicher nicht«, sagte er, und dann stellte er endlich die Frage, die ihm auf der Seele lag. »Woher kennen Sie Herrn Weyrich eigentlich?«

»Er ist mein Nachbar seit kurzem«, antwortete sie und lächelte ihn an. »Ehrlich gesagt, ich wußte seit ein paar Tagen, daß er hier arbeitet, aber ich habe ihm nicht verraten, daß ich Sie kenne.«

»Warum nicht?« fragte er leise.

»Ich wollte es lieber für mich behalten«, antwortete sie. »Außerdem kenne ich Herrn Weyrich nicht besonders gut, da muß ich ihm ja nicht gleich meine Geheimnisse verraten, nicht?«

»Nein«, sagte er, und auf einmal war seine Müdigkeit wie weggeblasen, wilde Freude erfüllte ihn. Vergessen war jener andere Mann, den er noch immer für Stefanie Wagners Freund hielt – im Augenblick ging es nur um Marc Weyrich. »Und ich dachte, Sie wären vielleicht…«

Er stockte. War er verrückt geworden? Wollte er ihr etwa erzählen, was er geglaubt hatte? Verlegen suchte er nach einem Ausweg. »Na ja, ich dachte, Sie müßten ihn ziemlich gut kennen – schließlich sind Sie ja während Ihrer Arbeitszeit mit ihm in den Zoo gegangen. Und so, wie ich Ihre Arbeitsmoral kenne, also…«

Sie strahlte ihn an. »Haben Sie etwa gedacht, Herr Weyrich und ich…?«

Er nickte.

»O nein«, erklärte sie. »Ich glaube, er hat sein Herz bereits verloren, wenn ich auch nichts Genaues weiß. Aber als Frau hat man so etwas im Gefühl.«

Er kam nicht mehr dazu, zu antworten, denn von der Tür her sagte Julia: »Adrian? Tut mir leid, aber es geht weiter – noch drei Brandopfer, die man eben erst gefunden hat.«

»Ich muß gehen, Frau Wagner.« Er drückte ihre Hand und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu: »Aber unser Abendessen holen wir bald nach, ja?«

»Sehr gern«, sagte sie – und ihr Lächeln begleitete ihn in den nächsten Stunden, die noch einmal vollen Einsatz von allen Ärzten, Schwestern und Pflegern der Notaufnahme forderten.

*

»Gute Nacht, Frau Roth«, sagte Janine leise. »Ich muß jetzt gehen. Aber ich möchte Ihnen vorher noch sagen, daß ich froh bin, Sie kennengelernt zu haben. Sie haben mir in den letzten Tagen sehr geholfen.«

»Das kann ich nur zurückgeben«, erwiderte Alida.

»Ach, nein«, entgegnete Janine verlegen, »ich habe ja nichts getan, außer die Fassung zu verlieren.« Sie lächelte. »Aber vielleicht hat die Beschäftigung mit meinen Problemen Sie so beschäftigt, daß es Sie abgelenkt hat. Sie haben schon mehrere Stunden das Wort ›Whisky‹ nicht mehr in den Mund genommen.«

»Ich weiß«, sagte Alida gelassen. »Aber das heißt nicht, daß ich nicht häufig daran gedacht hätte. Es ist nur so, daß es mich sehr stört, wenn ich abhängig bin – da werde ich störrisch. Ich war von meinem Mann sehr abhängig, wissen Sie? Er hat mich zunächst geliebt und dann schlecht behandelt. Immer hatte er andere Frauen, er hat mich gedemütigt, wo er nur konnte. Damals habe ich mit dem Trinken angefangen. Als er gestorben ist, hätte ich eigentlich froh sein müssen, weil er mich nun nicht mehr quälen konnte – aber ich war nicht froh. Im Gegenteil, ich hätte alles darum gegeben, wenn er zurückgekehrt wäre – selbst um den Preis weiterer Demütigungen.«

»Das kann ich gar nicht glauben«, sagte Janine, zutiefst erschrocken über dieses Geständnis. »Sie machen, trotz Ihrer Alkoholabhängigkeit, so einen starken Eindruck, Frau Roth.«

»Ich war auch einmal stark«, sagte die andere, »und daran haben Sie mich erinnert. Auf einmal habe ich Lust bekommen, wieder stark zu werden und mit mir selbst ins reine zu kommen. Ich wollte nicht mehr leben, weil ich keinen Sinn mehr im Leben sah – es war ja nicht einmal mehr der Mann da, den ich geliebt habe und der nichts wollte, als mich zu erniedrigen.«

»Wie können Sie einen solchen Menschen geliebt haben?« fragte Janine fassungslos.

