Читать книгу Kurfürstenklinik Staffel 6 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 7

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»Schon wieder neue Kundschaft«, kommentierte Dr. Bernd Schäfer lakonisch, als von draußen das Martinshorn zu hören war. Schon Sekunden später bog der Notarztwagen in die Auffahrt zur Kurfürsten-Klinik ein.

»Dann mal los«, meinte Schwester Monika und erhob sich, um in den Aufnahmebereich der Ambulanz zu gehen.

Seit mehr als sechs Stunden waren sie jetzt im Dienst – Dr. Adrian Winter, der Chef dieser Abteilung, sein Assistent Bernd Schäfer und die beiden Schwestern Monika und Juliane.

Juliane, eine kühle Blondine, war erst seit wenigen Wochen an der Kurfürsten-Klinik, doch alle mochten die ruhige und kompetente Kollegin gern.

Daß Juliane manchmal recht traurig dreinblickte, dafür hatten alle Verständnis, denn inzwischen hatte sich herumgesprochen, daß die junge Frau einen schweren Schicksalsschlag erlitten hatte. Ihr Mann, ein bekannter Archäologe, war seit einem halben Jahr im Amazonasgebiet verschollen. Es gab nicht das geringste Lebenszeichen von ihm – wenn man von einer Mappe mit Aufzeichnungen absah, die ein deutscher Missionar in einer kleinen Siedlung gleich am Fluß gefunden hatte.

Mehrere Suchtrupps waren losgeschickt worden, doch es gab nicht die geringste Spur des Mannes, der sich von seiner kleinen Expedition abgesondert hatte, um drei Tage lang mit einem Eingeborenen zu einer angeblichen Kultstätte der Amazonas-Indianer zu fahren.

Sein Expeditionskollege Oliver Kuhnert hatte ihm dringend von diesem Alleingang abgeraten, doch Harald Steffens, ein besessener Forscher, war nicht von seinem Vorhaben abzuhalten gewesen.

Und nun wartete seine junge Frau Juliane schon seit einem halben Jahr auf ein Lebenszeichen von ihm!

Seit knapp drei Monaten lebte die aparte Blondine mit ihrem vierjährigen Töchterchen Tanja in Berlin. Hier wohnten ihre Eltern, die sich tagsüber um das kleine Mädchen kümmerten, während Juliane als Krankenschwester an der Kurfürsten-Klinik arbeitete.

Sie war eine sehr gute Pflegerin, das bewies sie auch jetzt wieder, wo ein Mann eingeliefert wurde, der bei einem Unfall in einer Fabrik schwer verwundet worden war. Eine Explosion hatte ihm drei Finger seiner linken Hand abgetrennt, außerdem hatte er Verbrennungen im Gesicht und am Hals erlitten.

»Sieht nicht gut aus«, kommentierte Dr. Schäfer, der den Kranken einer ersten Untersuchung unterzog. »Die drei gebrochenen Rippen sind harmlos, die Brandwunden zum Glück nicht so tief. Aber der Arterienriß am Arm macht mir Sorgen. Und natürlich die weggerissenen Finger.«

»Die hat der Notarzt zum Glück mitgebracht.« Schwester Juliane wies auf eine Plastiktüte, in der die drei gekühlten Fingerglieder lagen.

»Kann mal jemand oben im OP 1 anrufen und nachfragen, wie lange Adrian Winter noch braucht mit seiner Magenoperation?« Dr. Schäfer sah sich nach Schwester Monika um, die schon den Hörer am Ohr hielt. »Sag ihm bitte, daß ich mir das hier allein nicht zutraue. Und ob sich so schnell ein Gefäßchirurg auftreiben läßt…« Er machte eine vage Handbewegung.

»Soll ich mal bei Dr. Rollert daheim anrufen? Vielleicht haben wir Glück«, schlug Schwester Monika vor. Dr. Rollert war ein stattbekannter Spezialist auf dem Gebiet der Gefäßchirurgie, und die Kollegen der Kurfürsten-Klinik hatten schon häufiger mit ihm zusammengearbeitet.

»Das wär zu schön, um wahr zu sein«, gab Dr. Schäfer zurück und untersuchte bereits die große Wunde am Arm, die der Notarzt nur notdürftig verbunden hatte.

Wenige Minuten später kam Monika mit der Nachricht zurück, daß Dr. Rollert auf einem Fachkongress in Wien war.

»Und was ist mit Adrian?« wollte Dr. Schäfer wissen.

»Der kommt jeden Moment«, erwiderte Schwester Juliane, und wie aufs Stichwort betrat Adrian Winter auch schon den Raum.

Die beiden Ärzte brauchten nicht viel zu reden, beiden war klar, daß es ihnen nur mit sehr viel Glück gelingen würde, die Finger wieder anzunähen. Da sie nicht gerade abgetrennt, sondern durch die Explosion abgerissen worden waren, gab es keine glatten Wundränder.

»Na, wir werden unser Bestes tun«, meinte Adrian. »Was macht die Arterie?«

»Die ist genäht, alles in Ordnung«, erklärte sein Assistenzarzt. »Das hab’ ich gleich hier unten gemacht, um einen noch größeren Blutverlust zu vermeiden. Der Notarzt hatte auch schon gute Vorarbeit geleistet.«

»Na, dann wollen wir sehen, was wir noch für den armen Kerl tun können.«

Bereits zehn Minuten später lag der Patient im OP 2, und Dr. Winter und Dr. Schäfer versuchten alles in ihrer Macht Stehende, um ihm die vollständige Gesundheit zurückzugeben.

Schwester Juliane säuberte unterdessen zusammen mit einer ungelernten Hilfskraft den Untersuchungsraum. Gerade war sie damit fertig, als das Telefon klingelte.

Ihre Mutter war am Apparat und sagte mit sorgenvoller Stimme: »Tanja geht’s gar nicht gut, Juliane. Vater und ich machen uns die größten Sorgen um sie. Seit drei Stunden hat sie stetig steigendes Fieber. Und als ich eben nach ihr schaute, war sie kaum noch ansprechbar.«

Juliane zuckte zusammen. »Aber das ist doch unmöglich«, stieß sie hervor. »Als ich zum Dienst ging, war sie doch noch ganz munter!«

»Stimmt«, erwiderte ihre Mutter. »Aber kaum warst du weg, begann sie zu quengeln. Na ja, das kennt man ja bei kleinen Kindern – irgendwas sitzt schief, sonst fühlen sie sich unwohl. Ich hab’ ihr einen leichten Fencheltee gekocht, ihr was vorgelesen und eine Wärmflasche auf den Bauch gelegt.« Sie seufzte hörbar auf. »Leider hat nichts geholfen.«

»Ruf einen Arzt«, schlug Schwester Juliane vor. »Oder, noch besser, bring Tanja her. Das ist bestimmt am gescheitesten. Die Ärzte hier sind alle sehr kompetent, gewiß läßt sich hier in der Ambulanz am raschesten abklären, was der Kleinen fehlt.«

»Wenn du meinst…«, sagte ihre Mutter zögernd.

»Glaub mir, Mutti, das ist das Beste. Wickle Tanja in eine warme Decke und ruf ein Taxi für euch… Ich warte!«

Nach einem schnellen Gruß beendeten sie das Gespräch, und für Schwester Juliane begann eine halbe Stunde bangen Wartens…

*

»So, das wäre geschafft. Bin gespannt, was der Galerist dazu sagt!« Die junge Frau trat ein paar Schritte zurück und sah sich das Bild, das sie eben vollendet hatte, aus schmalen Augen an. Es zeigte eine abstrakte Landschaft, und die Farbe Gelb dominierte.

»Das ist gut. Es erinnert an ein Rapsfeld in der Sonne.« Ihr Freund, der Rennfahrer Jonas Johannsen, lachte. »Fehlst nur du als Zentralfigur, mein Darling.«

Susanne Burgmer winkte ab. »Du hast wirklich keine Ahnung von Kunst, Jonas«, sagte sie. »Wenn ich anfinge, kleine Männchen in meine Bilder zu malen…«

»Kleine schöne Mädchen sollst du malen«, korrigierte er sie und griff spielerisch nach ihrer Hand. »Das würde mir gefallen.« Er tat, als wäre dies eine spontane Eingebung. »Mal mir ein Bild von dir«, sagte er. »Ein Porträt. Ich zahle auch, ich kann’s mir leisten. Der Vertrag bei der neuen Firma ist hervorragend.«

»Ich weiß, du hast es mir oft genug gesagt.« Ein wenig Ungeduld schwang in Susannes Stimme mit. Es nervte sie in den letzten Wochen sehr, daß Jonas seine eigenen Interessen, ja, seine eigene Person viel höher bewertete als sie – oder gar die Angelegenheiten, die nur sie, Susanne, betrafen.

Wenn er etwas wollte, wurde das gemacht. Seine Termine waren viel bedeutsamer als ihre. Daß sie die erste große Ausstellung hatte – und dazu noch in einer namhafter Berliner Galerie – das bewegte ihn kaum. Er sah sich die Bilder an – und vergaß sie im nächsten Moment auch schon wieder. Er konnte, das mußte die junge Malerin einsehen, mit ihrer Kunst nichts anfangen.

Susanne seufzte unterdrückt auf. »Wärst du so nett und würdest mich eben zur Bugenhagenstraße fahren?« bat sie dann. »Die letzten drei Bilder müssen noch aufgehängt werden. Und das hier… es ist zwar noch ganz frisch, aber ich würde es gern mitnehmen. Es paßt exakt zu den fünf Bildern, die ich in der Provence gemalt habe und die so gut angekommen sind.«

»Meinetwegen.« Jonas erhob sich lässig und griff nach der Lederjacke, die er über die Sessellehne gelegt hatte. »Danach gehen wir aber endlich mal wieder schick essen, ja? Wir waren seit drei Tagen nicht aus.«

»Ich weiß.« Susanne trat zu ihm und gab ihm einen raschen Kuß. »Aber versteh doch, daß ich unbedingt fertig werden mußte.«

»Ja, ja, schon gut. Wir fahren gleich los, du gibst deine Bilder ab, dann geht’s raus zum Wannsee. Da soll ein neues kleines Lokal eröffnet haben mit exzellenter japanischer Küche.«

»Darf ich mich wenigstens vorher noch duschen und umziehen?« fragte Susanne herausfordernd. Sie war nervös, denn die bevorstehende Eröffnung ihrer ersten großen Ausstellung war eine Herausforderung. Und es gab noch so viel zu tun und zu bedenken, bis es soweit war! Erst vor fünf Tagen hatte der Galerist noch ein weiteres Bild aus der gelben Periode bestellt, und er überraschte Susanne jeden Tag mit neuen, ausgefallenen Ideen.

Sie mußte ihm vertrauen, mußte sich ganz auf ihn einstellen, denn er hatte in der Branche einen guten Namen, und sie, die unbekannte junge Künstlerin, mußte es sich zur Ehre anrechnen, daß er ihre Bilder ausstellte.

»Aber Darling, du weißt doch, daß ich dir alle Zeit der Welt lasse.« Jonas Johannson lehnte sich wieder auf dem hellen Ledersofa zurück und schlug die Beine lässig übereinander.

Jonas war von Beruf Rennfahrer, ein sehr erfolgreicher sogar, und wenn er ein paar Tage frei hatte, konnte er absolut entspannen und abschalten. Man sagte, dies sei mit ein Teil seines überragenden Erfolgs – diese Fähigkeit, zu relaxen, ganz in sich zu versinken oder in totaler Ablenkung Entspannung zu suchen.

Susanne hatte den Mann vor knapp einem Jahr kennengelernt, als sie an der italienischen Riviera Urlaub machte. Jonas war zu den Renntagen von Monaco an der Cote d’Azur gekommen.

Sie waren sich am Strand begegnet – und es hatte sofort gefunkt. Seit dieser Zeit waren sie ein Paar, und es passierte immer häufiger, daß Susannes Name mit dem des erfolgreichen Rennfahrers in Verbindung gebracht wurde.

Manchmal, in Stunden der Angst und der Zweifel, fragte sich die junge Malerin sogar, ob der Galerist überhaupt auf sie aufmerksam geworden wäre, wenn sie nicht Jonas’ Freundin wäre. Aber diese Überlegungen verwarf sie rasch wieder. Sie war gut, das wußte sie. Sie hatte eine fundierte Ausbildung, war kreativ und hatte einen gefälligen und dennoch eigenwilligen Stil.

Jetzt mußte nur noch der Durchbruch kommen!

Eine halbe Stunde später war sie geduscht und umgezogen. Statt des langen T-Shirts und einer fleckigen Jeans trug sie jetzt einen eleganten hellgrauen Hosenanzug, der ihre schlanke Figur dezent betonte. Das braune, leicht gewellte Haar fiel locker und glänzend bis auf die Schultern, und ein dezentes Make-up ließ ihren Teint schimmern.

»Bildschön«, kommentierte Jonas und nahm sie kurz in den Arm. »Alle werden mich um dich beneiden.«

Susanne lachte. »Unsinn! Alle werden dich umringen und um Autogramme bitten. Und die Teenager – die weiblichen vor allem – werden deinen Namen kreischen und dich anhimmeln.«

»Ach was«, winkte der Mann ab.

»Natürlich«, beharrte Susanne und lachte. »Du weißt es genau – und du genießt es.«

»Stimmt.« Jetzt lachte auch Jonas, und seine blauen Augen blitzten.

Jonas Johannson sah ausgesprochen attraktiv aus mit seinem hellblonden Haar und den blauen Augen. Seine Mutter war Schwedin, das helle Haar und die tiefblauen Augen waren mütterliches Erbteil.

Susanne und er waren ein schönes Paar, und viele Blicke folgten ihnen, als sie jetzt zu dem schwarzen Sportwagen gingen, der am Straßenrand geparkt war.

Sorgfältig verstaute Susanne ihre Bilder auf dem Rücksitz, dann ließ sie sich neben Jonas nieder und schnallte sich an.

»Auf zur Galerie. Und dann gehörst du für den Rest des Tages mir allein!« Er warf der jungen Frau auf dem Nebensitz einen verliebten Blick zu und gab Gas.

Der Weg durch den ruhigen Stadtteil Berlins war nur kurz, bald hatten sie die Innenstadt erreicht.

Doch bevor sie in die Nähe der Galerie kamen, mußten sie eine belebte Kreuzung überqueren. Die Ampelanlage war ausgeschaltet, und Jonas orientierte sich in Sekundenschnelle. Rechts kam zwar ein Lastwagen heran, aber er war mit seinem Wagen viel schneller.

Noch ein wenig mehr drückte er das Gaspedal nieder… und stieß im nächsten Moment einen unterdrückten Schrei aus. An dem Lastwagen vorbei brauste eine Luxuslimousine. Viel zu schnell, viel zu unvorsichtig fuhr der Fahrer.

Aber wer hatte jetzt noch Zeit, nach Schuld, Vorfahrtsregeln oder ähnlichem zu fragen? Jonas trat das Bremspedal durch – doch es war zu spät.

Blech krachte ineinander. Glas splitterte. Zwei schwere Wagen waren in wenigen Augenblicken fest ineinander verkeilt.

Und noch während Jonas laut fluchte, erstickte neben ihm Susannes Entsetzensschrei…

*

»Also wirklich, es scheint fast so, als hätten sich alle Schwangeren der Stadt abgesprochen, gerade heute entbinden zu wollen.« Dr. Halberstett, der Gynäkologe der Kurfürsten-Klinik, seufzte unterdrückt auf. »Eben waren es Zwillinge, jetzt warte ich auf Frau Thorberg, die mit Sicherheit per Kaiserschnitt entbinden muß, denn das Baby dreht sich einfach nicht in Geburtslage.«

Adrian Winter zuckte mit den Schultern. »Ja, so ist das nun mal… wir können es uns nicht aussuchen. Und die Patienten wollen nun mal optimal betreut werden, da heißt es eben Überstunden machen.«

»Witzbold!« Christian Halberstett gab dem jüngeren Freund und Kollegen einen kurzen Rippenstoß. »Weißt du überhaupt, daß ich schon länger als fünfzehn Stunden hier bin?«

»Streber!« gab Adrian lachend zurück.

