Читать книгу Kurfürstenklinik Staffel 6 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 9

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»Es tut mir leid, Natalie«, sagte Dr. Eberhard Scholz, »aber ich kann dir nichts anderes sagen als der Röntgenologe. Du hast einen Hirntumor – genauer gesagt: ein Hämangiom. Das ist ein Tumor, der, um es vereinfacht auszudrücken, aus Blutgerinnseln besteht. Ein Hämangiom ist in der Regel schwer zu operieren.«

Die blonde junge Frau, die im Sprechzimmer des grauhaarigen Arztes saß, antwortete nicht. Man hätte glauben können, daß seine Worte gar nicht bis zu ihr durchgedrungen waren – wäre nicht dieser Ausdruck namenlosen Schreckens in ihren Augen gewesen.

»Natalie?« fragte Dr. Scholz behutsam. Er kannte Natalie Schürmann, seit sie ein Teenager gewesen war, und er mochte sie gern. Er hatte sie in eine röntgenologische Fachpraxis geschickt, weil sie ständig über Kopfschmerzen geklagt hatte – und nun lagen die Aufnahmen vor. Er hätte viel darum gegeben, wenn er ihr eine bessere Nachricht hätte überbringen können.

»Ist der Tumor bösartig?« fragte sie tonlos.

»Nein, aber ein Hämangiom kann platzen – und die Folgen sind ähnlich wie bei einem Schlaganfall«, antwortete er beherrscht. »Du solltest dich an einen Spezialisten wenden, Natalie, und mit ihm noch einmal über deine Situation reden. Vielleicht beurteilt ein anderer Arzt deine Chancen bei einer Operation besser als ich.«

Sie stand unvermittelt auf, das Gesicht starr und bleich. Jedes Leben schien daraus gewichen zu sein. »Danke, Herr Dr. Scholz«, sagte sie abwesend. »Ich möchte jetzt gern gehen, wenn wir sonst nichts zu besprechen haben.«

»Natalie«, sagte er beschwörend, »bleib noch hier, du bist ja ganz durcheinander. Rede mit mir, stell mir Fragen – ich werde versuchen, dir zu helfen, so gut ich kann.«

Zum ersten Mal, seit er ihr gesagt hatte, woran sie litt, sah sie ihm direkt in die Augen. Sie ließ ein kurzes Lachen hören – es klang so schrecklich, daß der Arzt unwillkürlich zusammenzuckte. »Helfen?« fragte sie mit heiserer Stimme. »Ich bin am Ende, mit achtundzwanzig Jahren, das haben Sie mir doch gerade eben gesagt – oder nicht? Ich kann mich operieren lassen unter größten Risiken oder ich kann warten, daß dieses Ding in meinem Kopf platzt!«

Er wollte etwas einwenden, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. Fast überstürzt sprach sie weiter. »Und ich habe eine kleine Tochter von vier Jahren, die ganz allein ist, wenn ich nicht mehr da bin. Zu ihrem Vater habe ich keinerlei Kontakt mehr, ich weiß nicht einmal, wo er sich aufhält. Was soll aus Ann Kathrin werden ohne mich – können Sie mir das mal sagen?«

»Natalie, so hör mir doch zu! Ich habe dir gesagt, was ich denke, aber das heißt doch nicht, daß eine solche Operation tatsächlich mißlingen muß! Geh zu einem Neurochirurgen, der ist der Facharzt in diesem Fall.«

»Sie behandeln mich schon mein ganzes Leben lang, und bisher hatten Sie immer Recht mit Ihren Diagnosen«, sagte sie. Jetzt klang sie verzweifelt, müde. »Warum soll ich mich damit quälen, mir diese trostlose Diagnose noch von einem anderen Arzt bestätigen zu lassen? Es ist doch so, Herr Doktor: Ich müßte schon sehr großes Glück haben, damit die Operation gelingt – oder etwa nicht?«

»Doch«, gab er niedergeschlagen zu. »Die Aussichten sind leider überhaupt nicht gut, wenn ich die Aufnahmen richtig interpretiere.«

»Na, also«, sagte sie. »Ich werde mich jetzt nicht operieren lassen und mein Leben riskieren, lieber sterbe ich später, Herr Dr. Scholz! Aber jetzt im Augenblick will ich noch für Ann Kathrin da sein, so lange es eben geht.«

Für einige Sekunden war es sehr still in dem kleinen Sprechzimmer. Schwach drang der Straßenlärm von draußen herein, aber das Geräusch wirkte, als käme es aus einer anderen Welt. Hier in diesem Raum, in diesem altmodischen Sprechzimmer, das sich in langen Jahren kaum verändert hatte bis auf die neuen Geräte, die angeschafft worden waren, schien die Zeit stehen geblieben zu sein.

»Auf Wiedersehen, Herr Doktor«, sagte Natalie schließlich und hielt ihrem alten Hausarzt die Hand hin. »Ich möchte jetzt gehen und nachdenken.«

»Wirst du mir versprechen, dich wieder an mich zu wenden, wenn du Hilfe brauchst? Oder wenn du reden möchtest? Ich bin jederzeit für dich da, Natalie, und ich möchte, daß du das nicht vergißt.«

Sie nickte wortlos und wandte sich zum Gehen.

»Willst du die Aufnahmen nicht mitnehmen?« fragte er. »Vielleicht überlegst du es dir anders, wegen des Neurochirurgen, meine ich. Dann solltest du die Aufnahmen vorlegen können.«

Sie zögerte, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. »Nein, ich lasse sie hier. Sie sind bei Ihnen am besten aufgehoben, denke ich. Auf Wiedersehen, Herr Dr. Scholz.« Nach diesen Worten und einem letzten kurzen Nicken in seine Richtung verließ sie das Sprechzimmer.

Er sah ihr lange nach, gedankenverloren, und kehrte erst in die Gegenwart zurück, als seine Sprechstundenhilfe in der Tür erschien, sich räusperte, als er auch dann nicht reagierte und ihn fragte, ob sie den nächsten Patienten zu ihm schicken könne.

*

»Wieso holst du mich heute vom Kindergarten ab, Onkel Clemens?« fragte Ann Kathrin, als sie an der Hand von Clemens Theyenthal über die Straße hüpfte. »Wo ist Mami?«

»Sie hat angerufen, daß sie sich ein bißchen verspätet, Kati. Und da dachte ich, es wäre doch nett, wenn wir beide diese Gelegenheit nutzen und vielleicht heimlich noch ein Eis essen – was hältst du davon?«

»O ja, o ja!« Die Kleine hüpfte noch schneller und strahlte über das ganze Gesicht. »Ich will nur Banane und Erdbeere. Und Pistazie!«

Clemens lachte. »Nur? Hast du wirklich ›nur‹ gesagt?«

»Ach, bitte Onkel Clemens! Es ist schon so lange her, daß ich ein Eis essen durfte.«

»Na, schön. Wenn deine Mami das erfährt, wird sie sicher mit uns schimpfen, aber ich riskiere es.«

Die Eisdiele lag auf dem Weg zu seinem Wagen. Ann Kathrin bekam ihr großes Eis, dem sie sofort mit ihrer kleinen Zunge energisch zu Leibe rückte. Vor Clemens’ erstaunten Augen wurde die Portion in Windeseile kleiner. Er selbst aß ein Schokoladeneis, das ungefähr halb so groß war wie Ann Kathrins – dennoch brauchte er viel länger, um es aufzuessen.

Clemens war ein großgewachsener Mann von fünfunddreißig Jahren mit einem sehr sympathischen Gesicht. Er sah nicht im eigentlichem Sinne gut aus, aber seine Züge waren angenehm, die Augen freundlich und klug, der Mund sensibel. Seine dunklen Haare waren dicht und wellig, und seine braunen Augen hatten einen leichten Stich ins Grünliche. Sie gaben seinem Gesicht das ›gewisse Etwas‹, von dem sich viele Frauen angezogen fühlten. Er besaß eine kleine Werbeagentur, die sich innerhalb weniger Jahre einen ausgezeichneten Namen gemacht hatte.