»Ja, wie?« Die andere zuckte mit den Schultern. »Wenn ich noch eine Weile, vielleicht mit Ihrer Hilfe, darüber nachdenke, dann komme ich möglicherweise zu dem Ergebnis, daß es keine Liebe war, sondern Abhängigkeit, Hörigkeit oder etwas Ähnliches.«

»Liebe war es nicht!« sagte Janine mit fester Stimme. »Liebe ist etwas ganz anderes!«

Alida sah sie an, und zum ersten Mal, seit Janine sie kannte, sah sie die andere richtig lächeln. Es war ein Lächeln, das eine verblüffende Veränderung bewirkte: Auf einmal wirkte die Frau nicht mehr müde und ausgebrannt, sondern man konnte sich durchaus vorstellen, daß sie das Steuer noch einmal herumreißen und ein völlig neues Leben beginnen würde.

»Kommen Sie zu mir, Kind!« sagte sie. »Ich muß Sie umarmen. Sie haben viel mehr für mich getan, als Sie wissen.«

*

Stefanie hatte ein Taxi genommen und sich ins Hotel fahren lassen – ihr Plan war, in dieser Nacht im King’s Palace zu bleiben. Frau Dr. Martensen hatte ihr beim Abschied noch einmal eingeschärft, daß es besser sei, nicht allein zu bleiben – und Stefanie hatte keine Lust, jemandem zur Last zu fallen. Außerdem wollte sie nicht bemuttert werden, sondern nur jemanden rufen können, falls sie wirklich Hilfe brauchen sollte.

Als sie langsam das Hotel betrat, flogen mehrere Köpfe wie elektrisiert in die Höhe, dann kam eine junge Rezeptionistin auch schon auf sie zugerannt. Es war mittlerweile ziemlich spät, und Stefanie rechnete nicht damit, noch mit ihrem Chef sprechen zu müssen, was ihr ganz lieb war.

»Frau Wagner! Wir haben uns solche Sorgen um Sie gemacht! Ist etwas passiert?«

Auch die anderen kamen nun näher. Stefanie sah in lauter erleichterte Gesichter.

»Ja, ich war mit einem Schock im Krankenhaus«, sagte sie. »Und weil ich unter Umständen Betreuung brauche, möchte ich heut nacht gerne hierbleiben.«

Jemand sagte: »Der Chef ist noch da – er ist völlig außer sich, Frau Wagner. Ihre Sekretärin hat die Krankenhäuser angerufen, weil wir dachten, Sie hätten einen Unfall gehabt…«

»Na ja, wenn man den Angriff eines Eisbären einen Unfall nennen will«, murmelte Stefanie.

»Eisbär?« fragte die junge Rezeptionistin verständnislos.

»Ich erzähle Ihnen die Geschichte morgen«, sagte Stefanie. »Jetzt möchte ich nur noch ins Bett.«

»Natürlich. Kommen Sie, wir suchen ein schönes Zimmer für Sie aus.«

Doch ganz so schnell, wie sie gehofft hatte, kam Stefanie nicht ins Bett, denn auf einmal stand Andreas Wingensiefen hinter ihr. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, daß er sie erleichtert in die Arme schließen würde wie ein Vater seine verloren geglaubte Tochter. »Gerade sagte mir Ihre Sekretärin, daß Sie in der Kurfürstenklinik waren – meine Güte, Frau Wagner, wir haben uns solche Sorgen um Sie gemacht!«

»Danke«, sagte sie verwirrt, als er sie wieder losließ. »Tut mir leid, daß ich mich nicht gemeldet habe, aber es ging mir wirklich ziemlich schlecht.«

»Ja, ich weiß«, sagte er und ließ offen, was er wußte und was nicht.