Aber gleich darauf wurde er ernst, denn die angekündigte Patientin wurde von ihrem Mann gebracht, und schon ein Blick in ihr weißes, angespanntes und von heißer Angst erfülltes Gesicht genügte den beiden Medizinern, um zu erkennen, daß dies ein Notfall war. Frau Thorberg ging es sichtlich nicht gut.

»Kommen Sie gleich mit«, befahl Christian Halberstett nach einer knappen Begrüßung. »Ich will Sie nochmals rasch untersuchen – und dann werden wir wohl einen Kaiserschnitt machen müssen.«

»Aber ich wollte doch so gern die Geburt bei vollem Bewußtsein miterleben!« jammerte die junge Patientin.

Der Gynäkologe schüttelte den Kopf. »Soweit ich es beurteilen kann, muß ich das Baby mit einer Operation holen. Und… dabei müssen Sie nun mal in Narkose gelegt werden.«

Er sagte nicht, daß es auch eine Möglichkeit gab, die werdende Mutter nur so weit zu betäuben, daß sie den Geburtsvorgang doch miterleben konnte. Frau Thorberg war in schlechter Allgemeinverfassung, Dr. Halberstett befürchtete Komplikationen und wollte das Operationsrisiko so gering wie möglich halten.

Adrian sah dem Kollegen, der Schwangeren und deren Mann nach, die in Richtung Aufzug gingen und zur Gynäkologie fuhren. Es war sicher keine leichte Aufgabe, die jetzt auf Christian Halberstett zukam.

Von draußen ertönte schon wieder die Sirene eines Unfallwagens, und Adrian stand auf, um sich um den Neuzugang zu kümmern.

»Willst du nicht noch schnell einen Schluck Kaffee trinken?« erkundigte sich Oberschwester Walli. »Ich hab’ gerade frischen gemacht.«

»Dank dir, vielleicht später. Eben hab’ ich mir Tee gemacht.«

»Tee… igitt! Wahrscheinlich auch noch aus dem Beutelchen!« Walli schüttelte den Kopf. »Da sag mal einer, Männer könnten sich emanzipieren. Nicht mal zum Teekochen seid ihr zu gebrauchen!«

Adrian lachte. »Na, wenn das alles ist, was du an mir auszusetzen hast…« Er legte den Arm um seine bewährte Mitarbeiterin. »Ich wollte dir auch mal Ruhe gönnen, darum hab’ ich zum Teebeutel gegriffen. Er war heiß, das genügte mir schon.«

Walli kam nicht zu einer Antwort, denn schon erschienen zwei Sanitäter mit einer Trage.

»Verkehrsunfall auf dem Ku’damm«, sagte der Ältere von den beiden knapp. »So ein Raser konnte mal wieder nicht am Zebrastreifen bremsen und hat die Frau hier angefahren. Hochschwanger. Ende des achten Monats, sagt sie.«

»Dann bringt sie bitte in Raum 3«, ordnete Adrian Winter an. »Leider ist unser Gynäkologe gerade bei einer Sectio… na ja, ich will sehen, was ich tun kann.«

Wenig später hatte er die Patientin, die noch in der Lage war, ein paar persönliche Angaben zu machen, untersucht.

»Tja, Frau Thorberg«, sagte er und lächelte aufmunternd, »ich denke, daß sich Ihre kleine Tochter nicht länger zurückzuhalten läßt. Durch den Unfall ist der Geburtsvorgang frühzeitig ausgelöst worden.«

»Aber… es ist doch noch zu früh!« Voller Angst sah ihn die aparte blonde Frau an.

Dr. Winter drückte ihr die Hand. »Kein Problem. So ein Frühchen ist oft ungemein zäh. Und wenn Sie sagen, daß Sie schon Ende des achten Monats sind…«

»Mein Mutterpaß ist in der Handtasche.« Sie sah sich suchend um. »Wo sind denn meine Sachen?«

»Ich sehe draußen nach. Wahrscheinlich haben die Sanitäter sie einer meiner Kolleginnen gegeben«, meinte Schwester Walli und verließ rasch den Untersuchungsraum.

Wenig später kam sie zurück, eine dunkelblaue Tasche in der Hand.

»Ja, das ist meine«, bestätigte die Patientin und wollte sich aufrichten, um nach der Tasche zu greifen. Doch im nächsten Moment sank sie mit einem Wehlaut zurück. Eine Wehe überrollte sie mit solcher Macht, daß sich ihr Tränen in die Augen drängten.

Adrian nickte Walli zu. »Sieh nach«, forderte er.

Die Pflegerin kam der Aufforderung nach und öffnete die Tasche, die ein bekanntes Designer-Label trug. In der Brieftasche fand sich, neben Ausweispapieren und Führerschein, auch der Mutterpaß.

Adrian Winter studierte ihn sorgfältig und atmete insgeheim auf. Frau Thorberg hatte ganz offensichtlich eine Bilderbuch-Schwangerschaft hinter sich, es gab keine Anzeichen dafür, daß es während der Geburt zu Komplikationen kommen könnte.

Als die Wehe verebbt war, beugte sich der Arzt zu der jungen Frau und lächelte sie an. »Na, dann wollen wir mal zusehen, daß die junge Dame nicht länger warten muß. Sie will heute schon ans Licht dieser schönen Welt.«

»Sie meinen… gleich?« Renate Thorberg biß sich auf die Lippen.

»Gleich jetzt.« Adrian wandte sich zu Schwester Walli um. »Bring Frau Thorberg bitte hoch in den Kreißsaal. Ich komme gleich nach, muß nur erst zusehen, daß ich für hier Ersatz auftreibe. Ist der junge Dr. Ewald im Haus?«

Karsten Ewald war erst seit vier Wochen an der Kurfürsten-Klinik. Ein junger blonder und recht schüchterner Mann, der aber das Zeug zu einem exzellenten Chirurgen hatte. Ihm fehlte zwar noch Praxis, aber Adrian war sich sicher, daß er dem jungen Kollegen die Notaufnahme für eine halbe Stunde anvertrauen konnte.

Er selbst leitete die Entbindung von Frau Thorberg, und auch die Geburt verlief lehrbuchmäßig, der Arzt brauchte kaum einzuschreiten, er mußte nur einen kleinen Dammschnitt legen, dann hatte ein kleines Mädchen es leichter, den Weg ins Leben zu finden.

Renate Thorberg horchte zufrieden auf den ersten Schrei, den ihr Kind tat. Sie warf einen erschöpften, aber glücklichen Blick zu dem Säugling, den Adrian Winter ihr kurz auf den Bauch legte.

»Gratuliere. Es ist ein wunderschönes kleines Mädchen«, sagte der Arzt, und wie immer, wenn er die Gelegenheit hatte, einem Baby auf die Welt zu helfen, war er von dem Wunder der Menschwerdung wieder angerührt.

»Ist mein Baby gesund?« fragte die junge Mutter mit schwerer Stimme.

»Es ist ein Prachtkind«, versicherte der Arzt. »Sie hat schwarzes Haar, wie Sie sehen, und wirkt hundertprozentig gesund. Aber das wird gleich noch der Kinderarzt abklären. Ich selbst muß wieder hinunter in die Ambulanz, aber ein Kollege wird gleich die notwendigen Untersuchungen vornehmen. Ich bin aber sicher, daß er nichts finden wird, das zur Besorgnis Anlaß gibt.«

Schwester Ingeborg, die erfahrene Säuglingsschwester, nahm der Mutter das Baby wieder fort, um es zu baden und zu wickeln.

Auch die junge Mutter wurde frisch gemacht, und eine Schwester streifte ihr ein frisches Nachthemd über, das sich in den Beständen der Klinik befand. Erst später, wenn der Ehemann kam und ihre persönlichen Sachen brachte, konnte Frau Auermann nochmals umgezogen werden.

»Sie können gleich in Ihr Zimmer«, erklärte Adrian. »Man wird Ihnen dann auch Ihre Tochter bringen.«

»Sie haben also auch rooming in hier, das ist schön.« Die Wöchnerin lächelte. »So hatte ich es mir auch gewünscht – ich wollte mein Kind gleich von Anfang an bei mir haben. Schade nur, daß mein Mann jetzt die Geburt doch nicht miterleben konnte. Wir hatten uns so darauf gefreut.«

Adrian legte ihr die Hand auf den Arm. »Seien Sie froh, daß Sie den Unfall so glimpflich überstanden haben – und daß Ihr Kind wohlauf ist. Für ein Frühchen ist die Kleine ungemein fit, sie muß nicht mal in den Brutkasten.« Er sah die junge Frau lächelnd an. »Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht verrechnet haben?«

»Na ja… so ganz einig waren wir uns nicht, mein behandelnder Arzt und ich. Aber natürlich hab’ ich ihm geglaubt… und nicht meiner Rechnung vertraut. Dann nämlich wäre ich schon im 9. Monat gewesen.«

»Waren Sie wohl auch.« Adrian ging zur Tür. »Wir sehen uns noch. Bis dahin.« Er verließ rasch den Bereich des Kreißsaals und ging kurz zum Umkleideraum, wo er sich erfrischte und dann einen sauberen Visitenmantel anzog.

Als er wieder in der Ambulanz erschien, herrschte doch geschäftiges Treiben, aber er konnte sich rasch davon überzeugen, daß nicht ein schwerer Fall darunter war. Es gab ein kleines Mädchen mit einem ausgekugelten Arm, einen verletzten Mopedfahrer, der aber nur Schürfwunden hatte, eine alte Dame, die auf der Straße gefallen war und von Passanten gebracht wurde, damit man sie vorsichtshalber untersuchen konnte.

»Sie kommen zurecht?« erkundigte sich Adrian bei seinem jungen Kollegen.

»Danke, ja«, erwiderte der Assistenzarzt und klebte gerade ein Pflaster auf die Stirn des Mopedfahrers.

Adrian wollte sich gerade um die alte Dame kümmern, die sich lebhaft mit Schwester Claudia unterhielt und einen recht gesunden Eindruck machte, als über Funk ein Notfall gemeldet wurde.

»Schwerer Verkehrsunfall mit zwei Verletzten«, gab der Notarzt durch. »Der Mann hat wohl eine Gehirnerschütterung und ein gebrochenes Bein, bei der Beifahrerin sieht’s übler aus. Ich tippe auf einen schweren Wirbelsäulenschaden. Zudem hat sie mit Sicherheit eine Gehirnerschütterung und schwerste Prellungen.«

Adrian dankte und machte sich daran, Vorbereitungen für die Erstversorgung der neuen Patienten zu treffen.

Wenig später kamen sie in die Kurfürsten-Klinik – der Rennfahrer Jonas Johannson und die schwerverletzte Susanne Burgmer, deren Leben an einem seidenen Faden hing…

*

»Weißt du, wer das ist?« Schwester Walli wies auf den Mann, der gerade in Kabine 1 gebracht wurde.

»Keine Ahnung.« Adrian winkte die Sanitäter in den großen Untersuchungsraum, wo er schon alles für die Aufnahme der Patientin mit dem Wirbelsäulenschaden vorbereitet hatte.

»Das ist Jonas Johannson, der Rennfahrer.« Walli zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich hat er die Straßen Berlins mit einer Rennstrecke verwechselt.«

»Und die junge Frau in seiner Begleitung muß dafür büßen.« Adrian Winter ging hinüber in den Raum, in den die Sanitäter Susanne brachten. Sie wurde extrem vorsichtig gebettet, da der Schaden an der Wirbelsäule noch nicht exakt definiert war.

»Als wir sie an der Unfallstelle sprachen, konnte sie uns noch sagen, daß sie kein Gefühl in den Beinen hat«, erklärte der Notarzt. »Leider wurde sie dann ohnmächtig. Ich habe jedoch so fixiert, daß die Wirbelsäule stabilisiert wurde.«

»Danke. Ich denke, nach einer ersten Untersuchung werden wir sie in die Röhre stecken, um Genaues zu erfahren«, entgegnete Adrian.

»Dann hab’ ich ja hier nichts mehr zu tun. Bis dann, Kollege. Ich befürchte, wir sehen uns heute noch ein paarmal, draußen auf den Straßen ist der Teufel los.«

Adrian nickte nur. Er war schon ganz auf die neue Patientin konzentriert, die mit geschlossenen Augen vor ihm lag. Der Puls war flach, die Atmung kaum wahrnehmbar.

Zunächst bemühte sich Dr. Winter, den Allgemeinzustand der neuen Patientin zu stabilisieren. Dann versorgte er die zum Glück nicht allzu wesentlichen Schnittwunden am linken Arm und an der Schulter. Die Platzwunde an der Schläfe hatte zwar stark geblutet, war aber harmlos. Alles in allem waren die äußerlichen Verletzungen nicht allzu gravierend. Besorgniserregend hingegen war die vermutete Wirbelsäulenverletzung. Aber über deren Schwere mußte die Computertomographie Aufschluß geben.

Die Patientin kam nicht zu sich, auch nicht, als sie in die Röhre geschoben wurde, in der von ihrem ganzen Körper detailgenaue Schichtaufnahmen gemacht wurden.

Es dauerte eine Weile, bis Dr. Winter das Ergebnis der Untersuchung vor sich hatte.

»Das ist ja…« Dr. Winter schüttelte immer wieder den Kopf, kontrollierte die Auswertung, sah nochmals hin… und meinte schließlich zu Schwester Claudia, die hinter ihn getreten war: »Nun sieh dir das an! Da denken wir, daß die junge Frau eine Rückenmarkverletzung infolge eines Unfalls hat – und was sehe ich? Einen Tumor!«

»Aber das ist doch Wahnsinn«, meinte Schwester Claudia. »Davon muß sie doch was gespürt haben. Sie muß Beschwerden gehabt haben. Vielleicht war sie sogar schon in Behandlung – oder sogar schon gelähmt. Was wissen wir schon von ihr!«

Dr. Winter nickte nachdenklich. »Der Notarzt sagte, sie wäre kurz bei Besinnung gewesen, als er sie am Unfallort untersucht hätte. Und da hat sie angeblich gesagt, daß sie ihre Beine nicht mehr spürt.« Er stützte den Kopf in beide Hände und dachte nach. »Kann es denn wirklich sein, daß sich der Tumor erst jetzt bemerkbar macht? Gleich nach dem Unfall?«

»Ziemlich unwahrscheinlich, oder?« fragte Schwester Claudia. »Es sei denn, irgendwas hat sich verschoben. Oder… sieh mal hier!« Sie wies auf eine kleine dunkle Stelle. »Was ist das?«

Adrian sah sich das CT-Bild genauer an. »Könnte ein kleiner Bluterguß sein«, meinte er dann. »Und vielleicht …« Erregt sah er Schwester Claudia an. »Das könnte es sein! Der Bluterguß! Vorher war er nicht da, aber jetzt, infolge des Unfalls, hat sich dieses kleine Blutgerinnsel ergeben und drückt auf die Wirbelsäule, beeinträchtigt vielleicht den Tumor… Das wäre eine Erklärung!«

Schwester Claudia, die stets Besonnene, nickte. »Wenn du mal mit dem anderen Unfallopfer redest, erfährst du vielleicht mehr von der jungen Frau«, schlug sie vor. »Soll ich mich mal nach dem Zustand des Rennfahrers erkundigen?«

»Sei so gut«, bat Dr. Winter. »Er war ja nicht schwer verletzt. Wenn er nicht gerade infolge

der Beruhigungsspritze schläft, möchte ich mit ihm reden.«

Eine Viertelstunde später bereits konnte er an das Bett des verletzten Rennfahrers treten. Jonas lag selbstverständlich in einem Einzelzimmer, das sogar einen Balkon hatte, von dem aus man einen schönen Blick in den kleinen Klinikgarten hatte.