Im Wagen plauderte die Kleine vergnügt vor sich hin, erzählte ihm von den großen und kleinen Ereignissen im Kindergarten und schien gar nicht zu bemerken, daß seine Antworten recht einsilbig waren. Tatsächlich war Clemens mit den Gedanken bei Ann Kathrins Mutter Natalie, die ihn vorhin mit einer ganz merkwürdigen Stimme angerufen hatte, um ihn zu bitten, ihre Tochter vom Kindergarten abzuholen.

Das war nichts Ungewöhnliches, er holte Ann Kathrin öfter ab – aber Natalies Stimme war ungewöhnlich gewesen. Etwas war geschehen, das spürte Clemens, doch er hatte Natalie am Telefon nicht danach fragen wollen. Sie waren gute Freunde, sicher würde sie ihm später erzählen, was passiert war.

Gute Freunde. Bei diesem Begriff blieben seine Überlegungen hängen. Er liebte Natalie, und das würde wohl für immer so bleiben, obwohl sie seine Gefühle nicht erwiderte. Seinen Heiratsantrag hatte sie jedenfalls abgelehnt. Manchmal träumte er noch von einer gemeinsamen Zukunft, doch in Wirklichkeit wußte er längst, daß sie in ihm für immer den »besten Freund« sehen würde. Sie hatte Vertrauen zu ihm, sie mochte ihn, sie war gern mit ihm zusammen – aber sie liebte ihn nun einmal nicht.

»Onkel Clemens?«

»Ja, Kati?«

»Warum hast du eben so das Gesicht verzogen?«

Verflixt, er mußte besser aufpassen. Die Kleine war pfiffig und hatte eine sehr gute Beobachtungsgabe. Er lächelte ihr zu. Sie sah Natalie sehr ähnlich mit ihren blonden Locken und den großen blauen Augen. »Ich hab’ an etwas Trauriges gedacht«, gestand er, und das war schließlich die reine Wahrheit.

»An was denn?«

»Das ist mein Geheimnis«, antwortete er ernst. »Deshalb kann ich dir das leider nicht verraten. Außerdem sind wir schon da.«

Sie hatten das Sportstudio erreicht, das Natalie leitete. Sie hatte sich gegen die große örtliche Konkurrenz durchgesetzt und ein Studio nur für Frauen aufgemacht. Es war ein durchschlagender Erfolg, der aber auch damit zusammenhing, daß Natalie Sportlehrerin war und sich um jede einzelne Frau kümmerte, die zu ihr ins Studio zum Trainieren kam. Außerdem stellte sie nur Fachkräfte ein, und das hatte sich im Laufe der Zeit herumgesprochen.

Clemens schloß das Auto ab und wollte gerade mit Ann Kathrin in das Gebäude gehen, als sie Natalie rufen hörten: »Clemens, Ann Kathrin.« Sie kam aus der anderen Richtung, hatte das Sportstudio also offensichtlich schon vorher verlassen.

»Mami!« rief die Kleine und stürzte dann in die Arme ihrer Mutter.

Clemens folgte ihr langsamer. »Bist du doch früher fertig geworden?« fragte er, nachdem er Natalie begrüßt hatte.

»Ich muß mit dir reden, Clemens – in Ruhe«, sagte sie statt einer Antwort. »Können wir uns heute Abend treffen?«

»Sicher«, sagte er, mittlerweile höchst beunruhigt. Er hatte schon vorher geahnt, daß etwas passiert sein mußte – jetzt wußte er es sicher. Natalie sah aus wie der Tod. »Sollen wir zusammen essen gehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bekomme heute keinen Babysitter mehr, und ich würde ohnehin lieber zu Hause bleiben. Komm zu mir, ich koche eine Kleinigkeit. Gegen acht? Dann schläft Kati schon.«

»Ich will nicht schlafen, wenn Onkel Clemens kommt!« maulte Ann Kathrin. »Immer schickt ihr mich ins Bett!«

»Nicht immer, aber heute«, erwiderte Natalie, und sie sagte es in einem so bestimmten Ton, daß ihre Tochter kein weiteres Wort des Widerspruchs mehr wagte. »Bis nachher, Clemens. Danke, daß du Kati abgeholt hast.«

»Keine Ursache, hab’ ich gern gemacht, das weißt du doch. Bis nachher.« Er sah den beiden nach, wie sie über den Parkplatz zu Natalies Wagen gingen. Furcht kroch in ihm hoch, es mußte etwas Schreckliches passiert sein, wenn Natalie so verändert war. Wie sollte er die Ungewißheit nur bis acht Uhr aushalten?

Er stieg wieder in seinen Wagen, legte eine Kassette mit Jazzmusik ein und versuchte, sich von den vertrauten Melodien aus dem Hier und Jetzt wegtragen zu lassen, was ihm nach einiger Zeit auch gelang.

*

»Also, was wolltest du von mir?« erkundigte sich Dr. Adrian Winter bei Thomas Laufenberg, dem Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg, als er dessen Büro betrat. Adrian war der jüngste Chefarzt der Klinik, er leitete deren Notaufnahme, die eine der größten des Landes war – und zugleich eine der berühmtesten, was nicht zuletzt an Adrians Arbeit lag.

Mit Thomas Laufenberg hatte er sich nach anfänglichen Reibereien angefreundet und zwar ganz unabhängig davon, daß Thomas vermutlich sein Schwager werden würde. Adrians Zwillingsschwester Esther hatte sich in den charmanten Verwaltungsdirektor verliebt, der in seiner Freizeit gelegentlich als Jazzpianist in ausgesuchten Berliner Lokalen auftrat.

»Es geht um diesen Arzt aus den USA«, erwiderte Thomas. »Du weißt schon, Dr. Bacharach, den Neurochirurgen, der kürzlich diesen aufsehenerregenden Artikel veröffentlicht hat, über den jetzt so viel diskutiert wird.«

»Ich habe den Artikel gelesen«, erwiderte Adrian. »Sehr interessant, was der Mann schreibt – ich würde ihm gern einmal bei einer Operation über die Schultern sehen. In manchem sind uns die Amerikaner einfach immer noch voraus. Ich finde zwar unser Gesundheitswesen deutlich besser als das amerikanische, wo arme Leute häufig durch das Raster fallen und sich eine vernünftige Behandlung finanziell nicht leisten können – aber was die medizinische Forschung betrifft, da können wir zumindest auf einigen Gebieten von ihnen noch viel lernen.«

»Ich habe Kontakt zu Dr. Bacharach aufgenommen«, warf Thomas ein.

»Was sagst du da?« rief Adrian verblüfft. »Und das erzählst du so lässig?«

»Ich weiß mittlerweile, wie ich es anstellen muß, um dich zu beeindrucken.« Thomas lächelte. »Hätte ich gesagt: ›hör mal, ich muß dir was Sensationelles erzählen‹, hättest du vielleicht noch was Tolleres erwartet und wärst enttäuscht gewesen.«

»Sag schon – wieso hast du Kontakt mit ihm aufgenommen?« drängte Adrian.