»Ich möchte heute nacht hier schlafen«, erklärte sie. »Die Ärzte waren der Ansicht, daß ich vielleicht Betreuung brauche. Ich würde mich im Hotel sicherer fühlen als zu Hause.«

»Selbstverständlich«, sagte er großzügig. »Kommen Sie, ich begleite Sie nach oben.«

Das tat er, schloß ihr fürsorglich das Zimmer auf und verabschiedete sich dann, noch immer überaus besorgt. Als Stefanie allein war, schüttelte sie lächelnd den Kopf. Frau Dr. Martensen hatte recht, dachte sie. Meine Aktien beim Chef sind eindeutig gestiegen – und da werde ich nutzen, um ihm die Entlassungen, die er plant, endgültig auszureden. Bessere Karten als jetzt werde ich wahrscheinlich nie haben.

*

Marc hatte entsetzliche Schmerzen, als er in der Nacht aufwachte, aber sofort kam jemand und gab ihm ein Medikament, das den Schmerz dämpfte und dafür sorgte, daß er bald wieder einschlief. Er träumte wirr von Eisbären mit grünen Augen und rotem Fell, und immer wieder wachte er schweißgebadet auf. Doch jedes Mal war jemand zur Stelle, gab ihm etwas zu trinken, tupfte seine Stirn ab, sprach ein paar beruhigende Worte – und er sank erneut in Schlaf.

In den frühen Morgenstunden schienen die Schmerzen nachzulassen, und er fühlte sich ein wenig besser. Sein Schlaf wurde tiefer. Als er schließlich richtig wach wurde, sah er direkt in zwei grüne Augen, die ihn aufmerksam und voller Sorge betrachteten. Er brauchte einige Sekunden, bis er begriff, daß es wirklich Janine Gerold war, die neben seinem Bett saß. »Sie?« fragte er leise.

Sie nickte. »Ich hatte Angst um Sie«, sagte sie. »Ich konnte kaum schlafen in der vergangenen Nacht, deshalb dachte ich, dann kann ich genausogut hierher kommen und sehen, wie es Ihnen geht. Haben Sie große Schmerzen?«

»Es geht«, sagte er. »Wenn… wenn Sie hier sind, merke ich… nichts mehr davon.«

Ihr Lächeln war so strahlend, daß er den Blick kaum abwenden konnte. Vergessen waren seine Vorsätze, sich hier in Berlin nicht in eine Kollegin zu verlieben. Was für ein dummer Vorsatz war das überhaupt gewesen? Gegen die Liebe war man doch sowieso machtlos – wie hatte er das nur vergessen können?

»Sie… hatten Angst um mich?«

Janine nickte. »Ja, große.«

»Warum?« Sein Blick ließ sie nicht los.

Ihr Lächeln war weich und zärtlich, als sie mit einer Gegenfrage antwortete: »Wissen Sie das nicht? Frau Roth hat es übrigens sofort gemerkt.«

Er konnte ihr nicht so schnell folgen. »Frau… Roth?«

Janine nickte. »Als sie uns beide das erste Mal zusammen gesehen hatte, hat sie mich gefragt, ob Sie wüßten, daß ich… daß ich in Sie verliebt bin.«

»Das wußte ich… leider nicht«, antwortete er.

»Aber jetzt wissen Sie es!« Wieder strahlte sie ihn an. »Sie hat noch etwas gesagt – später.«

»Und was?«

»Daß Sie auch in mich verliebt sind!«

»Kluge Frau, die Frau Roth«, murmelte er. »So viel Scharfblick hätte ich ihr gar nicht zugetraut.«

Sie beugte sich zu ihm, und ihre Lippen streiften, sehr zart, seine Wangen und dann seinen Mund. »Mit Frisch-Operierten muß man vorsichtig sein«, flüsterte sie. »Sie vertragen nur zarte Küsse.«

»Das stimmt«, erwiderte er sehnsüchtig, »aber dieser Zustand hält nicht lange an, glaube ich.«

Janine lachte. »Wir werden ja sehen!«

»Noch einmal«, bat er. »Noch einen… von diesen vorsichtigen Küssen, bitte. Ich glaube, ich kann… gar nicht genug davon kriegen.«

*

Adrian hatte nach Marc Weyrich sehen wollen, sehr früh an diesem Morgen, weil er wieder einmal nicht mehr hatte schlafen können. Das ging ihm oft so, wenn er sich um seine Patienten Sorgen machte. Der verletzte Wärter schlief, er hatte eine recht gute Nacht verbracht, versicherte ihm der diensthabende Arzt auf der Intensivstation.