»Hallo, Doc.« Der blonde junge Mann sah Adrian Winter mit wachen Augen entgegen. »Wie sieht’s aus? Wie schwer sind meine Verletzungen?«

Adrian trat näher und gab Jonas die Hand. »Guten Tag, Herr Johannson. Ich heiße Dr. Winter und bin Chef der Unfallabteilung«, stellte er sich erst einmal vor. »Soviel ich jetzt schon sagen kann, haben Sie ungeheures Glück gehabt. Sie sind nur leicht verletzt und werden sicher schon in einer Woche die Klinik wieder verlassen können.«

»Ein Glück.« Der Rennfahrer atmete sichtlich auf. »Ich muß nämlich zum Training nach Budapest. Wenn ich das versäume…«

»Ich verstehe.« Adrian ließ sich nicht anmerken, wie befremdlich er es fand, daß der Mann sich gar nicht nach seiner Beifahrerin erkundigte. »Morgen werden wir Sie genauer durchchecken«, kündigte er an. »Jetzt habe ich eine ganz andere Frage. Sie betrifft Ihre Beifahrerin.«

»Ach ja, Susanne.« Jonas versuchte sich ein wenig aufzurichten. »Wie geht es ihr denn?«

»Leider nicht so gut wie Ihnen«, antwortete Adrian aufrichtig. »Sie ist immer noch bewußtlos. Hat wohl eine schwere Gehirnerschütterung und auch ein paar Verletzungen, die nicht so rasch verheilen werden. Aber das ist es nicht, was mir Sorgen macht.« Er zögerte, dann fragte er unumwunden: »Kennen Sie Frau Burgmer gut, Herr Johannson?«

Jonas nickte. »Wir sind befreundet. Vielleicht werde ich sie sogar heiraten«, fügte er lächelnd hinzu.

»Gut«, meinte Adrian. »Dann können Sie mir sicher Auskunft darüber geben, ob Frau Burgmer schon mal über starke Rückenschmerzen geklagt hat. Oder war sie gar wegen irgendwelcher Beschwerden beim Arzt?«

»Aber nein! Susanne ist kerngesund. Ich wüßte nicht, daß sie irgendein Problem hätte. Warum wollen Sie das wissen?«

Adrian zögerte, dann entschloß er sich zur Wahrheit. Wenn Jonas Johannson und die Patientin Burgmer sich so nahe standen, daß sie sogar schon an Heiraten dachten, war es nur recht und billig, daß der Rennfahrer von der Verdachtsdiagnose erfuhr.

»Da Frau Burgmer dem Notarzt noch an der Unfallstelle sagen konnte, daß sie kein Gefühl in ihren Beinen verspürt, wurde sie mit dem Verdacht auf einen Wirbelbruch eingeliefert«, erläuterte er. »Ich habe eine Computertomographie angeordnet, dabei aber eine mich irritierende Feststellung gemacht…«

»Und das wäre?« Jonas runzelte die Stirn. »Nun reden Sie doch schon, Doktor!«

»Nun ja… es ist noch nichts bewiesen, aber alles deutet darauf hin, daß Ihre Freundin einen Tumor im Rücken hat. Ich wollte jetzt von Ihnen wissen, ob Frau Burgmer diese Diagnose bereits kennt – und Sie eventuell auch.«

»Aber nein!« Jonas schüttelte den Kopf. »Das ist mir völlig neu. Und auch Susanne weiß mit Sicherheit nichts davon. Ich denke, das hätte sie doch auch spüren müssen!«

Adrian schüttelte den Kopf. »Im Frühstadium noch nicht unbedingt. Jetzt hat sich ein Blutgerinnsel gebildet, und ich vermute, daß dieser Bluterguß die Lage des Tumors verändert hat – und eventuell eine Lähmung verursacht. Leider ist Ihre Freundin noch bewußtlos, wir können also keine Tests mit ihr durchführen.«

Jonas schloß sekundenlang die Augen. »Gelähmt… Susanne ist vielleicht für immer gelähmt«, murmelte er, und blankes Entsetzen malte sich auf seinem Gesicht ab. Als er Dr. Winter ansah, flackerten seine Augen. »Das… das ist ja furchtbar! Können Sie denn gar nichts tun?«

Adrian zögerte, dann sagte er: »Noch ist gar nichts erwiesen, Herr Johannson. Ich wollte mich nur bei Ihnen erkundigen, ob Sie vielleicht etwas von einer Tumorerkrankung wissen.«

»Aber nein! Nichts!« Der Rennfahrer schüttelte den Kopf. »Susanne hat nie was gesagt, und sie war immer fit.«

»Na ja, vielleicht stellt sich alles noch als recht harmlos heraus«, meinte Adrian, der den Patienten nicht mehr als notwendig belasten wollte. »Wir werden noch ein paar weitere Untersuchungen anstellen, bis wir genau wissen, was zu tun ist. Ihnen erst einmal gute Besserung, Herr Johannson.«

»Danke.« Jonas lehnte sich wieder in den Kissen zurück. »Ach ja, Doktor…« Er streckte die Hand ein wenig nach Adrian aus. »Können Sie bitte veranlassen, daß man mir ein Telefon bringt? Ich muß mit meinem Manager und den Leuten vom Rennstall telefonieren.«

»Natürlich. Aber bitte – in Maßen. Sie sind nicht gesund«, warnte Adrian, dann verließ er den jungen Mann.

Irgendwie hatte Dr. Winter ein ungutes Gefühl. Es rührte zum Teil daher, daß er im Fall der jungen Susanne Burgmer noch relativ im Dunkeln tappte, andererseits gefiel ihm die Reaktion des Rennfahrers nicht. Er war zwar schockiert gewesen, als er von der Lähmung und dem Tumorverdacht, der bei seiner Freundin bestand, hörte, aber… irgendwie hatte Adrian Winter den Eindruck, daß der blonde Rennfahrer mehr seine eigenen Interessen als die seiner Freundin im Auge hatte. Vielleicht tat sie ihm ja leid – aber sicher überlegte er auch, was es für ihn bedeutete, wenn Susanne wirklich eines Tages im Rollstuhl sitzen mußte.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?« Dr. Julia Martensen, die Internistin der Kurfürsten-Klinik, kam gerade aus einem Krankenzimmer und sah Adrian forschend an.

»Ach, es gibt Probleme, die sich nicht so einfach lösen lassen«, erwiderte der Chirurg. »Und du weißt ja, daß mir so was ganz und gar nicht behagt.«

»Wem behagen schon ungelöste Probleme«, erwiderte die Ärztin lächelnd. »Aber wenn es dir hilft, dann sprich mit mir darüber, vielleicht kann ich was für dich tun.«

»Ja, vielleicht…« Adrian nickte. »Kommst du mit in die Kantine? Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und wahnsinnigen Hunger.«

»Dann stärke dich mal. Und während du ißt, erzählst du mir von deinem Problem.«

»Es ist nur indirekt mein Problem«, erwiderte Dr. Winter. »Ich befürchte aber, daß meine neue Patientin schon bald vor einem Berg von Problemen stehen wird. Und ich wünschte, ich könnte ihr wenigstens bei der Bewältigung der medizinischen Sorgen helfen.«

Doch noch während er das sagte, wurde ihm klar, daß dies reinstes Wunschdenken war. Susanne Burgmers Fall war einer der schwersten, mit denen Dr. Winter in den letzten Monaten in Berührung gekommen war.

*

Es war dunkel, als Susanne zum ersten Mal erwachte. Sie sah sich verwirrt um, konnte aber nicht sofort ausmachen, wo sie sich befand. Erst als sie die weiße Bettwäsche sah, den kleinen Waschtisch in der Ecke und den schmalen Resopaltisch an der Längsseite des Raums, an dem zwei Stühle standen, dämmerte ihr, daß sie sich wohl in einem Krankenhaus befand.

Sie versuchte, sich zu bewegen, sie wollte sich aufrichten, um alles besser überblicken zu können, doch das war ihr einfach nicht möglich. Sie lag wie in einem Korsett eingeschnürt.

Panik erfaßte die junge Frau, und sie wollte schon laut losschreien, als sich die Tür öffnete und eine Schwester erschien.

»Schön, daß Sie wach sind, Frau Burgmer.« Die Pflegerin, deren dunkles Haar zu einem aparten Pagenkopf geschnitten war, trat näher. »Ich bin Oberschwester Walli.« Sie nahm Susannes Hand und kontrollierte gewohnheitsmäßig den Puls. »Sie hatten einen Unfall, erinnern Sie sich?«

Susanne zögerte kurz, dann nickte sie. »Ja, Jonas und ich sind auf eine Kreuzung gefahren, und dann kam…« Sie brach ab, ihre Augen weiteten sich in der Erinnerung an diese furchtbaren Sekunden. »Was ist mit Jonas?« fragte sie dann.

»Er ist nur leicht verletzt worden und konnte nach ambulanter Behandlung schon wieder entlassen werden.«

»Gut.« Susanne schloß kurz die Augen, dann sah sie die Schwester wieder forschend an. »Und ich? Was ist mit mir? Ich kann mich überhaupt nicht bewegen!«

Schwester Walli legte ihr tröstend die Hand auf den Arm. »Keine Sorge, das wird alles wieder. Aber wir vermuten, daß Sie sich bei dem Unfall das Rückgrat ein wenig geprellt haben, deshalb hat unser Chefarzt Sie in ein Gipsbett gelegt. So können Sie sich nicht bewegen, es kann nichts passieren, das den Heilungsprozeß gefährden könnte.«

»Es ist also nichts Schlimmes?«

Walli zögerte, dann erwiderte sie: »Ich kann Ihnen nichts Genaues sagen, Frau Burgmer, dazu bin ich auch gar nicht berechtigt. Aber ich bin sicher, daß Dr. Winter – das ist unser Chef – Sie gleich zur Visite besuchen wird. Er kann Ihnen dann genauere Auskünfte geben.«

Zum Glück ließ sich die Patientin damit erst einmal beschwichtigen. Walli half ihr, einen Schluck Wasser zu trinken, dann fielen Susanne die Augen wieder zu. Das beruhigende und schmerzstillende Mittel, das man ihr zusammen mit der Infusion verabreichte, tat seine Wirkung.

Schwester Walli sah mitleidig auf die attraktive junge Frau nieder. Sie war so schön, das ebenmäßige Gesicht glich dem der jungen Catherine Deneuve, und die dichten dunklen Augenwimpern warfen lange Schatten auf die jetzt viel zu blassen Wangen.

Walli konnte sich vorstellen, daß die junge Frau viele Verehrer gehabt hatte, denn sie war einfach wunderschön. Doch jetzt… wie würde das in Zukunft sein? Wer würde sich um sie bemühen, wenn sie wirklich im Rollstuhl sitzen mußte? Der Schwester fiel ein, daß sie gehört hatte, ein berühmter Rennfahrer hätte am Steuer des Unfallwagens gesessen. Ob er Susanne Burgmers Freund war? Ob er auch jetzt, da so schwere Zeiten auf die Kranke zukamen, zu ihr stehen würde? Sie kam nicht dazu, länger über dieses Problem nachzugrübeln, denn als sie auf den Flur hinaustrat, kam ihr Dr. Bernd Schäfer entgegen. Er hatte es eilig.

»Komm mit, Walli«, bat er, »unten in der Ambulanz wird jede Hand gebraucht. Ich habe gerade von Schwester Bea einen Hilferuf erhalten.«

Die Oberschwester zögerte nicht länger und folgte dem breit gebauten und ziemlich übergewichtigen Arzt hinunter in die Notaufnahme.

Hier herrschte reger Betrieb, wie sich gleich erkennen ließ, denn außer zwei jungen Schwestern, die geschäftig hin und her eilten, sah man noch Frau Dr. Martensen und eine Röntgenassistentin, die gerade ein paar Aufnahmen in einen Untersuchungsraum brachte.

Gerade als Walli ins Arztzimmer gehen wollte, kam Dr. Winter aus einem Behandlungsraum. Er hatte einen ziemlich blutverschmierten Kittel an, wirkte jedoch zufrieden und entspannt.

»Na, geht alles klar?« erkundigte sich Schwester Walli.

»Bisher noch.« Adrian knöpfte sich den Kittel auf. »Ich hatte gerade einen Vierjährigen, der vom Dreirad gestürzt ist. Beide Knie total aufgerissen, die Händchen verschrammt. Aber es ist alles nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussah. Ich habe die Wunden gesäubert und verbunden. Zum Glück war der Kleine schon ausreichend geimpft. Jetzt ist er ganz stolz auf seine Verbände – und einen Teddy, den Schwester Ulla ihm geschenkt hat.«

»Und du hast den Jungen wohl geknuddelt, was?« Walli nahm den schmutzigen Kittel entgegen.

»Er wollte nicht auf den Untersuchungstisch«, erklärte Adrian. »Da hab’ ich ihm erst mal ein paar Dinge im Zimmer erklärt – und ihn dazu auf den Arm genommen.« Er zuckte mit den Schultern und lächelte jungenhaft. »Die Wäscherei will doch auch was zu tun haben!«

»Na klar, die sind ja auch in einer großen Klinik total unterbeschäftigt«, lachte Walli und reichte ihm einen frischen Visitenmantel.

Gerade hatte Adrian Winter ihn zugeknöpft, als von draußen erneut das Martinshorn erklang.

»Neue Kundschaft«, sagte Walli lakonisch.

»Bleibst du hier und hilfst mir?« bat Adrian. »Schwester Bea ist zwar sehr willig, aber noch nicht ganz firm, wenn es gilt, mit schwierigen Patienten fertig zu werden.«

»Sicher«, nickte Walli.

Das Sirenengeheul erstarb, eine junge Schwester kam eilig auf Dr. Winter zu. »Ein schwerer Motorradunfall«, meldete sie. »Ich… ich war gerade mal kurz draußen… die Männer kommen gleich.« Sie hatte hektisch gerötete Wangen und wirkte sehr aufgeregt. Still für sich dachte Adrian, daß diese junge Frau noch nicht erfahren genug war für die Arbeit in der Notaufnahme, wo es galt, auch in Krisensituationen die Nerven zu behalten.

Und da kamen schon zwei Sanitäter durch den Eingangsbereich.

Dr. Winter schaute kurz in Kabine 3, wo er seinen Kollegen Bernd Schäfer wußte. Der junge Assistenzarzt versorgte einen alten Herrn, der auf der Straße einen leichten Kreislaufkollaps erlitten hatte.

Jetzt aber ging es ihm schon wieder ganz gut, er saß in einem Stuhl und wartete darauf, daß sein Sohn kam, um ihn abzuholen.

Mit einem Blick überzeugte sich Adrian Winter davon, daß Dr. Schäfer hier nicht mehr gebraucht wurde. »Es gibt Arbeit, Bernd«, sagte er deshalb hastig. »Kannst du mitkommen?«

»Sofort.« Dr. Schäfer verabschiedete sich mit einem knappen Händedruck von dem alten Patienten, dann folgte er Adrian im Laufschritt hinüber in den großen Untersuchungsraum, der in der Mitte der Ambulanz eingerichtet worden war.

Nach einem kurzen Blick auf den verletzten Motorradfahrer ordnete Dr. Winter an: »Blutgruppe bestimmen und Konserven fertig machen.«

»Kochsalzlösung wurde bereits im Notarztwagen gegeben«, sagte einer der Sanitäter.

»In Ordnung, danke.« Dr. Winter begann mit einer ersten umfassenden Untersuchung des Mannes. Er war etwa dreißig Jahre alt, dunkelhaarig und wirkte durchtrainiert. Jetzt allerdings war sein Kreislauf ganz am Boden, das Herz flatterte, und Dr. Winter mußte erkennen, daß das linke Bein des Patienten stark in Mitleidenschaft gezogen worden war. Mehrere Knochenbrüche, zwei offen, waren deutlich auszumachen. Außerdem vermutete der Arzt Rippenbrüche, und er hoffte für den Verunglückten, daß sich keine der Rippen in die Lunge gebohrt hatte.