»Ich hatte gehört, daß er nach Berlin kommt, um hier einen Vortrag zu halten«, begann Thomas. »Und da habe ich ihn angeschrieben, ganz nebenbei erwähnt, was für ein tolles Krankenhaus wir hier sind und ihn gefragt, ob er bereit wäre, mit ein paar unserer Chirurgen an einem Abend für ein paar Stunden zu diskutieren – über seine neue Operationstechnik, seine Erfahrungen und so weiter.«

»Und?« fragte Adrian gespannt. »Hat er geantwortet?«

»Nicht nur das.« Jetzt klang Thomas’ Stimme triumphierend. »Er hat sogar zugesagt! Wie findest du das?«

»Ich bin platt!« gestand Adrian. »Gute Idee von dir, Thomas.«

»Ja, nicht?« Thomas lächelte zufrieden. »Ich finde mich auch nicht schlecht, muß ich sagen.«

»Wann kommt der Mann denn?«

»Irgendwann in den nächsten Wochen, das steht alles noch nicht fest, aber ich wollte es dir vorab schon einmal sagen, damit du dich innerlich auf diese Begegnung einrichtest.«

»Aber ich bin kein Neurochirurg«, gab Adrian zu bedenken. »Wäre es nicht besser, ihn nur mit Kollegen der gleichen Fachrichtung diskutieren zu lassen?«

Jetzt grinste Thomas über das ganze Gesicht. »Das Allerbeste habe ich mir natürlich für den Schluß aufgehoben. Du wirst es nicht glauben, Adrian, aber Dr. Bacharach hat ausdrücklich darum gebeten, dich kennenzulernen. Er hat deine Artikel zur Notfallchirurgie gelesen und wünscht sich nichts sehnlicher als einen fachlichen Gedankenaustausch mit dir. Ich glaube, wenn ich deinen Namen nicht in meinen Brief eingeflochten hätte, wäre er meiner Bitte vielleicht nicht so bereitwillig nachgekommen.«

»Du übertreibst«, wehrte Adrian leicht verlegen ab.

»Nein, das tue ich nicht!« Thomas war jetzt ganz ernst. »Manchmal denke ich, du weißt gar nicht, wie bekannt du bist!«

»Hör auf!« rief Adrian. »Willst du mich eingebildet machen?«

»Ach, ich denke, diese Gefahr besteht nicht«, meinte Thomas.

»Kann ich mit den anderen darüber reden oder soll das noch geheim bleiben?«

»Mit Julia Martensen und Bernd Schäfer kannst du reden – sie müssen es ja noch nicht überall verbreiten. Ich will lieber erst einen festen Termin mit Dr. Bacharach haben, bevor ich offiziell darüber rede, verstehst du?«

Adrian nickte und ging zur Tür. »Danke, daß du’s mir jetzt schon verraten hast – das war eine wirklich nette Überraschung. Sie wird mir den Abend versüßen.«

»Das war der Sinn der Sache! Gehst du jetzt nach Hause?«

»Zum Glück, ja. Frau Senftleben hat mich zum Essen eingeladen...«

»... wie so oft«, meinte Thomas. »Deine Nachbarin ist wirklich besser als ein Sechser im Lotto, scheint mir.«

»Ganz sicher ist sie das. Ich werde ihr berichten, daß du das so einschätzt, es wird sie freuen.« Mit diesen Worten zog Adrian die Tür endgültig hinter sich zu und lief vergnügt pfeifend zum Ausgang.

*

»Also, Natalie«, sagte Clemens, »was ist los? Bitte, spann mich nicht länger auf die Folter!«

Sie hatte lange überlegt, ob sie ihm die ganze Wahrheit sagen sollte. Es wäre so einfach gewesen, sie ihm zu verschweigen – sie mußte ihm nur sagen, daß sie nun doch bereit war, ihn zu heiraten. Das »Warum« spielte ja eigentlich auch gar keine Rolle. Aber er hatte Ehrlichkeit und Respekt verdient. Sie konnte ihm jetzt keine Gefühle vorspielen, die sie nicht hatte, nur damit sie ihr Ziel erreichte. Sie mußte ihm die Wahrheit sagen, alles, was sie wußte. Nun, fast alles. Und ihn dann um seine Hilfe bitten. Er würde sie ihr nicht versagen.

»Iß!« bat sie. »Ich rede ja gleich, es ist nur so schwierig, einen Anfang zu finden.«

Er tat ihr den Gefallen und begann zu essen, obwohl die Aufregung und die Angst vor dem, was da folgen mochte, ihm die Kehle zuschnürten und ihm jeglichen Appetit genommen hatten.

Endlich sagte Natalie: »Ich habe einen Hirntumor, Clemens. Genauer gesagt: ein Hämangiom.«

Er ließ die Gabel sinken, ihm wurde schwindelig. In ihrem Gesicht suchte er nach einem Anhaltspunkt für einen Trost, doch er fand keinen. Ihre Augen waren dunkler als sonst, ihre Züge starr, verkrampft.

»So ein Tumor ist schwer zu operieren – das heißt, wenn ich mich in die Hände eines Chirurgen begebe, riskiere ich bleibende Schäden. Die Gefahr, das Hirn zu verletzen, ist außerordentlich groß.«

Er legte das Besteck endgültig zur Seite, denn natürlich war nach dieser Neuigkeit an Essen nicht mehr zu denken. Er stand auf und ging neben Natalies Stuhl in die Hocke. Mit beiden Armen umschlang er sie und sagte hilflos: »Wenn ich wüßte, was ich für dich tun kann, dann würde ich es tun.«

Für einen Augenblick wurde ihr Körper weich und nachgiebig. Sie schmiegte sich in seine Arme, und es sah so aus, als werde ihr Schutzpanzer brechen, als werde sie endlich ihren Tränen freien Lauf lassen und sich ihren Kummer von der Seele weinen – doch der Augenblick ging vorüber. Sie versteifte sich wieder, löste sich von ihm und sagte sachlich: »Du kannst etwas für mich tun. Deshalb habe ich dich heute eingeladen. Ich möchte dich um etwas bitten.«

Er stand auf, blieb noch einige Sekunden unschlüssig neben ihr stehen, aber ihr Gesicht war wieder so starr, daß er keine zweite Umarmung wagte. Also setzte er sich wieder ihr gegenüber und sah sie fragend an.

»Heirate mich, Clemens«, bat sie. »Heirate mich, damit ich sicher sein kann, daß Kati in guten Händen ist, wenn ich... wenn ich nicht mehr da bin.«

Er schluckte. Mit allem hatte er gerechnet, nur damit nicht. Wie oft hatte er schon davon geträumt, daß Natalie eines Tages doch bereit sein würde, ihn zu heiraten – und nun war sogar sie es, die ihn darum bat. Aber es war keine Liebe zu ihm, die sie zu diesem Schritt getrieben hatte, sondern Liebe zu ihrem Kind.

Und viel schlimmer noch als das: Sie war krank. Sehr, sehr krank. Der Gedanke, sie vielleicht bald zu verlieren, brach ihm fast das Herz. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, und ihm wurde übel. Er mußte sich zwingen, langsam und bewußt zu atmen, um seinen revoltierenden Magen zu beruhigen. Ganz allmählich nur ebbte die Übelkeit ab.

»Ist das sicher, daß der Tumor nicht operabel ist?« fragte er. »Wie viele ärztliche Meinungen hast du dazu gehört?«

»Zwei«, antwortete sie. »Die der Ärzte aus der Röntgenpraxis und die meines Hausarztes. Er ist operabel, Clemens – aber das Risiko ist sehr hoch. Ich kann dieses Risiko nicht eingehen. Jedenfalls jetzt nicht.«

»Was soll das heißen: Jetzt nicht?« fragte er. »Es wäre doch sicher besser, sich so schnell wie möglich operieren zu lassen und das nicht hinauszuschieben, selbst wenn es ein Risiko ist. Immerhin hast du dann eine Chance!«

Sie hatte ihr Gesicht abgewandt, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. »Ich bin noch nicht so weit«, erklärte sie hastig. »Und was soll Kati mit einer Mutter, die vielleicht nicht mehr richtig denken kann? Oder die eine andere schwere Behinderung davonträgt, die ich mir gar nicht ausmalen möchte? Bitte, Clemens, laß mich jetzt nicht im Stich. Ich weiß keinen Menschen, zu dem ich mehr Vertrauen habe als zu dir. Ich weiß, daß ich viel von dir verlange, aber ich schwöre dir, daß ich sonst keinerlei Ansprüche an dich stellen werde.«

»Hör auf«, bat er und legte seine Hand auf ihren Arm. »Hör auf, Natalie, es tut mir weh, wenn du so redest. Du weißt, daß ich dich liebe. Ich würde alles für dich tun, alles. Auch das weißt du.«