»Und Dr. Weyrich?«

Der andere lächelte breit. »Gehen Sie nur hin und sehen Sie selbst!«

Adrian war durch dieses Lächeln vorgewarnt, und so wunderte er sich fast gar nicht, als er Janine Gerold und Marc Weyrich bei offensichtlich zärtlichem Geflüster fand. In diesem Augenblick begriff er endlich, wessen »wunderschöne Augen« sein Kollege gemeint hatte – sie waren also nicht veilchenblau, wie er selbst vorschnell angenommen hatte, sondern grün!

Er zog sich zurück, bevor sie ihn sehen konnten und beschloß, auf dem Rückweg einen kurzen Besuch bei Alida Roth zu machen.

Diese fand er hellwach vor. »Ach, Sie kommen mir gerade recht«, rief sie, als sie Adrian sah. »Herr Dr. Winter, ich habe mich gestern entschlossen, eine Entziehungskur zu machen.«

»Bravo!« sagte er lächelnd. »Und wer oder was hat Sie dazu bewogen?«

»Frau Dr. Gerold«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. »Eine großartige junge Frau – couragiert und einfühlsam. Sie hat mich davon überzeugt, daß ich zu jung bin, um schon aufzugeben.«

»Mir haben Sie das ja nicht geglaubt«, erwiderte er. »Und Herrn Dr. Weyrich auch nicht.«

»Aber jetzt glaube ich es.«

»Ich bin sehr froh darüber, Frau Roth. Sie werden das schaffen und vermutlich noch einiges auf die Beine stellen, womit jetzt noch keiner rechnet.«

»Danke für Ihr Vertrauen, Herr Doktor.«

Er blieb eine Viertelstunde bei ihr, dann ging er ins Café, um in Ruhe zu frühstücken. Als er anschließend auf die Uhr sah, fand er, daß es spät genug war, um endlich jenen Anruf zu machen, auf den er sich schon die ganze Zeit freute.

»Hotel King’s Palace, guten Morgen.«

»Dr. Winter, guten Morgen. Könnten Sie mich bitte mit Frau Wagner verbinden? Oder ist sie noch nicht im Hause?«

»O doch, sie wohnt auf Zimmer einhundertunddrei, einen Augenblick bitte, ich verbinde.«

Es klickte, und gleich darauf sagte Stefanie Wagners Stimme: »Ja?«

»Winter hier. Habe ich Sie geweckt?«

»O nein, ich bin schon lange wach – aber ich liege noch im Bett, muß ich gestehen. Der gestrige Tag war wohl doch anstrengender, als ich dachte.«

»Aber es geht Ihnen nicht schlecht?« fragte er besorgt.

»Nein, nein«, versicherte sie. »Im Gegenteil, ich fühle mich gut.«

»Falls heute nicht wieder etwas Außergewöhnliches passiert, Frau Wagner: Würden Sie mir dann die Freude machen, mit mir essen zu gehen?«

»Mit dem größten Vergnügen, Herr Winter.«

»Ich hole Sie gegen acht im Hotel ab – was halten Sie davon?«

»Das wäre wunderbar«, sagte sie leise.

Er legte auf und ging vor sich hin summend in die Notaufnahme. Er war überarbeitet und völlig erschöpft, aber er fühlte sich großartig. Konnte es etwas Schöneres geben als diesen Tag, an dem er sich darauf freuen konnte, abends Stefanie Wagner zu sehen? Er konnte sich im Augenblick jedenfalls nichts vorstellen.

Kurfürstenklinik Staffel 6 – Arztroman

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