»Hier unten können wir kaum was für ihn tun«, meinte der Chef der Unfallabteilung. »Wenn der Kreislauf stabil ist, bringt ihn hoch in OP 1. Welcher Chirurg steht zur Verfügung?«

»Frau Dr. Hemmerich«, erwiderte Schwester Walli und verzog leicht das Gesicht. Ute Hemmerich arbeitete erst seit kurzem an der Kurfürsten-Klinik, doch sie hatte es rasch verstanden sich unbeliebt zu machen. Sie war kühl, rechthaberisch und – leider – nicht einmal so kompetent, daß man ihr das unfreundliche Benehmen nachgesehen hätte.

Aber sie war, so hieß es, eine gute Bekannte des Klinikdirektors, und nur so konnte man erklären, daß sie für ein halbes Jahr eine Anstellung bekommen hatte.

Adrian Winter jedenfalls hielt nicht besonders viel von der Vierzigjährigen, und so erklärte er nach kurzem Zögern: »Wir machen das selbst, Bernd. Du assistierst, und du Walli, treibst mir Dr. Roloff auf. Dazu eine versierte Instrumentöse.«

»Geht klar.« Walli, die genau wußte, daß viel von einem gut aufeinander eingespielten Team abhing, schaffte es, Dr. Roloff in der Kantine aufzutreiben. Der Anästhesist hatte bereits drei Operationen hinter sich, wollte sich gerade bei einer Tasse Kaffee und einem Imbiss stärken. Doch es war für ihn selbstverständlich, die eigenen Interessen zurückzustellen und mit hoch in die OP-Abteilung zu kommen.

Unterdessen wurde der neue Patient geröntgt, und es stellte sich dabei heraus, daß er zwei Beinbrüche, drei gebrochene Rippen und einen Riß in der Beinaorta hatte.

»Alles in allem hat er noch Glück gehabt«, kommentierte Adrian Winter. »Wir müssen nur zusehen, daß dieser eine Bruch links unten, richtig behandelt wird, sonst droht eine Sepsis. Der Knochen ist ein ganzes Stück rausgetreten und hat die Haut durchtrennt.«

»Sollen wir noch Ultraschall machen?« erkundigte sich Dr. Schäfer.

»Ja, würde ich vorschlagen. Dann wissen wir noch exakter Bescheid, was alles verletzt ist. – Wie sind die Kreislaufwerte inzwischen?«

»Ganz in Ordnung«, meldete Schwester Walli. »Seit die Infusion läuft, hat er sich stabilisiert, der Kreislauf.«

»Dann los, laßt uns keine Zeit mehr verlieren.«

Die Klinik-Maschinerie begann zu arbeiten. Der Patient wurde zum Ultraschall gebracht, laufend wurde der Kreislauf kontrolliert, die Röntgenbilder wurden ausgewertet und das erste EKG.

»Soweit alles zufriedenstellend«, meinte Dr. Winter. »So, wie’s aussieht, ist die Wirbelsäule nicht betroffen. Fast ein Wunder bei diesem Unfall.« Er klemmte noch zwei weitere Bilder in den Leuchtkasten und studierte sie eingehend, doch er konnte nichts Besorgnis erregendes feststellen.

»Hat Glück gehabt, der Mann«, kommentierte Dr. Schäfer. »Und mir reicht, ehrlich gesagt, eine Patientin, der eine dauerhafte Lähmung droht.«

»Hast ja recht. Aber so ganz aufatmen können wir erst in ein paar Tagen. Über eventuell geschädigte Nerven sagt so ein Röntgenbild ja doch nichts aus.«

Das stimmte. Mögliche Schäden würden sich erst in ein paar Tagen zeigen. Immer wieder waren bei dieser Art Unfälle bange Tage zu überstehen. Daran ließ sich nichts ändern. Ärzte und Patienten konnten nur das Beste hoffen.

Als alle Untersuchungsergebnisse vorlagen, gab Dr. Winter den Befehl, mit der Operation zu beginnen.

Dr. Roloff hatte schon die Narkose eingeleitet, der Patient lag schlafend auf der Tabula.

Konzentriert und mit sicheren Handbewegungen nahm der Chirurg seine Arbeit auf.

Als erstes nähte er den Aortenriß, dann führte er, assistiert von Dr. Schäfer, ein paar Schrauben in die Beinknochen ein. Die würden in einigen Monaten eine zweite Operation, zum Entfernen der Metallstücke, erforderlich machen.

»Verdammt viele Splitter am Unterbein«, stieß Dr. Schäfer hervor.

»Ja, das war klar. Wir müssen auch den letzten vorsichtig entfernen, sonst besteht die Gefahr, daß so ein Knochenteil durch den ganzen Körper wandert und woanders gravierende Schäden verursacht«, sagte Dr. Winter. »Also weiter… wir müssen uns ein bißchen beeilen, der Kreislauf droht abzusacken.«

*

Susanne träumte. Sie träumte von ihrer Hochzeit mit Jonas, sah sich am Altar stehen – gekleidet in diesen Traum aus weißer Spitze, den sie vor einigen Tagen in einem Modejournal gesehen hatte.

Jonas stand neben ihr… nein, er ging weg. Er ging und ließ sie stehen… einfach so. Ohne ein Wort zu sagen… Sie hörte ganz deutlich die Kirchentür ins Schloß fallen.

Als sie sich nach ihm umdrehen wollte, konnte sie das nicht. Sie war nicht in der Lage, den Kopf zu bewegen. Sie konnte sich gar nicht bewegen!

Panik erfaßte sie, und obwohl diese furchtbare Szene nur in ihrem Traum stattfand, wurde die junge Frau so unruhig, daß die junge Lernschwester Sina, die man ihr als Sitzwache ans Bett gegeben hatte, Alarm auslöste.

Wenig später kam Dr. Julia Martensen, und nachdem sie den Zustand der Schwerkranken kontrolliert hatte, gab sie ihr noch ein leichtes Beruhigungsmittel, und Susanne konnte wieder tiefer schlafen.

»Armes Ding«, murmelte die Ärztin. »Sie hat den Leichtsinn ihres Freundes teuer bezahlen müssen.«

Schwester Sina sah auf. »Das ist doch der Rennfahrer, nicht? Jonas Johannson heißt er.«

»Stimmt. Und er hat den Unfall ohne allzu schwere Verletzungen überstanden. Allerdings gibt es Zeugen dafür, daß er die Kreuzung zu schnell überfahren hat. Der Unfallgegner ist zwar der Hauptschuldige, aber… Herr Johannson als versierter Autofahrer hätte besser reagieren können, wenn er nicht so gerast wäre.«

»Er hat wohl seinen Privatwagen mit dem Rennwagen verwechselt«, meinte Schwester Sina, die überhaupt nichts für Autos übrig hatte. Sie fuhr Rad, und in ihrer Freizeit ging sie reiten. Ein Hobby, für das sie ihr letztes Geld ausgab.

»Passen Sie weiter gut auf, Schwester Sina«, bat die Ärztin. »Und alarmieren Sie mich sofort, wenn sich der Zustand von Frau Burgmer verändert.«

»Selbstverständlich, Frau Doktor.« Sina nahm wieder ihren Platz dicht am Krankenbett ein. Sie legte Susanne leicht die Hand auf die unruhig über die Bettdecke gleitenden Finger, und tiefes Mitleid mit der Patientin überkam sie.

*

Der Eingriff dauerte jetzt schon über zwei Stunden. Die Instrumentenschwester reichte dem Operateur gerade die letzte Klemme, und eine unsterile Schwester tupfte ihm den Schweiß von der Stirn.

Das war nicht ungewöhnlich. Jeder Operateur schwitzte während seiner Arbeit. Das kam teils durch die große Konzentration, teils durch die hellen OP-Lampen, die Hitze verströmten.

»Nähen«, wies Dr. Winter seinen Kollegen jetzt an und machte ein paar kleine Schritte vom Tisch zurück.

Dr. Schäfer übernahm seinen Platz und begann, die einzelnen Hautschichten sorgfältig zu vernähen. Dann legte er noch eine Drainage, durch die das Wundsekret abfließen konnte.

Als auch das erledigt war und auch der Anästhesist seine Arbeit beendet hatte, konnte der Patient zur Aufwachstation gebracht werden. Hier würde Dr. Roloff weiter betreuen und dafür sorgen, daß er die lange Narkose gut verkraftete.

»Sieht so aus, als hätte der Mann Glück im Unglück gehabt«, meinte Adrian Winter, als er sich gemeinsam mit den Kollegen im Vorraum von der beschmutzten OP-Kleidung befreite.

»Ja, sieht so aus. Und ich wünsche es ihm von Herzen«, sagte Dr. Schäfer. »Aus seinen Papieren geht hervor, daß er von Beruf Architekt ist. Wäre ziemlich schlimm für ihn, wenn er eine Behinderung zurück behielte. Ein Architekt muß beweglich sein, muß auf Baustellen herumlaufen und auf Gerüsten klettern können.«

»Wir haben jedenfalls getan, was in unserer Macht stand«, gab Adrian zurück. Dann sah er auf die Uhr. »Mein Gott, schon neun Uhr am Abend!«

»War dann wohl mal wieder nichts mit einem pünktlichen Feierabend«, kommentierte Dr. Schäfer.

»Da hast du recht. Jetzt mache ich noch rasch eine kleine Visite, dann ist aber endgültig Schluß für heute.« Damit verließ er die OP-Abteilung und machte sich auf den Weg zu den Patienten, die ihm für einige Tage oder Wochen anvertraut waren.

*

Seit zehn Tagen lag Susanne Burgmer jetzt bereits in der Kurfürsten-Klinik, und erst heute kam Jonas Johannson zum ersten Mal zu Besuch.

Er betrat die Klinik durch einen Seiteneingang, weil er nicht wollte, daß irgend jemand auf ihn aufmerksam wurde und vielleicht sogar die Presse informierte. Bisher war es ihm und seinem Manager gelungen, die Meldungen über den Unfall ziemlich klein zu halten. Niemand ahnte, daß Susanne schwer verletzt worden war. Offiziell hieß es, der Rennfahrer sei mit ein paar Schrammen, seine Beifahrerin und Freundin mit einem harmlosen Knochenbruch davongekommen.

Als er die Station, auf der Susanne lag, erreicht hatte, wickelte Jonas die lachsfarbenen Rosen aus dem Papier.

Eine junge Krankenschwester kam schüchtern auf ihn zu. »Darf ich Ihnen das Papier abnehmen, Herr Johannson?« fragte sie.

»Danke.« Jonas zögerte. Er überlegte, ob er die Schwester um Diskretion bitten sollte, entschied sich aber dann dagegen. Wenn er so tat, als sei es ganz normal, daß er einen Krankenbesuch machte, gab es sicher auch keine Spekulationen.

Er überlegte nicht einen Augenblick lang, daß es eigentlich nichts Selbstverständliches gab, als daß er sich um Susanne kümmerte, die schließlich durch seine Schuld so schwer verletzt worden war. Außerdem hatte er ja selbst ein paar Tage lang in der Klinik gelegen, einige der Pflegerinnen kannten ihn genau.

Jonas jedoch machte sich keine Gedanken darüber, was andere empfanden oder mutmaßten. Er dachte nur an sich, an seinen Ruf, seine Karriere. Und so fragte er die junge Schwester mit charmantem Lächeln: »Wenn Sie möchten, können Sie ein Autogramm bekommen. Was soll ich schreiben?«

»Für Jasmin«, hauchte Schwesterschülerin Jasmin Magert und wurde vor Verlegenheit rot.

Jonas nahm eine seiner Autogrammkarten aus der Jackettasche und schrieb das Gewünschte darauf. Als er das Blatt der jungen Frau reichte, meinte er: »So, und jetzt muß ich zu meiner Freundin. Sie wartet sicher schon auf mich. Wissen Sie zufällig, wie es ihr geht?«

Jasmin schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, das weiß ich leider nicht. Mit so schweren Fällen bin ich noch nicht betraut. Aber wenn Sie möchten, kann ich Dr. Winter für Sie ausfindig machen, er kann Ihnen bestimmt das Meiste sagen. Oder die Oberschwester. Sie betreut Frau Burgmer oft selbst.«

»Danke, aber nicht nötig«, winkte Jonas rasch ab.

Das Blut stieg ihm zum Herzen. Susanne ging es also so schlecht, daß nur bestens geschultes Personal zu ihr durfte. Mein Gott, wie sollte es mit ihnen weitergehen? Er mochte nichts mit Krankheiten zu tun haben. Er hatte eigentlich ja nicht mal Zeit gehabt, heute herzukommen. Das Training in Budapest wartete. Bei dem Unfall war er selbst schließlich auch verletzt worden und hatte ein paar Tage hier in der Klinik liegen müssen. So war wertvolle Trainingszeit verlorengegangen. Die galt es jetzt aufzuholen.

Aber… so ganz konnte er Susanne nicht abschieben. Sie gehörte irgendwie ja doch zu seinem Leben. Er liebte sie… oder – hatte er sie geliebt? War dieses Gefühl bei dem Unfall zerstört worden?

Jonas war viel zu feige, um sich diese Frage ehrlich zu beantworten. Er wußte nur, daß er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er sich bisher nicht um Susanne gekümmert hatte, die doch durch seine Schuld hier liegen mußte. Aber da war noch dieser Tumorverdacht, von dem Dr. Winter gesprochen hatte… ob er sich erhärtet hatte? Ob Susanne inzwischen wußte, wie es um sie stand?

Wenn du dich gekümmert hättest, wüßtest du Bescheid und müßtest jetzt nicht so elend hier herumstehen, schimpfte er im Geist mit sich selbst. Doch dann gab er sich einen Ruck. Es half nichts – er mußte sich jetzt den Tatsachen stellen!

Er klopfte kurz und trat dann in Susannes Zimmer, die Rosen fest umklammert, als könnte er an den zarten Blüten einen Halt finden…

Susanne lag im Bett und hielt die Augen geschlossen.

»Hallo…« Er ging auf Zehenspitzen näher. »Wie fühlst du dich, Schatz?« fragte er und berührte ihre Hand auf der Bettdecke sehr vorsichtig.

Susanne schlug die Augen auf. »Ach, Jonas…« Sie lächelte matt. »Geht’s dir gut? Haben Sie dich entlassen?« Sie wies auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. »Setz dich doch. Bist sicher noch nicht ganz sicher auf den Beinen.«

Forschend sah er sie an. Schwang vielleicht Ironie in ihrer Stimme mit oder glaubte sie wirklich, daß er bis vor kurzem noch in der Klinik gelegen hatte?

Nein, ihre Miene war ganz ernst, ihr Blick sorgenvoll auf ihn gerichtet. Also glaubte sie wirklich, daß auch er noch bis vor kurzem Patient gewesen war.

»Ich hab den Unfall ganz gut überstanden«, antwortete er und räusperte sich die Kehle frei. »Mir geht’s wieder ganz gut. Die Verletzungen sind ausgeheilt, die Ärzte haben mir sogar schon wieder leichtes Training erlaubt.«

»Schön für dich.« Sie biß sich kurz auf die Lippen. »Mit mir geht’s leider gar nicht aufwärts.«

»Aber ja doch.« Er mußte sich beinahe dazu zwingen, sich über sie zu beugen und ihr einen Kuß zu geben. »Du brauchst nur mehr Zeit. Schließlich warst du schwerer verletzt als ich…« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Ach, Susanne, es tut mir so leid. Aber ich hab’ diesen anderen Wagen einfach nicht gesehen.«

»Ich doch auch nicht.« Sie hob die Hand und streichelte seine Wange. »Mach dir deshalb keine Sorgen. Die Polizei war auch schon hier und hat mich als Zeugin verhören wollen, aber ich konnte gar nichts aussagen. Ich weiß von dem Unfall gar nichts mehr. Es ist, als wären diese Minuten ganz aus meinem Gedächtnis ausgelöscht worden. Dr. Winter meint allerdings, daß das ganz normal ist. Irgendwann kommt der Tag, an dem mir alles wieder bewußt ist, was da geschehen ist.«

»Das glaube ich auch.« Jonas spürte einen Herzschlag wie einen schweren Vorschlaghammer in der Brust. Die Selbstvorwürfe quälten ihn, das schlechte Gewissen peinigte. Aber da war auch ein Drang, der nur forderte, endlich von hier zu verschwinden, sich nicht mehr zu kümmern, alles, was mit Susanne, ihrem Unfall und ihrer wahrscheinlichen Krankheit zu tun hatte, zu ignorieren.