»Entschuldige.« Sie ließ den Kopf hängen und wieder bröckelte der Schutzpanzer, unter dem sie ihre Verzweiflung verbarg. Als sie den Kopf endlich hob und ihn ansah, bemerkte er, daß ihre Augen voller Tränen waren. »Es tut mir leid, Clemens«, flüsterte sie. »Ich weiß, daß du gehofft hast, eines Tages würde ich vielleicht das Gleiche für dich empfinden wie du für mich...«

Sie wischte sich mit einer hastigen Geste über die Augen. »Vielleicht... vielleicht wäre dein Wunsch ja auch in Erfüllung gegangen, es gibt wirklich niemanden außer Kati, den ich lieber habe als dich. Aber jetzt habe ich keine Zeit mehr, verstehst du? Ich muß alles regeln, bevor es zu spät ist. Wirst du mir helfen?«

Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Natürlich werde ich das«, sagte er und schaffte es irgendwie, seine Stimme fast heiter klingen zu lassen. »Hör mal, es ist, wie du sagst: Ich wollte dich immer schon heiraten. Du glaubst doch nicht, daß ich mir diese Gelegenheit entgehen lasse!«

Sie lächelte unter Tränen, dankbar für seinen Takt. »Das vergesse ich dir nie.«

Er drückte ihre Hand. »Wirst du es Kati sagen? Daß du krank bist, meine ich?«

»Irgendwann schon, aber nicht sofort. Wenn ich mich ein wenig beruhigt habe, werde ich noch einmal mit Dr. Scholz reden. Aber davon unabhängig möchte ich so schnell wie möglich heiraten, Clemens. Erst dann werde ich mich besser fühlen.«

»Natürlich«, sagte er. »Ich kümmere mich um alles, überlaß das mir. Nur deine Papiere brauche ich.«

»Wie lange wird das dauern?« fragte sie ängstlich.

»Ich sehe zu, ob ich die Dinge nicht ein wenig beschleunigen kann«, antwortete er. »Denn ich nehme ja an, du möchtest nicht mit mir in eins dieser Heiratsparadiese fahren, wo sie im Viertelstundentakt die Paare trauen?«

»Nein, das nun doch nicht«, sagte sie. »Es soll zwar bald sein, aber ich möchte trotz allem eine richtige Hochzeit haben – es wird schließlich die einzige meines Lebens sein.«

Er wußte, daß sie den Vater ihrer Tochter nicht geheiratet hatte, weil schon zum Zeitpunkt der Geburt deutlich geworden war, wie wenig sie zueinander paßten. Bald danach hatten sie sich dann auch getrennt, und Natalie hatte das alleinige Sorgerecht für Ann Kathrin erhalten.

»Willst du nicht doch noch etwas essen?« fragte sie zaghaft.

»Kein Appetit«, murmelte er. »Tut mir leid, aber das ist mir auf den Magen geschlagen. Ich kann nicht glauben, daß es für dich keine Hoffnung gibt, Natalie.«

»Vielleicht ändere ich meine Meinung später«, meinte sie. »Es kann ja sein, daß man dann plötzlich doch so sehr am Leben hängt, daß man selbst eine riskante Operation durchführen läßt – aber im Augenblick ist mein Gefühl eher: Nein, ich lasse mich nicht operieren. Wenn ich so krank bin, daß ich sterben muß, dann sterbe ich – aber vielleicht geschieht ja auch ein Wunder.«

»Was passiert denn, wenn du dich nicht operieren läßt?« fragte er. »Wächst der Tumor und du bekommst andere Beschwerden?«

»Das Hämangiom kann platzen«, erklärte sie müde. »Dann kann ich gelähmt sein – du mußt es dir vorstellen wie bei einem Schlaganfall. Aber das muß nicht bald passieren. Vielleicht bleibt mein Zustand noch eine Weile so, wie er jetzt ist. Wenn ich mich aber operieren lasse, dann weiß ich nicht, in welchem Zustand ich bin, wenn ich aufwache. Dann kann sofort alles vorbei sein, verstehst du?«

»Aber du kannst doch nicht mit einer solchen Zeitbombe im Körper leben. Das hält kein Mensch aus!«

»Ich werde es aushalten«, erklärte sie eigensinnig.

»Aber ich nicht. Ich will dich nicht verlieren, Natalie«, sagte er verstört. Jetzt erst sickerte die volle Bedeutung ihrer Eröffnung in sein Bewußtsein: Natalie würde vielleicht sterben, sehr viel früher sterben als er – Natalie, die für ihn die Frau seines Lebens war. Keine andere Frau hatte ihn mehr interessiert, seit er sie kannte.

Sie legte beide Hände vor ihr Gesicht und fing endlich an zu weinen, ihre Kraft war zu Ende. Er ging zu ihr, setzte sich neben sie und zog sie in seine Arme. Sie klammerte sich wie ein Kind an ihn und schluchzte, während er Mühe hatte, die eigenen Tränen zurückzuhalten.

*

»Haben Sie eigentlich nie daran gedacht, ein Restaurant aufzumachen, Frau Senftleben?« fragte Adrian, als er nach dem Essen mit seiner Nachbarin noch ein Glas Wein trank. »Ich bin sicher, Sie würden ein paar von diesen Sternen verliehen bekommen, hinter denen alle berühmten Köche so her sind.«

Sie lachte vergnügt und strich sich die grauen Haare aus der Stirn. Carola Senftleben war sechsundsechzig Jahre alt – aber nur auf dem Papier. In ihrem Herzen war sie keinen Tag älter als fünfundzwanzig, und das war es auch, was Adrian an ihr faszinierte, unabhängig von ihren Kochkünsten: Sie war ein Mensch, der sich die Neugier auf das Leben bewahrt hatte. Er liebte es, sich mit ihr zu unterhalten, weil sie vielseitig interessiert und sehr belesen war.

»Ich koche, weil es mir Spaß macht«, erklärte sie nun. »Und seit ich Sie kenne, Adrian, macht es mir noch viel mehr Spaß, weil Sie so ein dankbarer Gast sind. Mit einem Restaurant wird Kochen Arbeit, und dann wäre der Spaß sofort vorbei.«

»Ja, das ist ein Argument«, gab Adrian zu. »Im übrigen bin ich ja sehr froh, daß es so ist, wie es ist. Ich profitiere schließlich ständig davon.« Sie stießen miteinander an, dann fragte Adrian: »Habe ich Ihnen schon erzählt, daß wir in einigen Wochen einen hochberühmten amerikanischen Hirnspezialisten hier erwarten? Er heißt Bacharach, der Name wird Ihnen nichts sagen.«

»Aber natürlich sagt er mir etwas!« widersprach sie lebhaft. »Ich verfolge doch die Medizin- und Wissenschaftsseiten in meiner Zeitung sehr aufmerksam – übrigens nicht erst, seit ich Sie kenne, Adrian!«

Er beugte sich vor. »Und Sie haben von diesem Mann tatsächlich schon gehört?« fragte er.

Sie nickte. »Ja, er hat ein neues Verfahren entwickelt, das er bei seinen Operationen anwendet, nicht wahr? Es handelt sich um eine weitere Verfeinerung der heute ohnehin schon sehr weit fortgeschrittenen Technik.«

Adrian nickte beeindruckt. »Sie sind ja wirklich rundum informiert, Frau Senftleben. Jedenfalls kommt der Mann auch an unsere Klinik und diskutiert mit einigen von uns über dieses neue Verfahren. Sie können sich vorstellen, wie interessant das für uns ist.«

»Das müssen Sie mir dann genauestens berichten«, bat sie. »Wann wird er denn kommen?«

»In einigen Wochen, genauer weiß ich es nicht. Er hält in Deutschland mehrere Vorträge. In Berlin wird er sich am längsten aufhalten, zum Glück. Sonst hätte er sicher gar keine Zeit erübrigen können, um seine Erfahrungen mit uns zu diskutieren.«

»Dann trinken wir jetzt auf alle Pioniere der Medizin«, sagte Frau Senftleben, hob ihr Glas und stieß ein letztes Mal mit Adrian an.

Er trank seinen Wein aus und verabschiedete sich bald darauf von ihr. Sein Dienst am nächsten Morgen begann sehr früh, er mußte zeitig ins Bett, um ausgeruht zu sein.

*

An einem sonnigen Tag einige Wochen später war die kleine Dorfkirche in der Nähe von Berlin berstend voll. Das lag weniger an den geladenen Hochzeitsgästen – deren Zahl war durchaus überschaubar – als an den Neugierigen aus dem Ort, die sich einen Blick auf das Berliner Brautpaar nicht entgehen lassen wollten, das ausgerechnet hierher gekommen war, um sich das Ja-Wort zu geben.

»Sieh mal, ihr Kleid«, tuschelte eine Sechzehnjährige ihrer Freundin zu. »Ganz aus Spitze. Und wie schön sie ist. Vielleicht ist sie eine Schauspielerin. Oder eine Prinzessin. Jedenfalls muß sie ziemlich reich sein. So möchte ich auch mal aussehen, wenn ich heirate.«

»Sie ist keine Schauspielerin, dann hätten wir sie doch schon mal gesehen«, flüsterte die Freundin zurück. »Ich hab’ gehört, sie macht was mit Sport. Deshalb hat sie wahrscheinlich so ’ne gute Figur.«

»Der Mann ist auch nicht schlecht – hast du seine Augen gesehen? Braun mit grün.«

»Aber sie haben schon ein Kind. Die Kleine, die Blumen streut, soll ihre Tochter sein.«

»Na, und?«

»Ich finde, sie hätten vorher heiraten können.«

»Sei doch nicht so spießig!«

»Was hat das denn mit spießig zu tun?«

»Na ja, so reden unsere Eltern und Großeltern. Ist doch egal, ob sie erst das Kind gekriegt haben und jetzt heiraten – oder ob sie es umgekehrt machen. Wen stört das schon?«

Ihre Freundin schwieg verunsichert. Spießig wollte sie nicht sein.

So, wie die beiden Freundinnen, raunten sich viele in der Kirche Beobachtungen und Meinungen zu. In einem freilich waren sie sich einig: Die blonde junge Braut war zwar sehr blaß, vermutlich vor Aufregung, aber wunderschön. Und ihr Bräutigam war ganz verrückt vor lauter Liebe zu ihr, das war unübersehbar. Immer wieder wandte er den Kopf, um sie anzusehen und ihr zuzulächeln.

Das kleine Mädchen, das Blumen streute, war so niedlich, daß es ebenfalls die Blicke der Neugierigen immer wieder auf sich zog. Es folgte der feierlichen Zeremonie aufmerksam, die großen blauen Augen ernsthaft auf seine Eltern gerichtet. Das war im übrigen die Frage, die alle Anwesenden am meisten interessierte: War die Kleine wirklich die Tochter des Brautpaars – und wenn ja: Warum heirateten die Eltern dann erst jetzt? In Berlin wäre man über so etwas vielleicht achselzuckend hinweggegangen – so war sie eben, die neue Zeit. Aber hier, auf dem Dorf, erregte diese Frage die Gemüter. Eine Antwort darauf gab es jedoch nicht.

»Willst du, Natalie Schürmann, den anwesenden Clemens Theyenthal zu deinem Ehemann nehmen und ihn lieben und ehren, bis daß der Tod euch scheidet?«

Nach dieser Frage wurde es still in der kleinen Kirche, denn die Antwort der Braut ließ auf sich warten. Statt dessen senkte sie den Kopf und fing an zu schluchzen. Liebevoll legte ihr Bräutigam einen Arm um sie, sagte ihr sehr leise etwas ins Ohr.

Schließlich hob sie den Kopf.

Alle Anwesenden hielten den Atem an. Gab es am Ende doch noch eine Sensation? Eine ungeheure Überraschung, die dem Dorf noch wochenlang Gesprächsstoff liefern würde? Es war jetzt so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Noch einmal schluchzte die Braut – und dann erklang ihr leises, aber doch deutlich ausgesprochenes: »Ja«.

Die Spannung verebbte. Also doch eine ganz normale Hochzeit. Die Braut war eben ein wenig übernervös gewesen, das gab es öfter. Sicherlich hatte sie Angst vor dem Unbekannten, das vor ihr lag.

Die Zeremonie ging vorüber, die Orgel brauste, und der kleine Hochzeitszug setzte sich in Bewegung, um die Kirche wieder zu verlassen. Draußen wurde das Brautpaar umarmt und geküßt, das niedliche kleine Mädchen hüpfte aufgeregt umher, und die schöne Braut hatte noch immer Tränen in den Augen.

Zur größten Enttäuschung der Dorfbewohner blieb die Hochzeitsgesellschaft nicht, sondern fuhr direkt nach der kirchlichen Trauung wieder ab, einem unbekannten Ziel entgegen.

*

Adrian lag auf dem Sofa und sah fern. Das tat er selten, aber an diesem trüben Sonntag Nachmittag fand er, daß ein alter »Sandalenfilm« genau das Richtige für ihn war. Er hatte ein wenig zu spät eingeschaltet, das schadete jedoch nichts, er konnte der Handlung, die zur Zeit des römischen Kaisers Nero spielte, trotzdem mühelos folgen: Männer in Lendenschurz und Sandalen kämpften miteinander um die Gunst einer schönen Frau.

Auf das Klingeln des Telefons reagierte er ausgesprochen unwillig. Gerade war es so gemütlich, da mußte ihn schon wieder jemand stören! Er knurrte seinen Namen ins Telefon, um niemanden zu einem langen Gespräch zu verleiten und zuckte zusammen, als die verlegene Stimme eines alten Bekannten sagte: »Ich höre schon, ich störe Sie, Herr Winter. Hier ist Scholz, Eberhard Scholz.«

Mit einem Satz war Adrian bei seiner Fernbedienung und schaltete den Apparat aus. »Herr Scholz, ich freue mich, wieder einmal von Ihnen zu hören«, sagte er aufrichtig. »Es stimmt, ich hatte es mir gerade vor einem alten Film gemütlich gemacht, aber lieber rede ich mit Ihnen.«

»Das glaube ich nicht, wenn Sie erst einmal hören, worum es geht«, entgegnete der andere. »Haben Sie nicht Lust, mit mir eine Tasse Kaffee trinken zu gehen? Ich fände es schön, wenn wir uns bei unserem Gespräch Auge in Auge gegenüber säßen.«

»Sie machen mich richtig neugierig, Herr Scholz«, sagte Adrian lächelnd. »Ich habe gegen Kaffee nichts einzuwenden. Schlagen Sie vor, wohin wir gehen sollen.«

Das tat sein älterer Kollege, und zehn Minuten später machte sich Adrian bereits zu Fuß auf den Weg. Ein bißchen Bewegung und ein Gespräch mit einem Kollegen, den er in seiner Anfangszeit in Berlin kennen- und schätzengelernt hatte, waren allemal besser als der schönste Sandalenfilm!

Eberhard Scholz war vor ihm in dem Café, in dem sie sich verabredet hatten. Adrian erkannte ihn sofort, obwohl es Jahre her war, daß sie einander zuletzt gesehen hatten. Ihre Begrüßung war sehr herzlich, dann setzte sich Adrian dem anderen gegenüber, der ihn aufmerksam betrachtete. »Sie haben sich nicht sehr verändert, Herr Winter«, stellte er schließlich fest, als er seine Musterung beendet hatte.

»Danke, gleichfalls«, gab Adrian zurück.

Die Bedienung kam, fragte nach ihren Wünschen, und sie gaben ihre Bestellungen auf. »Wissen Sie, daß ich mich richtig freue, Sie wiederzusehen?« fragte Adrian.