»Die Rosen.« Er wies auf den Blumenstrauß, den er bei der Begrüßung auf die Bettdecke gelegt hatte. »Ich hole eine Vase.«

»Ich kann doch der Schwester klingeln«, wandte Susanne ein. »Die sind alle so lieb hier. Sie verwöhnen mich – und mir ist es oft so peinlich, daß ich sie immer belästigen muß. Aber da ich ja nicht aufstehen kann…« Sie biß sich auf die Lippen.

»Nun, dann werde ich die Schwestern wenigstens ein Mal entlasten und jetzt eine Vase organisieren«, meinte Jonas und erhob sich.

Susanne widersprach nicht mehr. Sie spürte genau, daß Jonas sich unwohl fühlte, und sie konnte ihn auch gut verstehen. Es war für ihn, den Agilen und immer in Bewegung Seienden sicher schwer, bei ihr am Krankenbett zu sitzen.

Dabei brauchte sie ihn jetzt so sehr! Angst quälte Susanne. Angst vor der Diagnose, die auf sie wartete, Angst vor der Zukunft.

Es war der jungen Frau seit Tagen klar, daß sie nicht nur an den Unfallfolgen litt. Irgend etwas war passiert mit ihr, etwas, das sie lähmte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dr. Winter, der sympathische Chefarzt der Unfallstation, hatte schon zum zweiten Mal eine umfangreiche Untersuchung vorgenommen, er hatte eine CT anfertigen lassen, hatte ihr Blut kontrolliert und sie nach vorhergehenden Beschwerden gefragt. Aber Susanne konnte sich an nichts erinnern. Nur an vage Rückenschmerzen, aber die hatte ja jeder mal, wenn er ein paar anstrengende Tage hinter sich hatte.

Jonas kam zurück und stellte den üppigen Rosenstrauß in eine Vase. Rote Rosen… Blumen der Liebe!

Susanne sah den Mann an, den sie doch eigentlich zu lieben geglaubt hatte und fragte sich, ob das Gefühl für ihn wirklich so groß, so einmalig war. Jonas war ein lieber Kerl. Er war amüsant, unterhaltsam, konnte charmant und weltgewandt sein. Aber er war auch oft eigensinnig, verschlossen – und sehr egoistisch.

Merkwürdig, daß diese negative Charaktereigenschaft ihr gerade jetzt einfiel. Oder – war es gar nicht so ungewöhnlich? Sie machte sich bewußt, daß sie schon viel länger als eine Woche hier in der Klinik lag. Und einige Tage war auch Jonas hier Patient gewesen.

Doch er war, wie sie hörte, nicht strikt ans Bett gefesselt gewesen. Wenn er es unbedingt gewollt hätte, wäre es ihm sicher erlaubt worden, sie einmal zu besuchen. Aber er hatte es nicht getan. Heute erst, da er schon lange entlassen war, kam er zum ersten Mal.

Das tat weh. Denn es machte ihr bewußt, daß Jonas’ Gefühle für sie nicht tief und aufrichtig sein konnten.

»Was ist denn mit dir los?« fragte er in diesem Moment. »Ich rede und rede – und du scheinst mir gar nicht zuzuhören.«

Susanne zuckte zusammen und sah ihn ein wenig schuldbewußt an. »Tut mir leid«, murmelte sie. »Was hast du denn gesagt?«

»Ich hab’ vom Training erzählt, und von Budapest.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das interessiert dich ja jetzt sicher nicht.«

»Dein Training…« Susanne biß sich auf die Lippen. »Seit wann bist du denn schon wieder dabei?«

»Seit drei Tagen«, erwiderte er spontan und verriet damit, wie gut er sich bereits wieder fühlte.

»Schön für dich.« Sie schloß sekundenlang die Augen, dann sagte sie: »Tut mir leid, Jonas, aber ich bin völlig erschöpft. Geh jetzt, ja?«

»Aber ich…«

»Bitte.« Sie reichte ihm die Hand und wartete, ob er sich wohl über sie beugen und sie küssen würde. Aber er hauchte nur einen kurzen Kuß auf ihre Wange, strich ihr übers Haar und zog sich zurück. Er wirkte erleichtert, und Susanne sah sich in ihren schlimmsten Ahnungen bestätigt.

Jonas war kein Mann, der sich mit einer kranken Frau belastete. Er wollte eine hübsche Begleiterin, eine Partnerin, die für ihn da war. Umgekehrt… nein, das war nicht sein Ding! »Ich komme wieder, ja?« fragte er schon von der Tür her.

»Ist gut.« Sie hielt die Augen geschlossen. »Bis dann.«

»Tschau, Susanne.« Er zog die Tür leise hinter sich ins Schloß und verließ die Kurfürsten-Klinik fast wie in Panik.

Susanne blieb allein zurück. Tränen liefen jetzt über ihre Wangen, und sie spürte, daß alles, was vor kurzem noch von Bedeutung für sie gewesen war, jetzt dahinschwand.

So fand sie Dr. Winter, als er das Zimmer betrat, um den Behandlungsplan der kommenden Tage mit Susanne durchzusprechen. Der Arzt hatte an diesem Morgen lange mit seinen Kollegen diskutiert, und alle waren einer Meinung: Die Patientin Susanne Burgmer litt an einem rasch wachsenden Tumor im Wirbelsäulenbereich. Einem Tumor, der sich jetzt, durch den Unfall und den harten Aufprall, vielleicht etwas verschoben hatte und eine Lähmung auslöste. Eine Lähmung, die sich sowieso bald eingestellt hätte.

Jetzt aber bestand erhöhter Handlungsbedarf, und es wurde Zeit, mit der Patientin offen zu reden. Sie war inzwischen wieder so stabilisiert, daß man ihr zumuten konnte, eine offene Unterhaltung über ihre Krankheit zu führen.

Dr. Winter sah bestürzt, daß Susanne weinte. »Was ist passiert?« erkundigte er sich und zog sich den Stuhl nahe ans Bett. Vorsichtig nahm er Susannes Hände in die seinen.

»Ich… es ist… ach, es ist alles so trostlos«, murmelte die junge Frau und drehte den Kopf zur Seite, so gut es eben ging.

»Es gibt einen Spruch, den hat mir meine Oma oft gesagt«, erwiderte Adrian Winter. »Und auch meine alte Nachbarin, die sehr lebensklug ist, zitiert ihn hin und wieder. Wollen Sie ihn hören?«

Beinahe unmerklich nickte Susanne. Doch Adrian hatte es registriert, und er sagte: »Der Spruch lautete: ›Immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.‹ Und glauben Sie mir, Susanne, an dieser simplen Aussage ist viel Wahrheit. Wie oft habe ich schon erfahren, daß dann, wenn man denkt, nie aus einem dunklen Tunnel herausfinden zu können, plötzlich an dessen Ende ein helles Licht erscheint. Man muß nur daran glauben.«

»Das ist aber verflixt schwer«, stieß Susanne hervor, und jetzt klang ihre Stimme sogar ein wenig aggressiv.

Dr. Winter hörte es mit Freude, denn er war sicher, daß Susanne mehr Kraft hatte, gegen den Tumor anzukämpfen, wenn sie von gesunder Wut erfüllt war. Wenn sie mit Elan daranging, dieses Ding in ihrem Körper zu hassen – und wenn sie alles daransetzte, es zu besiegen.

Es fiel dem Arzt nicht leicht, offen mit der jungen Frau zu sprechen, doch es mußte sein, und so begann er mit seinen Erläuterungen.

»Wir haben jetzt alle Untersuchungsergebnisse ausgewertet«, faßte er zusammen, »und es gibt eigentlich nur eine Erklärung dafür, daß Sie nicht laufen können: Der Tumor, der durch die Computertomographie deutlich sichtbar gemacht wurde, drückt auf Nervenstränge, und deshalb können Sie im Augenblick die Beine nicht bewegen.«

Susanne schloß sekundenlang die Augen. Sie wußte, was diese Worte bedeuteten. Nach einer Weile erst konnte sie fragen: »Und die Chancen, den Tumor zu beseitigen? Wie hoch sind die?«

Dr. Winter zögerte. Er blätterte noch einmal die Mappe durch, in der sich alle Unterlagen befanden, obwohl er jedes Blatt genau kannte. Er hatte alle Anamnesebögen sorgfältig studiert, hatte jedes Für und Wider erwogen…

»Was ist das alles?« fragte Susanne und sah ihn aus großen angsterfüllten Augen an. »Bitte, Dr. Winter, sagen Sie mir die Wahrheit. Ich weiß, daß ich sie ertragen kann. Besser als diese furchtbare Ungewißheit.«

Adrian nickte. Er konnte verstehen, was die junge Patientin empfand, und er wollte sie auch so umfassend aufklären, wie es zu verantworten war. Deshalb nahm er eins der Untersuchungsblätter heraus und legte es so aufs Bett, daß Susanne mitlesen konnte.

»Ich… ich verstehe nicht, was das bedeuten soll«, sagte sie nach einem ersten flüchtigen Blick.

»Das können Sie auch nicht. Augenblick, ich erkläre Ihnen alles.« Er zog einen Kugelschreiber heraus und wies damit auf ein paar Zahlenkolonnen. »Das sind die Ergebnisse der Laborwerte. Hier das sind Blutdruckwerte, die sind ganz in Ordnung. Und dieses hier…« Er griff nach einem weiteren Blatt, »… dies sind grafische Darstellungen des Rückens. Und natürlich in erster Linie der Wirbelsäule.«

Absichtlich drückte er sich recht vage aus, aber Susanne war viel zu intelligent, um nicht weiter zu fragen. »Und? Was heißt das, wenn Sie mir sagen, daß vor allem die Blutdruckwerte zufriedenstellend sind? Mir sagt das nur, daß alles andere nicht in Ordnung zu sein scheint.« Sie biß sich auf die Lippen, aber sie zwang sich, den Arzt offen anzuschauen.

Adrian nickte. »Leider haben Sie recht. Alles andere gibt zur Besorgnis Anlaß.« Er holte ein paar Röntgenbilder aus der Mappe und wies auf eine ganz bestimmte Stelle. »Sehen Sie hier die Ausbuchtung? Das scheint ein Tumor zu sein. Er drückt aufs Rückenmark, deshalb können Sie sich nicht bewegen.«

Susanne blieb eine Weile still, dann seufzte sie laut auf. »Gelähmt«, meinte sie dann, und ihre Stimme schien kaum noch Klang zu haben. »Ich bin gelähmt, weil dieser Tumor…« Sie brach ab und griff nach Adrians Hand, drückte sie fast schmerzhaft fest. »Aber wieso denn so plötzlich? Ich hab’ doch nie was gemerkt! Es kann doch nicht sein, daß man von einer Sekunde zur anderen gelähmt ist!«

»Sie haben von Rückenschmerzen gesprochen«, erinnerte er sie. »Und Sie haben diese Beschwerden nicht untersuchen lassen. Vielleicht wäre ein Kollege schon vor Wochen auf den Tumor gestoßen.«

»Aber so ein bißchen Reißen und Drücken… das hat doch jeder mal!« Jetzt liefen Tränen aus ihren Augen, sie wischte sie mit einer fast trotzigen Bewegung fort. »Und jetzt? Was wollen Sie tun?«

Adrian nahm die Blätter wieder an sich und verstaute sie in der Mappe. »Wir müssen versuchen zu operieren«, sagte er zögernd. »Aber das ist nicht so einfach. Sie haben die Lage des Tumors gesehen… ich vermute, daß er infolge des Unfalls seine Position leicht verändert hat, das sagte ich ja schon. Und deshalb steht zu befürchten, daß er sich noch weiter ins Knochenmark hineinfrißt.«

»Dann verhindern Sie das doch!« schrie Susanne unterdrückt auf. »Sie können doch nicht einfach zusehen, wie ich…«

»Nicht doch.« Adrian legte die Hand auf ihre zitternden Finger und hielt sie fest umschlossen. »Glauben Sie mir, Susanne, wir versuchen Ihnen so optimal wie möglich zu helfen. Aber bevor wir etwas unternehmen, müssen wir ein Team von Spezialisten zusammenstellen. Ein normaler Chirurg wie ich kann das einfach nicht leisten.«

Sie sah ihn aus tränenfeuchten Augen an. »Zu Ihnen habe ich aber Vertrauen«, gestand sie.

Adrian sah sie warm an. »Danke, das ist sehr ehrenvoll, aber es wäre vermessen, wenn ich mich allein an einen solchen Eingriff wagen würde.«

»Und… wer soll das dann wagen?« fragte sie.

»Ich habe mit einem Professor aus Hannover telefoniert. Und mit einem ehemaligen Studienfreund, der jetzt in London arbeitet. Er ist vielleicht bereit, zu kommen.«

»Und? Ist er gut?«

»Er ist der Beste, wenn Sie mich fragen. Das Problem ist nur, ob wir unsere Termine koordiniert bekommen.«

»Hoffentlich.« Susanne schloß für Sekundenbruchteile die Augen, dann flüsterte sie: »Ich möchte so gern noch leben, Dr. Winter. Und… ich möchte gehen können. Ein Leben im Rollstuhl ist einfach grausam!«

»Aber es ist ein lebenswertes Leben.« Der Arzt erhob sich. »Glauben Sie mir, ich kenne viele Patienten, die sich mit ihrem Schicksal sehr gut arrangiert haben und viel Positives erleben. Es kommt immer auf die Einstellung an. Und auf den Willen, der jeweiligen Situation das Beste abzugewinnen.«

»Ich weiß.« Susanne mußte wieder eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. »Und ich will auch nicht zu viel vom Schicksal verlangen. Aber… ich kann’s mir einfach nicht vorstellen, wie es wohl ist, nie wieder laufen, nie wieder tanzen – und nie wieder lieben zu können.«

Darauf konnte Dr. Winter nichts erwidern. Auch er wußte nicht, wie man sich dann fühlte. Und er fand, daß jetzt jedes weitere Wort nur hohl und leer – und Lüge gewesen wäre. Deshalb stand er auf und sagte nur: »Ich versuche alles, um Dr. Franklin dazu zu bewegen, herzukommen. Das verspreche ich Ihnen, Susanne.«

»Danke.« Sie sah ihm nach. Mit brennenden Augen – und mit einer winzigkleinen Hoffnung im Herzen. Adrian jedoch ging in sein Büro und wertete noch einmal alle Untersuchungsergebnisse aus. Das, was dabei herauskam, war deprimierend.

*

»Und? Wie steht es? Hast du mit deinem Studienfreund gesprochen?« Dr. Roloff, der Anästhesist der Kurfürsten-Klinik, kam ins Büro und sah die Krankenakte von Susanne Burgmer auf Adrians Schreibtisch liegen. »Wird er der jungen Frau helfen können?«

Adrian zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Er will sich alles ansehen – mehr hat er nicht versprochen.«

»Die Zeit drängt aber«, mahnte der Anästhesist. »Wenn du mich fragst, handelt es sich um einen massiv wachsenden und höchst aggressiven Tumor. Da ist jeder Tag im Grunde kostbar.«

»Ich weiß, ich weiß.« Adrian Winter seufzte. »Aber mir ist auch bewußt, daß ich Julian Franklin nicht allzu stark unter Druck setzen kann. Schließlich hat er seine Arbeit an der Klinik – und ist Dozent an der Uni. Das alles muß man erst mal unter einen Hut bringen.«

»Das sagst gerade du!« Werner Roloff grinste ein bißchen schief. »Wenn’s um das Wohl deiner Patienten geht, bist du doch im Grunde bereit, auf allen Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen.«

»Aber nicht immer mit Erfolg.« Adrian griff wieder nach der Anamnese-Mappe. »Sieh nur, hier…« Er wies wieder einmal auf die Stelle der Computertomographie, auf der der Tumor deutlich zu erkennen war.