Eberhard Scholz lächelte traurig. »Ich freue mich auch, Sie zu sehen, aber ich wünschte, der Anlaß wäre ein anderer gewesen.«

»Dann erzählen Sie mal«, meinte Adrian. »Ich merke ja, daß Ihnen etwas schwer auf der Seele liegt.«

Der Ältere nickte und suchte eine Weile nach Worten. Adrian drängte ihn nicht, und schließlich begann Eberhard Scholz zu sprechen. »Ich habe eine Patientin, die ich schon lange kenne. Sie ist jetzt achtundzwanzig, und ich habe sie zum ersten Mal in meiner Sprechstunde gehabt, da muß sie ungefähr zwölf oder dreizehn gewesen sein. Jetzt ist bei ihr ein Hirntumor festgestellt worden – ein Hämangiom, schwer operabel, wenn ich das richtig einschätze.«

Er machte eine Pause, und wieder wartete Adrian geduldig, bis der andere fortfuhr: »Ich habe sie gebeten, zu einem Neurochirurgen zu gehen – sie hat bisher nur meine Ansicht und die der Röntgenologen gehört. Aber sie will nicht. Sie ist fest entschlossen, sich nicht operieren zu lassen und zu riskieren, daß die Operation fehlschlägt. Ich glaube, ihre Haltung hat viel mit ihrer kleinen Tochter zu tun, die sie bisher allein erzogen hat.«

»Sie meinen, sie hat Angst, nach der Operation nicht mehr für das Kind da sein zu können?«

»Ja, das glaube ich. Und jetzt hat sie völlig überraschend geheiratet. Die Gründe dafür kann ich nur erahnen.« Er sah Adrian an. »Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich Ihnen das alles erzähle.«

»Ich nehme an, weil Sie davon gehört haben, daß Dr. Bacharach uns einen Besuch abstatten wird.«

»Richtig, Herr Winter. Vielleicht interessiert ihn ein solcher Fall – und er ist bereit, eine Prognose zu erstellen.«

»Und Sie meinen, davon würde sich Ihre Patientin umstimmen lassen?« fragte Adrian.

»Ich weiß es nicht«, sagte Dr. Scholz müde. »Ich weiß es wirklich nicht. Mir fällt nur nichts mehr ein, was ich tun könnte, um der jungen Frau zu helfen. Mir scheint es falsch zu sein, einfach abzuwarten und gar nichts zu tun. Hämangiome sind tückisch, wie wir wissen. Vielleicht hätte ich ihr nicht so deutlich sagen sollen, daß ich die Aussichten für eine Operation in ihrem Falle nicht für allzu gut halte. Aber was hätte ich tun sollen? Es ist die Wahrheit.«

»Dr. Bacharach trifft heute in Berlin ein, so viel ich weiß«, sagte Adrian nachdenklich. »In der kommenden Woche wird er bei uns in der Klinik sein. Wenn Sie mir die nötigen Informationen geben, trage ich den Fall bei unserer Diskussion gerne vor.«

Als habe er nur auf diese Worte gewartet, legte Eberhard Scholz einen großen Umschlag auf den Tisch. »Das sind die Röntgenaufnahmen und sämtliche medizinischen Berichte«, sagte er.

»Ich werde natürlich alles anonym vortragen«, versprach Adrian. »Aber sollte sich Dr. Bacharach für den Fall interessieren – wird Ihre Patientin einwilligen, sich von ihm untersuchen zu lassen? Werden wir ihre Anonymität dann aufdecken dürfen?«

»Ich bezweifle das, Herr Winter, aber hoffentlich irre ich mich! Ich bin Ihnen auf jeden Fall zu großem Dank verpflichtet.«

»Nein, das sind Sie nicht – das würde jeder an meiner Stelle tun. Es ist ein interessanter Fall, und vielleicht lernen wir außerdem noch alle etwas dabei.« Adrian legte den Umschlag beiseite und fragte ernst: »Aber wie helfen wir Ihrer Patientin? Es ist ja nicht damit getan, daß ein paar Spezialisten ihren Fall diskutieren, sondern sie muß bereit sein, sich helfen zu lassen.«

»Wenn sie Hoffnung hätte, würde sie sich sicher helfen lassen, sie hängt am Leben. Aber ihr ist das Risiko zu groß.«

»Aber wenn sie ohne Operation ein Leben in ständiger Angst führen muß«, rief Adrian, »das kann doch keine Lösung sein! Ein Hämangiom kann jederzeit platzen, das weiß sie doch sicher. Und wenn es geplatzt ist, kann sie auch nicht mehr für ihre kleine Tochter da sein.«

»Ich kann mich natürlich täuschen«, meinte Dr. Scholz nachdenklich, »aber mir scheint, sie hat einen ganz bestimmten Grund, sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht operieren zu lassen. Und wieder glaube ich, daß das Kind die Antwort ist.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Adrian aufmerksam.

»Wie gesagt, es ist nur eine Vermutung, aber mir kommt es so vor, als warte sie auf etwas. Eine Entscheidung, eine Nachricht – eine Diagnose vielleicht auch. Die Kleine war in den ersten Jahren oft kränklich.«

»Mhm. Aber nehmen wir einmal an, Sie haben Recht, Herr Scholz – dann hätte ihre Patientin vielleicht einen guten Grund, sich jetzt keiner Operation zu unterziehen und wäre noch schwerer vom Gegenteil zu überzeugen.«

»Möglich«, gab der andere zu, »aber das sind ja nur meine Theorien. Es ist denkbar, daß nichts davon zutrifft.«

»Und wie schätzen Sie den augenblicklichen Zustand Ihrer Patientin ein?«

Der andere senkte den Kopf. »Sie war schon lange nicht mehr bei mir. Ich weiß nicht, ob sie das Vertrauen zu mir verloren hat – oder ob sie einfach denkt, es lohnt sich jetzt sowieso nicht mehr. Ich habe sie allerdings angerufen und ihr eine Nachricht hinterlassen, daß ich mit ihr sprechen möchte. Ich will es wenigstens noch einmal versuchen, sie zu einem Besuch bei einem Spezialisten zu überreden.«

»Ich rede mit Dr. Bacharach, sobald ich kann«, versprach Adrian.

Ihr Gespräch wandte sich kurzfristig anderen Themen zu, doch immer wieder kehrten sie zu Dr. Scholz’ Patientin zurück. Als Sie schließlich auseinander gingen, drückte der Ältere dem Jüngeren lange und fest die Hand. »Danke«, sagte er, drehte sich um und entfernte sich eilig.

Adrian ging sehr langsam nach Hause, während er sich alles, was er über diesen Fall erfahren hatte, noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Was würde ich in einer solchen Situation tun? fragte er sich. Würde ich in eine riskante Operation einwilligen – oder würde ich darauf hoffen, daß ich noch ein paar gute Jahre haben würde, in denen der Tumor sich nicht rührt und mich in Ruhe läßt?

Er kam zu dem Ergebnis, daß er diese Frage nicht beantworten konnte. Man mußte wohl selbst in einer solchen Situation sein, um sich eine aufrichtige Antwort geben zu können.

*

»Frau Wagner? Könnten Sie bitte kommen? Herr Dr. Bacharach ist eingetroffen.«

»Ich bin sofort unten«, sagte Stefanie Wagner und sprang auf. Nach einem raschen Blick in den Spiegel, bei dem sie sich davon überzeugte, daß ihr dezentes

Make-up tadellos war und ihre blonden Locken keinen Kamm brauchten, verließ sie ihr Büro und eilte zum Aufzug, um in die Lobby des Hotels King’s Palace hinunter zu fahren. Stefanie war die Assistentin des Hoteldirektors Andreas Wingensiefen, der es sich normalerweise nicht nehmen ließ, wichtige Gäste selbst zu begrüßen. Doch in dieser Woche war er erkrankt, und so mußte Stefanie für ihn einspringen.

Im Haus sah ohnehin jeder in ihr die Chefin und nicht in Andreas Wingensiefen – denn Stefanie war es, die hart arbeitete und bei Schwierigkeiten immer zur Stelle war, während der Direktor gern repräsentierte, die unangenehmen Kleinigkeiten aber lieber seiner Assistentin überließ. Stefanie übernahm solche Arbeiten klaglos, und gerade deshalb war sie bei sämtlichen Hotelangestellten äußerst beliebt. Wenn »jemand den Laden schmiß«, wie es kürzlich ein Lehrmädchen ausgedrückt hatte, dann war es Stefanie.

Sie eilte durch die großzügige Halle, direkt auf Michael Bacharach zu. Zu ihrer Vorbereitung auf den berühmten Mediziner hatte es gehört, sich Fotos von ihm anzusehen und sich wenigstens einen oberflächlichen Überblick über seine Arbeit zu verschaffen. Sie wußte also, daß er Neurochirurg war und ein neues Verfahren zur Operation von bestimmten Hirntumoren entwickelt hatte.

Vor ihr stand ein imposanter Mann von mindestens einem Meter neunzig. Er war jünger, als sie angenommen hatte, vielleicht fünfundvierzig Jahre alt – und er war bedeutend attraktiver. Insgeheim hatte sie sich einen verknöcherten Wissenschaftler vorgestellt, aber davon hatte dieser Mann wirklich überhaupt nichts. Er war groß, breit, gut aussehend, und er hatte ein breites, wie sie fand typisch amerikanisches Lächeln, bei dem er seine blitzend weißen Zähne zeigte.

»Dr. Bacharach? Herzlich willkommen in Berlin«, sagte sie in fließendem Englisch.

Er sah freundlich und angenehm überrascht auf sie herunter. Sie war aber auch wirklich ein hinreißender Anblick in ihrem eleganten taubenblauen Kostüm, das ihre gute Figur perfekt zur Geltung brachte, mit der blonden Lockenpracht und ihren schönen Augen, deren Farbe ein wenig ins Violette spielte. »Sie können ruhig Deutsch mit mir sprechen«, sagte er mit leichtem Akzent. »Meine Mutter ist Deutsche, ich bin zweisprachig aufgewachsen.«

»Ich bin beeindruckt«, sagte sie lächelnd. »Mein Name ist Stefanie Wagner, ich vertrete unseren Direktor, in dessen Namen ich Sie herzlich hier im Haus begrüße. Herr Wingensiefen ist leider krank geworden.«

»Das tut mir leid«, erwiderte er höflich und fuhr dann fort: »Das ist ein schöner Bau.« Dazu machte er eine Handbewegung, die das ganze Hotel einzuschließen schien. »Ich war noch nie hier, aber es gefällt mir schon jetzt.«

»Und das soll auch so bleiben«, versprach sie. »Ihr Gepäck ist schon nach oben gebracht worden, nicht wahr? Darf ich Ihnen Ihre Suite zeigen?«

»Gern«, sagte er und zeigte wieder sein strahlendes Lächeln. »Wissen Sie«, er senkte vertraulich die Stimme, »ich bin fast froh, daß Ihr Direktor krank geworden ist – sonst wäre ich vielleicht gar nicht in den Genuß dieses Empfanges durch Sie gekommen?«

»Sicher nicht«, bestätigte Stefanie. »Aber wir wären uns sicher trotzdem irgendwo begegnet. Ich bin sehr häufig hier im Haus unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen.«

»Und das machen Sie garantiert hervorragend«, stellte er fest.

»Wir sind da«, sagte Stefanie, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Es passierte ihr oft, daß männliche Gäste versuchten, mit ihr zu flirten. Sie ging höflich darauf ein, soweit es im Rahmen blieb, aber sie zog immer sehr frühzeitig die Notbremse. Komplikationen dieser Art konnte sie an ihrem Arbeitsplatz nicht gebrauchen. Allerdings waren die meisten Männer nicht halb so charmant wie dieser amerikanische Arzt.

Sie ging voran zu seiner Suite. »Sie halten morgen einen Vortrag, nicht wahr?«

»Sie sind gut informiert«, bemerkte er. »Und wissen Sie auch schon, wo ich meinen Abend verbringe?«

»Nein, natürlich nicht.«

»In der Kurfürsten-Klinik«, sagte er.

Stefanie schaffte es, ihn nicht merken zu lassen, daß allein bei der Erwähnung dieses Krankenhauses ihr Herz schneller anfing zu klopfen – denn an der Kurfürsten-Klinik arbeitete Dr. Adrian Winter, jener Mann, zu dem sie sich unwiderstehlich hingezogen fühlte, obwohl er leider bisher keinerlei Annäherungsversuche gemacht hatte.

»So«, sagte sie mit betont gleichmütiger Stimme, »und was tun Sie an der Kurfürsten-Klinik?«

»Ich diskutiere dort mit einigen interessierten Kollegen mein neues Operationsverfahren«, erklärte er. »Und ich muß sagen, daß ich sehr gespannt bin. Die Kurfürsten-Klinik ist bekannt, wissen Sie? Vor allem für die Arbeit der dortigen Notaufnahme.«

Dieses Mal fiel es Stefanie schwerer, äußerlich gelassen zu bleiben. Adrian Winter leitete die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik, er würde also zweifellos zu den Ärzten gehören, mit denen Dr. Bacharach zusammentraf. Sollte Sie...? Bevor sie noch zu Ende gedacht hatte, hörte sie sich schon sagen: »Ich kenne Dr. Winter, der die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik leitet. Bitte, richten Sie ihm einen herzlichen Gruß von mir aus.«

Ein neugieriger Blick traf sie. »Sie kennen Dr. Winter, Frau Wagner? O bitte, dann müssen Sie mir einen Gefallen tun: Erzählen Sie mir ein bißchen über ihn. Ich interessiere mich nämlich sehr für seine Arbeit. Alle Artikel, die er bisher über die Notfallchirurgie veröffentlicht hat, habe ich gelesen.«

»Ich... ich kann Ihnen eigentlich nichts sagen«, erwiderte sie verlegen. Warum nur hatte sie sich nicht ganz fest auf die Zunge gebissen und ihre Bemerkung hinuntergeschluckt? Sie hätte sich selbst am liebsten geohrfeigt für ihr unbedachtes Verhalten. »Ich weiß nicht sehr viel über ihn.«

Doch das ließ er nicht gelten. »Ach, was«, meinte er unbekümmert. »Kommen Sie, wir gehen unten in Ihrer eleganten Bar einen Kaffee trinken – und Sie erzählen mir, was für ein Typ dieser Dr. Winter ist. Dann bin ich wenigstens ein bißchen vorbereitet.«

Stefanies Versuche, sich dieser Einladung zu entziehen, scheiterten an Dr. Bacharachs freundlicher Unerbittlichkeit, und so fand sie sich kurz darauf mit ihm in der Bar wieder und erzählte ihm von einigen ihrer Begegnungen mit Dr. Adrian Winter, wobei sie die rein privaten sorgfältig aussparte. Aber schließlich hatte sie den jungen Arzt schon ein paarmal in Aktion erlebt: Vor nicht allzu langer Zeit erst hatte er zum Beispiel einem Gast des Hotels das Leben gerettet. Sie erzählte diese und andere dramatische Begebenheiten mit einem guten Gespür für Spannung, und so unterhielt sich der charmante Amerikaner großartig. Stefanie freilich merkte gar nicht, daß sie viel mehr von ihrer großen Zuneigung zu Adrian Winter verriet, als sie beabsichtigt hatte.

*

Ann Kathrin bestand darauf, Clemens »Papi« zu nennen, seit er mit Natalie verheiratet war. »Es ist doof, wenn alle anderen Papis haben und ich nicht«, hatte sie erklärt. »Ich will nicht mehr ›Onkel Clemens‹ sagen, ein Onkel ist nichts Besonderes.«

»Ich freue mich, wenn du mich ›Papi‹ nennst«, hatte Clemens erklärt – und damit war die Sache ein für allemal entschieden.