»Ja, ja, ich weiß«, nickte Dr. Roloff. »Man sieht ganz deutlich, wie eine Ausbuchtung der Geschwulst auf den spinalen Kanal drückt und somit das Rückenmark beengt, ohne es allerdings zu unterbrechen.«

»Das ist das einzig Gute an der Sache.« Adrian seufzte. »Ich möchte morgen nochmals eine CT machen, mal sehen, wie die Sache sich in den letzten Tagen weiterentwickelt hat. Und dann rufe ich Julian an. Er wartet auf diesen Bescheid.«

»Na, dann kann man der jungen Frau nur die Daumen drücken.« Dr. Roloff ging wieder zur Tür. »Ich mache noch schnell eine letzte Visite und sehe auf Intensiv nach dem Rechten, dann muß ich heim. Meine Frau hat Opernkarten besorgt – und ich will nicht riskieren, daß für Tage der Haussegen schief hängt, nur weil ich nicht rechtzeitig zu Beginn der Vorstellung da war.«

Adrian lachte. »Kann ich verstehen. Was mußt du dir denn ansehen? Wagner?«

»Zum Glück nicht. Irgendwas von Verdi natürlich. Im Verdijahr kommt man an dem Komponisten ja nicht vorbei. Aber das ist mir noch immer am liebsten, ehrlich gesagt.«

»Dann viel Vergnügen. Und grüß schön zu Hause.«

»Mach ich. Bis morgen, Adrian.«

Damit ging Dr. Roloff und Adrian Winter versenkte sich nochmals in die Krankenunterlagen seiner augenblicklichen Sorgenpatientin. Aber was immer er auch erwog und in Gedanken durchspielte – Susannes einzige Rettung bestand in einer Operation!

*

Es ging fast schon auf Mitternacht zu, und in der Kurfürsten-Klinik war relative Ruhe eingekehrt. Nur die Nachtschwestern machten ihre Runden, auf der Intensivstation betreuten zwei Schwestern und drei Pfleger die ihnen anvertrauten Patienten, und im Kreißsaal kam gerade in dem Moment ein gesundes kleines Mädchen zur Welt.

Dr. Schäfer, der in der Notaufnahme Dienst hatte, war bisher noch nicht allzu oft zum Einsatz gekommen, er konnte sich sogar auf einer Liege ausstrecken und ein wenig schlafen.

Schwester Monika und die junge Lernschwester Bea saßen im Aufenthaltsraum und unterhielten sich, während Pfleger Manfred, der noch neu im Team war, sich um einen alten Stadtstreicher kümmerte, der volltrunken gestürzt war und sich eine harmlose, aber stark blutende Kopfwunde zugezogen hatte. Um die zu versorgen, mußte der Arzt nicht geweckt werden.

Manfred war etwa vierzig Jahre alt und schon fast zwanzig Jahre im Dienst. Er kannte sich gut aus und wurde mit fast allen Patienten fertig. So auch mit dem alten Obdachlosen, der froh war, versorgt zu werden. Sogar das Brot, das Manfred organisierte und ihm zusammen mit einem heißen Becher Tee gab, nahm er dankbar an.

»So, dann will ich mal wieder«, meinte er dann.

»Sie können auch noch bleiben«, bot Manfred an. »Hier ist’s ruhig zur Zeit und warm.«

»Laß mal, Junge, ich weiß schon, wo ich in dieser Nacht bleibe«, meinte der Alte und trollte sich, wobei er dankbar das Kuvert mit dem frischen Mull und dem Pflaster einsteckte, das Manfred ihm gab.

Während also allgemein Ruhe in der Kurfürsten-Klinik herrschte, lag Susanne Burgmer mit weit offenen Augen in ihrem Bett und starrte zur Decke hoch. Es gab so viel zu denken, zu grübeln… Susanne dachte an ihre Zukunfts-träume, die so jäh zerplatzt waren, sie dachte an Jonas, der in wenigen Tagen bereits in Budapest sein Rennen fahren würde. Ob er dann noch an sie denken würde? Oder hatte er sich schon so weit von ihr distanziert, daß er gar nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte?

Sie schaute zu dem üppigen Rosenstrauß hin, der auf dem kleinen Tisch am Fenster stand. Rote Rosen… eigentlich waren es Blumen der Liebe, aber ihr schien es so, als wären Jonas’ Rosen ein Abschiedsgruß. Und ein Zeichen dafür, wie schnell eine Liebe sterben konnte.

Eine Station weiter lag auch Thorsten Franzen schlaflos in seinem Bett. Was ihn quälte waren die Gedanken an seine Firma, die jetzt für längere Zeit ohne ihn, den Chef, auskommen mußte. Ob die fünf Mitarbeiter es schaffen würden, alle anfallenden Arbeiten zu erledigen?

Thorsten seufzte auf. Er war Architekt und seit drei Jahren sehr gut im Geschäft. Er hatte hervorragende Mitarbeiter, und dennoch… ohne den Chef lief es nie so gut!

Es klopfte leise, dann trat die Nachtschwester ein. »Können Sie immer noch nicht schlafen?« erkundigte sie sich teilnahmsvoll.

»Die Gedanken in meinem Kopf lassen mich einfach nicht zur Ruhe kommen«, gab Thorsten zu. »Aber machen Sie sich keine Gedanken, Schwester Mathilde, morgen hab’ ich Zeit genug, den versäumten Schlaf nachzuholen. Ich kann ja immer noch nicht aufstehen.« Wieder begleitete ein Seufzer diese Worte.

»Sie sollten froh sein, daß Ihr Unfall noch relativ glimpflich abgelaufen ist«, meinte die Pflegerin.

»Glimpflich?« Thorsten richtete sich so gut es ging auf. »Ich liege hier hilflos wie ein Baby – und Sie meinen, alles wäre glimpflich abgelaufen?«

»Sie hätten tot sein können«, gab die grauhaarige Schwester zu bedenken. »Sie ahnen ja nicht, wie viele Motorradunfälle täglich geschehen. Und was ich schon alles gesehen habe«, fügte sie leise hinzu.

Der Mann nickte. »Sie haben wahrscheinlich recht«, gab er zu. »Ich lebe noch – und werde wieder ganz gesund. Dafür muß man wirklich dankbar sein.«

»Gut, daß Sie das so sehen.« Schwester Mathilde lächelte ihm zu. »Versuchen Sie mal abzuschalten«, riet sie. »Vielleicht kann morgen schon alles anders aussehen. Sie werden, glaube ich, morgen nochmals in die Röhre gesteckt, nicht wahr?«

»Dr. Winter sprach davon, ja.«

»Na, dann warten Sie diese Untersuchung mal ab – vielleicht kriegen Sie dann schon Gehgips und tanzen durch die Klinikflure.«

»Sie sind eine Spötterin, Schwester«, lachte Thorsten.

»Ich bin eine erfahrene Frau«, gab die Pflegerin zurück. »Und deshalb sollten Sie in allem auf mich hören.«

»Wird gemacht.« Thorsten legte sich zurück und versuchte wirklich an nichts mehr zu denken. Und wirklich… nach einer Weile kam auch zu ihm der Schlaf.

Am nächsten Morgen fühlte er sich recht gut, und mit einer positiven Einstellung ließ er sich gegen neun Uhr von zwei Pflegern fertigmachen und dann zu einer neuerlichen CT bringen. Seit in der Kurfürsten-Klinik Untersuchungen per Computertomographie durchgeführt wurden, war das teure Untersuchungsgerät häufig besetzt. Auch andere, kleinere Kliniken, schickten Patienten her, damit bei ihnen eine solch umfassende Untersuchung durchgeführt werden konnte.

So kam es, daß Thorsten noch ein wenig warten mußte, da noch ein anderer Patient im Untersuchungszimmer war.

»Tut mir leid, aber das hab’ ich wohl ein bißchen falsch verstanden, entschuldigte sich der junge Krankenpfleger Jürgen bei ihm. »Ich dachte, Sie wären schon um halb elf dran.«

»Kein Problem«, versicherte Thorsten. »Ich bin ja nicht so krank, daß ich nicht hier herumliegen und ein bißchen warten könnte.«

Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, öffnete sich schon die große Schiebetür und ein anderes Krankenbett wurde herausgerollt.

Thorsten streifte den Mitpatienten erst mal nur mit einem flüchtigen Blick – und zuckte gleich darauf zusammen. Eine wunderschöne junge Frau lag in dem anderen Bett. Große, ein wenig melancholisch dreinblickende Augen, braune Haare, die leichte Naturlocken hatten, ein sensibler Mund, zarte, ein wenig hochstehende Wangenknochen… Er wußte es genau: Er war in dieser Sekunde seiner Traumfrau begegnet! Wenn man ihm gesagt hätte, daß es so etwas gab – er hätte nur amüsiert gelacht und behauptet, daß es einfach nicht möglich sei, sich Hals über Kopf in einen völlig fremden Menschen zu verlieben.

Doch jetzt… jetzt war es geschehen, und er sah sich diesem Gefühl völlig hilflos ausgesetzt.

Die Fremde rollte an ihm vorüber. Er sah ihren Blick, glaubte ein kleines Lächeln in ihren Mundwinkeln zu entdecken – und dann schob ihn der Pfleger auch schon in den Untersuchungsraum hinein, in dem das CT-Gerät stand.

Thorsten hätte am liebsten einen Fluch ausgestoßen. Warum mußte er gerade jetzt, in diesem Moment, so hilflos sein? Wenn er sich doch aufrichten und laufen könnte! Aber er mußte liegen bleiben, mußte diese Untersuchung über sich ergehen lassen.

Und erst nach einer qualvollen halben Stunde des Wartens erfuhr er endlich den Namen der Mitpatientin, die so großen Eindruck auf ihn gemacht hatte.

»Susanne Burgmer…« Er sagte diese zwei Wörter immer wieder leise vor sich hin, während er angestrengt darüber nachgrübelte, wie er es anstellen konnte, die Bekanntschaft der schönen Frau zu machen.

*

Susanne sah der Schwester zu, die gerade die Rosen, die ihr Jonas mitgebracht hatte, aus der Vase nahm. Die Blüten waren inzwischen verwelkt. Es ist wie ein Zeichen, dachte Susanne und sah zu, wie Schwester Monika die Blumen in den Abfall warf. So, wie die Rosen dahingewelkt sind, ist auch unsere Liebe vergangen. Sie erschrak über diesen Gedanken. Meine Liebe auch? fragte sie sich überrascht. Bedeutet Jonas mir inzwischen auch nichts mehr? Hat er mich so verletzt durch sein Benehmen, durch seine Lieblosigkeit und seinen Egoismus, daß all meine Gefühle für ihn gestorben sind?

Sie wagte sich diese Frage nicht zu beantworten. Nicht jetzt. Noch nicht…

Schwester Monika trat ans Bett und sah lächelnd auf die Patientin hinab. »Was kann ich denn noch für Sie tun, Susanne?« fragte sie. »Sie äußern so gar keinen Wunsch. Dabei möchten wir alle Sie so gern ein wenig verwöhnen.«

Die Kranke lächelte. »Das ist sehr lieb von Ihnen, aber ich hab’ wirklich keinen besonderen Wunsch. Ich werde gut versorgt, hab’ alles, was ich brauche…« Sie zögerte.

»Ja? Was hätten Sie gern?« hakte Schwester Monika sofort nach. »Sie hatten doch gerade was auf der Zunge!«

»Mein Malzeug.« Susanne nickte ein wenig mit den Schultern. »Aber das geht wohl nicht. In dieser Situation ist wohl nicht dran zu denken, irgend etwas zu malen.«

»Das sagen Sie mal nicht.« Schwester Monika lächelte optimistisch. »Sie sollen sich zwar so wenig wie möglich bewegen zurzeit, aber einen kleinen Block können Sie bestimmt so in die Höhe halten, daß Sie ein paar Skizzen darauf anbringen können. Meinen Sie nicht?«

Susanne nickte zögernd. »Doch das müßte gehen.« Sie sah die Schwester fragend an. »Was denken Sie, Schwester Monika… werde ich wieder gesund?«

»Aber ja!« Monika nickte spontan. »Sie müssen nur daran glauben. Ich jedenfalls tue es ganz fest. Und ich glaube daran, daß positive Gedanken sehr viel bewirken können. Außerdem ist Dr. Winter ein hervorragender Chirurg. Und wenn er, zusammen mit seinem Freund, den Eingriff wagen will… glauben Sie mir, dann haben Sie die allerbesten Chancen.«

»Danke.« Susanne lächelte ein wenig. »Sie verstehen es wirklich, einem Mut zu machen.«

»Dazu bin ich doch da – unter anderem«, schmunzelte Monika. »Jetzt schaue ich erst mal nach, ob ich irgendwo einen Block finde.«

»Und ich überlege mir ein paar Motive«, gab Susanne zurück, bemüht, der Schwester eine kleine Freude zu machen. Monika gab sich sehr viel Mühe mit ihr, da wollte sie gern wirklich so tun, als würde sie voller Zuversicht in die Zukunft blicken.

Eine Viertelstunde später hatte die junge Frau alles um sich herum vergessen. Sie hielt den Block in der Linken, mit der Rechten skizzierte sie ein paar Eindrücke, die sie in der Klinik gesammelt hatte. Und immer wieder ertappte sie sich dabei, daß sie ein markantes Männergesicht malte, das sich ihr unauslöschlich eingeprägt hatte…

*

»Sei lieb, Spätzchen, ja? Ich muß jetzt leider gehen, mein Nachtdienst fängt an.«

»Und wo bist du heute?« wollte das kleine Mädchen wissen und richtete sich im Bett auf.

»Auf der Intensivstation. Da kannst du mich wirklich nicht besuchen kommen, Tanja, das weißt du, nicht wahr?«

»Klar doch.« Die Vierjährige nickte und ließ sich nochmals zudecken. »Bin doch nicht doof. Dahin dürfen nur ganz schwer Kranke – und Schwestern wie du. Und Ärzte. Und andere Männer, die auch helfen, die Kranken wieder gesund zu machen. Und…«

»Du meinst Krankenpfleger. Das ist richtig. Und sonst darf da niemand hin. Vor allem keine neugierigen Kinder, denen es im Krankenhaus langweilig ist. Hier, das ist eine ganz neue Märchenkassette. Die darfst du noch hören, dann wird brav geschlafen.«

Tanja nickte, Schwester Juliane gab ihrer kleinen Tochter einen Kuß, dann verließ sie das Zimmer, das ihr Kind mit einer Siebzehnjährigen teilte. Der Teenager allerdings, dem man ebenfalls den Blinddarm herausgenommen hatte, hielt sich mehr auf dem Flur auf als im Zimmer. Immer waren Freundinnen und Freunde zu Besuch, es wurde gekichert und gelacht, und ein paar Mal hatte Schwester Juliane die jungen Leute auch beim Rauchen ertappt.

Die junge Frau seufzte, als sie die Tür des Zimmers hinter sich zuzog. Es war nicht ganz leicht, Tanja zu beschäftigen, und natürlich konnte sie von einer fremden Siebzehnjährigen nicht erwarten, daß sie sich um ihre kleine Zimmergenossin kümmerte. Doch ein wenig mehr Rücksicht und Hilfsbereitschaft wäre schon nett gewesen.

Na ja, dachte Schwester Juliane, man kann eben nicht allzuviel erwarten. Hoffentlich hält Bea Wort und sieht hin und wieder nach Tanja.

Die junge Lernschwester Bea hatte in dieser Nacht, zusammen mit Oberschwester Walli, Dienst. Und sie hatte versprochen, ein ganz besonderes Auge auf Tanja zu haben. Seit sie keine Schmerzen mehr hatte, denn der stark vereiterte Blinddarm war erfolgreich entfernt worden, und auch die befürchtete Bauchfellentzündung war nicht eingetreten, ließ sich das lebhafte kleine Mädchen kaum noch im Bett halten.