An diesem Abend saßen sie zu dritt beim Essen. Ann Kathrin erzählte lebhaft aus dem Kindergarten, Clemens stellte ihr eine Menge Fragen, nur Natalie schien mit ihren Gedanken weit fort zu sein. Sie beteiligte sich kaum am Gespräch, und tat sie es doch, so geschah es einsilbig und zerstreut.

Clemens hatte sie schon einige Male besorgt angesehen, aber sie hatte es nicht bemerkt. Schließlich fragte er leise: »Was ist denn, Liebes? Geht’s dir nicht gut?« Zärtlich legte er eine Hand auf ihren Arm.

Sie schrak ein wenig zusammen, dann lächelte sie – ein flüchtiges Lächeln, das es nicht bis in ihre Augen schaffte. Diese blieben so traurig, wie sie gewesen waren, nur ihre Mundwinkel bogen sich nach oben. »Nein, nein«, beteuerte sie, »alles in Ordnung, wirklich. Ich habe nur gerade über etwas nachgedacht.«

»Worüber?« wollte ihre Tochter wissen. »Worüber hast du nachgedacht, Mami?«

Natalie wich ihr aus. »Ach, über nichts Besonderes. Wollen wir am Wochenende ins Kino gehen? Es läuft ein Film, der dich vielleicht interessiert, Kati – ein Zeichentrickfilm.« Sie überlegte kurz und sagte dann den Titel.

Ann Kathrin hopste aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her. »Denis hat ihn schon gesehen und gesagt, er ist klasse, Mami. Gehen wir wirklich hin? Wirklich, wirklich?«

»Wirklich«, sagte Clemens. »Und nun hör auf zu hopsen, Kati, sonst hopst du noch den Stuhl durch und landest plötzlich auf dem Fußboden.«

Diesen Gedanken fand Ann Kathrin zu komisch, er brachte sie zum Kichern. Immerhin saß sie nun still. Dann fragte sie: »Kann ich aufstehen? Ich hab’ gar keinen Hunger mehr!«

»Geh nur!«

Es war Clemens ganz recht, endlich mit Natalie allein zu sein. »Was ist los mit dir?« wiederholte er seine Frage, als die Kleine gegangen war. »Sag mir die Wahrheit, Natalie!«

»Dr. Scholz hat wieder angerufen. Das hat er ja schon öfter getan, aber dieses Mal klang seine Stimme irgendwie drängend – so als sei etwas passiert. Ich frage mich, ob ich vielleicht doch noch einmal zu ihm gehen sollte.«

»Ganz bestimmt solltest du das!« sagte er energisch. »Du kennst meine Meinung zu diesem Thema, aber ich kann dich ja nicht gut mit Gewalt zum Arzt schleppen. Meiner Meinung nach solltest du ständig unter ärztlicher Beobachtung sein, Natalie. Ich begreife sowieso nicht, wie du diese ständige Unsicherheit aushältst.«

»Ich verdränge den Tumor«, erklärte sie ruhig. »Nur so kann ich weiterleben. Und deshalb will ich auch nicht zum Arzt, denn das erinnert mich ständig daran, daß in meinem Körper eine Zeitbombe tickt.«

»Ich kann es nicht verdrängen«, sagte er leise. »Im Gegenteil: Ich muß immerzu daran denken. Könntest du es nicht meinetwegen tun, Natalie? Zum Arzt gehen, meine ich?«

Als sie ihn ansah, wurde ihr Gesicht weich, und dieses Mal lächelte sie wirklich. »Ja, das kann ich, Clemens. Du hast so viel für mich getan, daß ich mich ruhig einmal revanchieren kann.«

Er schüttelte den Kopf. »Das möchte ich nicht. Es hört sich so an, als erwarte ich eine Gegenleistung von dir – aber wofür? Ich habe nichts für dich getan, Natalie, was ich nicht gleichzeitig auch für mich getan hätte. Du kennst meine Gefühle.«

»Ich glaube, du hättest mich auch geheiratet, wenn du mich nicht liebtest«, sagte sie, noch immer in demselben weichen Tonfall wie zuvor. »Du bist einfach ein guter Mensch, Clemens, der bereit ist, anderen zu helfen. Das ist etwas sehr Seltenes – und ich bin sehr froh, daß du mein Freund bist.«

Sie stand auf und begann den Tisch abzuräumen. »Ich werde zu Dr. Scholz gehen«, sagte sie dann, und nun klang ihre Stimme energisch und ließ erkennen, daß das Thema damit für sie beendet war.

*

Lena Schiller schüttelte ihre wilde rote Mähne und rief laut: »Und... one, two, three, four...« Dazu machte sie zu den stampfenden Rhythmen, die die große Halle des Sportstudios erfüllten, eine rasche Schrittfolge vor: Einmal, zweimal. »Und jetzt alle!« rief sie, und die etwa fünfzehn überwiegend jungen Frauen in bunten Sportanzügen setzten sich in Bewegung – zunächst noch etwas ungelenk, schon bald jedoch zunehmend sicher.

Lena gab Unterricht in Jazztanz für Anfängerinnen, dieses war erst die zweite Stunde. Noch gab es viel zu tun, aber sie war zuversichtlich, daß auch diese Gruppe, wie die meisten zuvor, schon in wenigen Wochen erstaunliche Leistungen vollbringen würde. Erst vor einer Woche hatte eine mollige, schon ein wenig ältere Frau, die seit einigen Monaten das Studio besuchte, zu ihr gesagt: »Wenn mir jemand vor einem halben Jahr gesagt hätte, daß ich es aushalte, eine Stunde lang wie eine Verrückte zu tanzen – also, das hätte ich nicht geglaubt!«

»Und... eins, zwei, drei, vier, Drehung, das Ganze von vorn!« Lena klatschte jetzt in die Hände, um den Rhythmus vorzugeben. Sie tanzte nicht die ganze Stunde mit – sie hatte mehrere Kurse an einem Tag zu geben, und konnte sich nicht jedes Mal völlig verausgaben.

Sie sah Natalie Schürmann hinter der Glasscheibe auftauchen, die die Stirnwand des großen Studios bildete. Sie machte ihr ein Zeichen, herauszukommen. Natalie hatte kürzlich geheiratet, ihren Namen aber behalten, da unter anderem auch das Studio ihren Namen trug. »Außerdem bin ich so daran gewöhnt«, hatte sie erklärt.

Lena bat eine ihrer Kolleginnen, kurz für sie einzuspringen, dann ging sie zu Natalie, um zu hören, was diese von ihr wollte. Natalie war, streng genommen, ihre Chefin, aber mittlerweile arbeiteten sie so lange und so gut zusammen, daß sie auch miteinander befreundet waren. »Was ist los, Natalie?«

»Ich störe dich«, stellte Natalie statt einer Antwort fest, und nun erst fiel Lena auf, wie blaß und müde die andere aussah. Dafür, daß sie ganz jung verheiratet war, wirkte sie bemerkenswert wenig glücklich... Lena ahnte, daß die Heirat mit Clemens keine Liebesheirat gewesen war, wußte jedoch nichts Genaues, denn darüber sprach Natalie nicht.

»Ach, ein paar Minuten habe ich schon Zeit. Ist etwas passiert?«

»Willst du mir etwas versprechen, Lena? Wirst du dich um den Laden hier kümmern, wenn ... wenn ich krank werden sollte?«

»Sicher, das weißt du doch«, antwortete Lena verwundert. »Aber warum solltest du krank werden? Seit ich dich kenne, warst du noch nie krank, Natalie.«

»Das kann sich schneller ändern, als man denkt«, murmelte Natalie. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln. »Ich weiß auch nicht genau, was mit mir los ist, Lena. Aber es ist mir eine Beruhigung zu wissen, daß ich mich hundertprozentig auf dich verlassen kann.«

Kurfürstenklinik Staffel 6 – Arztroman

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