Schwester Juliane fuhr mit dem Lift hoch zur Intensivstation, und Tanja hörte sich aufmerksam die Märchenkassette an. Dann aber wurde es einfach zu langweilig. Immer diese Prinzessinnen und so was Albernes, wie die ohne Schuh durch die Gegend lief… Tanja beschloß, sich wirklichkeitsnähere Unterhaltung zu suchen und verließ unbemerkt das Zimmer…

Draußen auf dem Flur war alles still. Das kleine Mädchen spähte vorsichtig um die Ecke und wartete, ob nicht doch von irgendwoher eine von Mamis Kolleginnen auftauchte. Nein, die Luft war rein!

Tanja machte ganz vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Ein Glück, daß sie ihre dicken Pantoffel mit hatte. Die besaßen eine ganz weiche Sohle und quietschten nicht so laut wie die Sandalen, die die meisten Krankenschwestern trugen. Die machten immer so ein albernes Geräusch, wenn man damit über den Fußboden ging.

Der Gang blieb menschenleer. Auch in der Besucherecke, die durch Grünpflanzen ein bißchen vom Flur abgegrenzt wurde, hielt sich niemand auf. Wie langweilig!

Tanja beschloß, mal vorsichtig in eines der anderen Krankenzimmer hineinzusehen. Leise, ganz behutsam drückte das Kind im hellblauen Nachthemd die erste Klinke nieder und spähte in ein Zimmer, das nur durch die Notbeleuchtung erhellt war. In drei Betten lagen alte Frauen und schliefen.

»Echt doof«, murmelte Tanja vor sich hin und versuchte ihr Glück an der nächsten Tür. Hier lag eine Frau allein. Sie war an ganz viele Schläuche und einen leise zischenden Apparat angeschlossen. Auch sie hielt die Augen geschlossen.

Schwerkrank muß die sein, sagte sich Tanja. Wer an so viele Geräte angekabelt wird, ist ganz, ganz krank! Das hatte ihr die Mutti schon oft erklärt. Und mit so einer Kranken konnte man nichts anfangen.

Also – Tür Nummer drei! Leise drückte Tanja die Klinke nieder – und begann gleich zu lächeln. Im Bett lag eine junge Frau und hielt etwas in der Hand, das sie sich gerade kritisch im Licht der Nachttischlampe ansah.

»Hallo, ist dir auch langweilig?« wisperte Tanja und kam näher. »Mir ist ganz doll langweilig.«

Susanne Burgmer ließ den kleinen Block sinken und drehte den Kopf so weit es ging nach rechts. »Hallo, wer bist denn du?« fragte sie überrascht und warf ganz automatisch einen Blick zur Uhr. Neun Uhr dreißig fast. Eine ungewöhnliche Zeit für den Besuch eines kleinen Mädchens!

»Ich bin die Tanja. Ich war krank und man hat mir den Bauch aufgeschnitten. Aber jetzt tut’s fast gar nicht mehr weh. Aber ich darf noch nicht nach Hause. Und es ist so ätzend allein.« Sie trat näher. »Was ist denn mit dir? Hat der Dr. Winter dir auch den Bauch aufgeschnitten? Mir ja. Er ist ganz doll nett, der Dr. Winter. Er hat gesagt, daß ich Adrian zu ihm sagen darf. Und Onkel, wenn ich will. Und ich will. Ich hab’ ja keinen anderen Onkel.« Jetzt war sie ganz nahe herangekommen und bemerkte, daß Susanne den Kopf nicht weit drehen konnte, weil er eine Manschette trug. »Was ist denn das?«

»Eine Halskrause. Ich hatte einen Unfall und darf mich nicht bewegen.«

»Hat das der Adrian Winter gesagt?«

»Ja. Aber auch ein paar andere Ärzte, die mich behandeln. Sag mal… woher kommst du denn jetzt, so spät am Abend?«

»Na, aus meinem Bett natürlich!« Tanja zog die Schultern hoch. Es war ihr ein bißchen kalt.

Susanne sah es und sie wies auf einen Bademantel, der an einem Haken an der Wand hing. »Versuch mal, den Mantel runterzuziehen«, sagte sie. »Dann leg ihn dir um. Ich kann dich nämlich nicht zu mir unter die Decke nehmen. Ich liege in einer Gipsschale. Oder wenigstens in was Ähnlichem.«

»Gips? Was ist das?«

»Ein ganz harter Stoff. Und darin muß ich liegen, bis man mich operiert.«

»Das ist doch doof«, konstatierte Tanja.

Susanne mußte unwillkürlich lächeln. Es war unmöglich, sich dem Charme des kleinen Mädchens zu entziehen. Und es war ihr selbst plötzlich völlig egal, zu wissen, daß diese Fixierung vielleicht ganz überflüssig war, weil sie durch den Tumor eventuell für immer gelähmt sein würde. Was sollten da die Vorsichtsmaßnahmen? hatte sie noch gestern gegrollt. Jetzt war das anders. Jetzt war sie ganz darauf konzentriert, mit der kleinen Tanja zu reden.

»Wenn du so krank bist… warum fragst du meinen Onkel Adrian nicht, ob er dich gesund machen kann?« Tanja hatte den Bademantel erwischt und sich hinein gehüllt. Sie hockte jetzt auf einem Stuhl dicht neben Susannes Bett.

»Ach, jetzt sagst du schon Onkel Adrian!« Susanne lachte.

»Wenn ich doch darf!« Tanja reckte das Kinn ein bißchen vor.

»Hast ja recht. Und ich glaube wirklich, daß dein Onkel Adrian ein sehr guter Arzt ist. Es wäre schon schön, wenn er mir auch helfen könnte.«

»Soll ich mal mit ihm reden?«

Wieder mußte Susanne lächeln, und es war herrlich, für eine Weile mal die Angst vor der Zukunft und die Trauer und Enttäuschung über Jonas’ Verhalten vergessen zu können. Tanja schaffte mit ihrem kindlichen Charme das, was alle Ärzte und Schwestern bisher vergeblich versucht hatten: Sie lenkte Susanne ab und vermittelte mit ihrem kindlichen Vertrauen auf die Kunst Adrian Winters so etwas wie eine Grundlage für das Vertrauen, das auch Susanne dem Arzt entgegenbringen mußte.

»Danke, aber das mache ich schon selbst.« Susanne zog sich den Zeichenblock ein bißchen näher. »Du, ich habe eine Idee: Ich male dich!«

»Toll!« Tanja war begeistert. »Kannst du das denn?«

»Eigentlich schon. Aber jetzt, da ich mich nicht so richtig aufsetzen kann, ist es schon schwieriger.«

»Mach’s trotzdem, ja?« Ehe sie es sich versah, hatte Tanja den Block hochgehoben und sah sich die Zeichnung auf dem obersten Blatt an. »Der ist nett«, urteilte sie dann. »Wer ist das?«

Susanne wurde leicht verlegen. »Ein Mann, den ich zufällig mal hier in der Klinik gesehen habe«, sagte sie dann.

»Ich bin dir nicht zufällig begegnet«, meinte Tanja. »Mir kannst du ruhig auch Arme und Beine malen. Und einen Bauch«, lachte sie. »Mit Schnitt, ja?«

Susanne nickte und begann so gut es ging zu skizzieren. Erst Tanjas Gesicht. Dann, auf einem weiteren Blatt, ihren kleinen Körper, der auf dem OP-Tisch lag, umgeben von zwei Ärzten, die ihr den Bauch aufschnitten. Und dann, auf dem dritten Blatt, eine lachende Tanja, die auf ihren Bauch wies, der mit großen X-en geschlossen war.

»Das will ich auch mal können«, rief das kleine Mädchen begeistert. »Darf ich die behalten?«

»Aber natürlich. Die hab’ ich doch für dich gemacht.«

»Danke.«

»Gern geschehen. Aber jetzt schlag ich vor, daß du schnell wieder in dein Bett gehst, ehe wir zwei Ärger mit der Nachtschwester bekommen.«

»Geht klar.« Tanja zwinkerte. »Morgen darf ich aber wiederkommen, ja? Malst du mir dann einen Hund? Und eine Katze?«

»Versprochen. Doch jetzt ab ins Bett.«

»Tschüs. Du bist nett!« Und schon hatte Tanja sich den Block geschnappt, riß ein paar Blätter ab und war auch schon davongelaufen.

Susanne sah ihr irritiert nach. So ein Wirbelwind! Aber niedlich war die Kleine. Aufgeweckt und amüsant.

Die Kranke griff nach ihrem Block und wollte wieder das Bild aufschlagen, das sie von dem Fremden gezeichnet hatte, der ihr auf dem Weg zur Computertomographie begegnet war.

Doch das Bild war fort! Tanja mußte es mitgenommen haben. Susanne schloß die Augen. Schade. Jetzt mußte sie versuchen, sich das Gesicht des Mannes, der sie irgendwie angerührt hatte, nochmals genau ins Gedächtnis zu rufen…

*

»Na, wie war die Nacht?« Fragend sah Dr. Adrian Winter in die Runde. Es war kurz nach Dienstbeginn, und der Chef der Unfallstation wollte den Arbeitsplan für den Tag festlegen. Heute waren sie ziemlich knapp besetzt. Schwester Walli hatte frei, sie würde mit ihrem Freund ein Konzert besuchen und erst übermorgen zurückkehren. Dr. Schäfer hatte erst am Nachmittag Dienst, und Schwester Claudia lag mit Grippe im Bett.

Also mußten sie alle ein bißchen mehr als normal tun, und auch die junge Lernschwester Bea wurde heute mit Aufgaben betraut, die ihr normalerweise noch nicht zugemutet wurden. Aber Bea war eine sehr engagierte Pflegerin, und Dr. Winter wußte, daß er ihr schon sehr viel zutrauen konnte.

Dr. Roloff, der Anästhesist, war bei der Dienstbesprechung ebenso zugegen wie Dr. Martensen, die Internistin. Unterstützt wurden die Mitarbeiter der Unfallstation an diesem Tag von Pfleger Markus, einem etwa dreißigjährigen Mann, der schon über viel Erfahrung verfügte und normalerweise auf der Intensivstation Dienst tat.

»Schön, daß Sie uns heute helfen, Markus«, sagte Adrian. »Ich hoffe nicht, daß uns mehr als ein hektischer Routinetag bevorsteht.«

Das hätte er wohl besser nicht gesagt, denn kaum waren die Worte ausgesprochen, meldete die Notrufzentrale einen schweren Unfall auf der Autobahn, bei dem es drei Schwerverletzte gegeben hatte.

Zwei Männer wurden mit dem Notarztwagen gebracht, der Dritte gar mit dem Hubschrauber, da er einen Aortenriß hatte und zu verbluten drohte.

Das Team um Dr. Winter bereitete sich hastig, aber ohne unnötige Hektik auf den Noteinsatz vor, und als die Verletzten eintrafen, wurden sie optimal versorgt.

Drei Stunden stand Adrian Winter selbst im OP, und er atmete auf, als es ihm endlich gelungen war, den Mann, der laut Ausweispapiere gerade mal 23 war, zu retten. Zwar würde er noch lange in der Klinik liegen müssen, und auch um einen Reha-Aufenthalt kam er mit Sicherheit nicht herum, aber er würde leben und gesund werden, und das war das einzig Wichtige.

Kurz vor der Mittagspause kam dann ein Anruf von Dr. Julian Franklin, der sein Kommen für den übernächsten Tag ankündigte.

»Was meinst du?« fragte er Adrian, »ist die Patientin dann psychisch so weit wiederhergestellt, daß wir offen mit ihr reden können? Ich finde, sie sollte schon wissen, welches Risiko wir eingehen, wenn wir operieren.«

»Das weiß sie jetzt schon«, antwortete Dr. Winter. »Und ich hoffe sehr, daß sie ihr seelisches Gleichgewicht bis dahin wiedergefunden hat.« Er zögerte, dann sprach er seine Gedanken aus. »Weißt du, der Unfallschock ist es gar nicht, der ihr so zu schaffen macht. Auch nicht der Tumor. Ich denke, daß sie viel mehr darunter leidet, daß der Mann, mit dem sie eine ganze Zeit zusammen war, sich jetzt, in den Stunden der Not, von ihr distanziert hat.«

»Tja, das ist immer schwer zu verkraften. Aber tu dein Bestes, um sie etwas aufzumuntern. Ich halte sehr viel davon, daß Kranke motiviert werden, es fördert den Heilungsprozeß, wenn viel Lebenswille da ist.«

»Das sehe ich genauso«, erwiderte Adrian. »Und ich werde alles tun, was ich kann, um Susanne Burgmer aufzumuntern.«

»In Ordnung, dann sehen wir uns übermorgen.«

»Willst du nicht schon am Abend vorher kommen? Wir könnten uns bei einer guten Flasche Wein zusammensetzen und was erzählen. Ich weiß so wenig von dem, was du in der letzten Zeit erlebt hast.«

Dr. Franklin lachte. »Das steht doch alles in irgendwelchen medizinischen Fachzeitschriften. Und privat… da gibt’s einfach nichts zu erzählen. Ich bin, glaube ich, ein Arzt, der nur mit seinem Beruf verheiratet ist. Aber das mit dem Wein ist eine gute Idee. Die Flasche trinken wir nach der OP an deiner Patientin. Vorher geht’s leider nicht, ich muß noch kurz nach Brüssel, von dort aus komme ich zu dir nach Berlin.«

Dr. Winter bedankte sich, sie sprachen noch ein paar Worte, dann war das Gespräch beendet. Adrian überlegte, was er tun könnte, um Susanne optimal auf den Eingriff vorzubereiten, aber er kam zu keinem Ergebnis. Erst als er Visite machte, kam ihm eine Idee…

»Wie fühlen Sie sich heute, Herr Franzen?« erkundigte er sich bei dem dunkelhaarigen Mann, der mit eingegipstem Bein, einer Halskrause und anderen Verbänden, die man jedoch unter der Decke nicht sehen konnte, im Bett lag.

»So gut wie unter diesen Umständen möglich«, gab Thorsten zurück. »Beruhigend ist nur die Tatsache, daß ich alles ohne Spätschäden überstehen werde. Das steht seit der letzten Kontrolluntersuchung fest.«

»Sie haben wirklich ein unheimliches Glück gehabt«, bestätigte Adrian Winter. Er trat noch einen Schritt näher und sah den Mann, der nur wenig jünger war als er selbst, ernst an. »Wissen Sie, Herr Franzen, im Grunde sollten Sie dem Schicksal dankbar sein – und das auch irgendwie zum Ausdruck bringen.«

Der Architekt sah ihn mit leichtem Stirnrunzeln an. »Wie meinen Sie das denn, Doktor? So was sagen Sie mir doch nicht ohne Grund!«

Adrian lächelte. »Stimmt. Ich muß zugeben, daß ich eine ganz bestimmte Absicht verfolge.« Er zog sich einen Stuhl neben Thorstens Krankenbett und ließ sich darauf nieder. »Sie sind Architekt, nicht wahr?«

»Stimmt, aber das wissen Sie ja.«

»Und Sie besitzen ein eigenes Büro mit mehreren Angestellten?«

»Auch wieder richtig.«

Adrian zögerte, dann fuhr er fort. »Kann es sein, daß Sie gerade jetzt jemanden brauchen, der gut zeichnen kann, kreativ ist und…«

»Wem soll ich helfen?« fiel Thorsten ihm ins Wort. »Machen Sie es nicht so spannend, Dr. Winter. Ich ahne, daß Sie ein Sorgenkind haben, dem nur ich helfen kann. Also – raus mit der Sprache. Wenn ich helfen kann, tue ich das gern.«

Insgeheim atmete Adrian auf. »Das ist gut zu hören. Es geht um eine junge Frau, die ebenfalls hier liegt – fast bewegungslos, so wie Sie noch vor einigen Tagen. Nur leider sind ihre Aussichten lange nicht so positiv wie die Ihrigen. Sie können davon ausgehen, daß Sie den Unfall gut überstanden haben. Bei der jungen Frau dagegen war der Unfall, den sie hatte, zwar dramatisch, aber infolge von Untersuchungen mit dem CT, das Sie ja auch kennen, haben wir einen Tumor festgestellt. Dieser muß entfernt werden und…« Er brach ab und zog ein Blatt Papier aus der Krankenakte, die er bisher in der Hand gehalten hatte. »Kurz und knapp: Die Prognosen für meine Patientin stehen nicht gut. Aber das soll Sie nicht interessieren, ich will und darf ja auch gar nicht ins Detail gehen. Wichtig ist nur eins: Die junge Frau braucht eine Aufgabe. Irgendeine Beschäftigung, die ihr Mut macht, die sie interessiert… also eine Aufgabe, die reizvoll ist und ihr Interesse weckt.« Er reichte dem Mann im Bett das Blatt Papier. »Das ist für Sie sicher interessant. Denn – die junge Frau ist Malerin. Sehr begabt übrigens, finde ich.«

Thorsten warf einen flüchtigen Blick auf das Papier – und zuckte zusammen. »Aber das ist ja… Wahnsinn«, stammelte er dann.

Dr. Winter lächelte. »Wahnsinn würde ich es nicht nennen. Eher ein sehr gelungenes Porträt von Ihnen.«

»Und wer hat das gemacht?« wollte Thorsten wissen. »Und vor allem – wo?«

»Irgendwo hier in der Klinik«, erwiderte der Arzt. »Wo genau, kann ich Ihnen nicht sagen, da müssen Sie die Künstlerin schon selbst fragen.«

»Sofort, wenn’s geht.« Thorsten richtete sich ein wenig im Bett auf. »Bringen Sie sie doch bitte her, Herr Doktor. Diese Skizze ist nicht nur schmeichelhaft für mich, sie zeugt auch von sehr viel Talent. Solch eine Mitarbeiterin kann ich sehr gut gebrauchen. Vor allem, weil ich die kleine Abteilung, die sich mit Innenarchitektur befaßt, ausbauen möchte.«

Dr. Winter erhob sich ein wenig. »Wenn’s Ihnen recht ist, lasse ich Sie in einer halben Stunde zu der jungen Dame bringen. Umgekehrt geht’s leider gar nicht, denn…«, er zögerte, dann fügte er entschlossen hinzu: »Sie liegt im Bett und kann sich noch viel weniger bewegen als Sie. Ich weiß, daß ich meine Schweigepflicht großzügig auslege, wenn ich Ihnen erzähle, daß Frau Burgmer einen Tumor an der Wirbelsäule hat, der sie zu lähmen droht.«

»Das ist ja furchtbar«, murmelte Thorsten.

»Ja, vor allem, weil meine Patientin auch noch seelische Probleme zu bewältigen hat. Und deshalb denke ich, daß Sie ihr helfen können.«

»Natürlich, Doktor. Sofort, wenn Sie wollen.«

Adrian streckte dem Architekten die Hand hin. »In einer halben Stunde, wie besprochen. Aber jetzt schon: danke, daß Sie mir helfen wollen.«

»Nichts zu danken. Sagen Sie mir nur noch, ob die junge Frau Ihnen das Bild überlassen hat – und warum.«

Der Arzt schmunzelte. »Das ist ein Zufall. Oder Schicksal. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Jedenfalls weiß Frau Burgmer nichts davon, daß ich dieses Bild gesehen habe.«

Thorsten lächelte. »Sie sind ein Geheimniskrämer, will mir scheinen.«

»Nur, wenn’s dem Wohl der Patienten dient«, gab Adrian schmunzelnd zurück und dankte im stillen der kleinen Tanja, die dieses Bild versehentlich mitgenommen hatte. Nur so war er darauf gestoßen, daß die schöne Susanne Burgmer heimlich Porträt-Skizzen eines fremden Mannes anfertigte. Adrian fühlte sich sehr beschwingt und positiv eingestellt, als er das Krankenzimmer verließ und hinunter in die Notaufnahme ging.

*

»Guten Morgen, Schwester Bea!« Thorsten Franzen lächelte der kessen jungen Lernschwester zu. »Schön, daß Sie heute Dienst haben.«

»Kann ich nicht behaupten«, erwiderte die Achtzehnjährige und wies zum Fenster hin. »Sehen Sie sich dieses Wetter an… und ich muß schuften, statt mit meiner Clique zum Wannsee hinauszufahren und schwimmen zu gehen.«

»Sie tun mir leid, ehrlich.« Thorsten winkte das Mädchen näher. »Aber gönnen Sie einem Schwerkranken ein paar egoistische Gedanken. Erstens sind Sie ein erfreulicher Anblick – und zum zweiten würde ich es nicht wagen, Oberschwester Walli um diesen Gefallen zu bitten.« Er schob einen großen blauen Schein über die Bettdecke.

Bea schüttelte den Kopf. »Ich will das nicht«, wehrte sie ab.

»Sie wissen doch noch gar nicht, was ich möchte.« Der Architekt zwinkerte übermütig. »Glauben Sie nur nicht, daß ich Sie auf Abwege führen will. Nein, nein, Sie sollen mir nur einen Strauß Rosen besorgen.«

»Rote Rosen?« Bea schnalzte mit der Zunge, und Thorsten konnte sicher sein, gleich ihre volle Aufmerksamkeit errungen zu haben.

Er lachte. »Nein, nein, ich will’s ja nicht gleich übertreiben. Gelbe Rosen sind passender. Und bringen Sie sie bitte zu der jungen Patientin, die so gut zeichnen kann… warten Sie, sie heißt glaube ich, Burger. Oder…«

»Burgmer. Susanne Burgmer.« Bea nickte. »Die ist eine ganz Nette. Und sie tut mir so leid, weil sie ganz offensichtlich großen Kummer hat.« Sie griff nach dem Geldschein. »Das sind die ersten Blumen seit langem. Ich bin sicher, daß sie sich darüber freuen wird.«

»Danke. Ich meine, etwa zwanzig Rosen würden genügen. Für den Rest des Geldes kaufen Sie sich einen Sommerstrauß, ja?«

»Danke!« Bea ließ den Schein verschwinden. »Soll ich auch gleich den reitenden Boten spielen oder möchten Sie die Blumen selbst übergeben?«

Thorsten zuckte mit den Schultern. »Geht ja leider nicht. Ich kann ja immer noch nicht allein gehen.«

»Ich fahre Sie«, bot Bea an.

»Sehr nett, wirklich.« Thorsten lehnte sich in den Kissen zurück. Er war gespannt darauf, die junge Frau kennenzulernen, die ein so gutes Portrait von ihm gemacht hatte.

»Ich muß bis 14 Uhr arbeiten, dann hole ich die Blumen sofort«, versprach Bea.

Und sie hielt Wort. Auf der Station gab es zum Glück keine Notfälle oder Sondereinsätze, so daß sie pünktlich Schluß machen konnte. Im Blumenladen am Ende der Straße kaufte sie dann einen wundervollen Rosenstrauß, den sie geschmackvoll aufbinden ließ.

Vom Restgeld Blumen für sich zu kaufen fand sie allzu verschwenderisch. Sie holte sich ein paar bunte Sommerblumen, das Restgeld wollte sie Herrn Franzen zurückgeben.

Allerdings nahm Thorsten es nicht an, sondern drückte ihr die beiden Scheine in die Hand. »Es war für Sie gedacht«, meinte er dazu. »Und wenn Sie keine Blumen wollen, kaufen Sie sich was anderes dafür.«

Bea zögerte, dann nahm sie das Geld zögernd an. »Aber nur, weil Sie so drängen«, sagte sie. »Ich hätte Ihnen den kleinen Gefallen auch so getan.«

»Das weiß ich doch.« Thorsten richtete sich auf. »Wollen wir los?«

»Klar.« Bea half ihm in den bereitgestellten Rollstuhl, und so fuhren sie über den Klinikflur hinüber auf die andere Station, wo Dr. Winter gerade aus dem Zimmer der jungen Susanne kam.

Sie war körperlich wieder in recht guter Verfassung, und eben hatten sie besprochen, daß in drei Tagen der Spezialist nach Berlin kommen und den Tumor operieren würde.

Susanne lag mit geschlossenen Augen im Bett, als es klopfte. Sie war sicher, daß der Arzt noch etwas vergessen hatte und schaute gar nicht zur Tür, als diese geöffnet wurde.

»Guten Tag.« Beim Klang der fremden Männerstimme drehte sie dann doch den Kopf – und zuckte leicht zusammen. Das war er, der Mann, den sie in der Röntgenabteilung kurz gesehen hatte!

»Guten Tag.« Sie sah überrascht von ihm zu der jungen Pflegerin, die den Rollstuhl dicht ans Bett schob.

»Sie sind sicher überrascht über meinen Besuch.« Thorsten nahm die Rosen, die er auf dem Schoß gehalten hatte, und legte sie auf Susannes Bettdecke. »Ich hoffe, Sie mögen gelbe Rosen.«

»Sehr sogar!« Sie lächelte ein wenig. »Wenn ich ehrlich sein soll, sind es sogar meine Lieblingsblumen.«

»Dann freue ich mich um so mehr, Ihren Geschmack getroffen zu haben.« Er streckte die Hand aus. »Ich heiße Thorsten Franzen – wir haben uns schon mal flüchtig gesehen, erinnern Sie sich?«

»Ja…« Susanne biß sich auf die Lippen. »Sie kamen gerade von einer CT, ich mußte in die Röhre.«

»Stimmt. Ich hoffe, es geht Ihnen schon wieder besser.«

Sie biß sich auf die Lippen – eine Geste, die Thorsten mehr sagte als Worte.

Er beugte sich vor und griff nach ihrer Hand. »Susanne… ich möchte Ihnen sagen, daß ich seit unserer ersten Begegnung viel an Sie gedacht habe. Ich… ich würde Sie gern wiedersehen – wenn wir beide wieder gesund sind.«

Sie hatte so sehr versucht, tapfer zu sein, ihren Kummer, ihre Ängste allein zu bewältigen. Doch jetzt, da Thorsten so liebevoll zu ihr sprach, konnte Susanne die Tränen nicht länger zurückhalten.

Betroffen sah der Mann sie an und versuchte, sich so weit wie möglich im Rollstuhl aufzurichten, um ihr tröstend die Hand zu streicheln. »Was hab’ ich denn Falsches gesagt?« fragte er dabei.

Susanne schüttelte den Kopf. »Nichts. Gar nichts«, erwiderte sie leise. »Es ist nur… ich muß vielleicht… ich werde operiert und…« Sie biß sich auf die Lippen.

»Es ist etwas Schlimmes, nicht wahr?« Thorsten spürte, daß er ganz ruhig wurde. Und dennoch klopfte sein Herz fast schmerzhaft gegen die Rippen. Aber er mußte jetzt stark sein. Er mußte Zuversicht ausstrahlen. »Glauben Sie mir, wenn Sie nur ein wenig Vertrauen haben, wird sich alles richten. Ich glaube ganz fest an die Kraft positiver Gedanken. Und ich… ich will, daß Sie eine Zukunft haben. Daß wir eine Zukunft haben«, fügte er leise hinzu.

Susanne sah ihn aus tränenverschleierten Augen an. »Warum sagen Sie so etwas? Wir… wir kennen uns doch gar nicht.«

Der Mann lächelte. »Ich denke, daß wir uns darauf freuen sollten, uns besser kennenzulernen. Sie müssen nur rasch gesund werden, dann steht uns die Welt offen.« Er nahm ihre Hand und zog sie an die Lippen. »Sie haben mich gleich sehr beeindruckt, Susanne. Und ich möchte gern, daß Sie wissen, daß Sie nicht mehr allein sind. Ich… ich bin immer für Sie da, wenn Sie möchten.«

Ein kleiner Hoffnungsschimmer erhellte ihr Gesicht. »Danke«, flüsterte sie. »Danke für die Rosen – und für Ihre Worte, Thorsten. Es… es bedeutet mir sehr viel, daß Sie zu mir gekommen sind. Dabei war’s ja bestimmt nicht einfach. Sie sind auch schon länger hier in der Klinik, nicht wahr?«

Er nickte, dann erzählte er von dem Unfall. Susanne berichtete von sich, von ihrer Krankheit – und die Zeit verging so schnell, daß sie beide ganz überrascht waren, als Dr. Roloff hereinkam und Susanne zu einer Untersuchung abholte.

Sie verabredeten sich für den nächsten Tag, und Schwester Bea erzählte ihrer Kollegin Monika mit stolzem Lächeln: »Ich hab’ einen wundervollen neuen Nebenjob.«

»Du? Aber das ist doch nicht erlaubt während der Ausbildung!« Bea lachte. »So was schon. Ich bin nämlich zurzeit als Liebesbote unterwegs. Und das ist ganz toll!«

Natürlich mußte sie Näheres berichten, und von diesem Tag an nahm die ganze Schwesternschaft der Kurfürsten-Klinik lebhaft Anteil an der zarten Romanze zwischen Susanne und Thorsten.

*

»Und? Was meinst du? Kannst du operieren wie geplant?« Dr. Winter hatte seinen Freund Julian Franklin gleich vom Flughafen aus in die Klinik gefahren und zeigte ihm jetzt die Unterlagen seiner Sorgenpatientin.

Der Neurologe studierte die neuesten Untersuchungsergebnisse sehr sorgfältig. »Das wird ein risikoreicher Eingriff«, meinte er dann. »Aber es ist die einzige Chance für die junge Frau. Wenn sich der Tumor weiterhin so schnell entwickelt, wenn er sich noch stärker in die Wirbelsäule einfrißt…« Er machte eine kleine resignierte Handbewegung. »Dann kann ihr niemand mehr helfen.«

»Eben. Und deshalb ist Susanne Burgmer auch bereit, sich dir anzuvertrauen. Ich habe ihr alles schon genau erklärt, habe ihr klargemacht, daß die Chancen 50 zu 50 stehen. Und sie will den Eingriff. Sie will ihn unbedingt.«

»Dann laß sie vorbereiten. Ich gehe nachher mal zu ihr und rede mit ihr, und wenn alles glattgeht, können wir morgen mittag operieren.«

Dr. Franklin war darauf gefaßt, eine sehr deprimierte Patientin vorzufinden. Um so überraschter war er, als er Susanne mit einem kleinen Lächeln im Gesicht antraf. Neben ihrem Bett, in einem Rollstuhl, saß ein gutaussehender Mann von etwas mehr als dreißig Jahren. Er hatte ein paar Papiere vor sich liegen, und auch die Kranke im Bett blätterte in irgendwelchen Unterlagen. Alles in allem hatte Dr. Franklin nicht das Gefühl, eine Schwerkranke zu sehen, die mit ihrem Leben abgeschlossen hatte.

»Sie sind gut drauf, stelle ich fest«, sagte er nach der Begrüßung. Er trat dicht an Susannes Bett und stellte sich vor.

»Oh, dann will ich mich mal zurückziehen.« Thorsten nahm die Blätter wieder an sich. »Wir sehen uns später, Susanne.« Damit rollte er auf die Tür zu.

Dr. Franklin öffnete sie für ihn und sah dem Mann kurz nach. »Sie beide sehen aus, als würden Sie irgendwelche Projekte hier durcharbeiten«, meinte er.

Thorsten Franzen drehte sich kurz um. »Ich bin Architekt – und Frau Burgmer hat wunderbare Ideen, die mir helfen, auch im Bereich der Innenarchitektur Fuß zu fassen«, erklärte er. »Wir haben ja schließlich nur ein paar kaputte Knochen – im Kopf ist noch alles heil.«

Dr. Franklin lachte. »Arbeit hab’ ich schon immer für eine sehr gute Therapie gehalten. Dann will ich mal zusehen, daß die junge Dame bald noch besser einsatzfähig ist.« Er nickte Thorsten zu.

Während der junge Architekt zurück in sein Zimmer rollte, wandte sich Susanne an den fremden Arzt. »Sie sind… Sie werden mich also operieren.« Ihr Gesicht war jetzt ganz ernst, wirkte angespannt.

Der Neurologe nickte. »Ich habe mit meinem Freund Adrian Winter Ihren Fall genau durchgesprochen – es gibt, wie Sie ja sicher schon wissen, Hoffnung, Sie erfolgreich zu operieren.« Er setzte sich zu Susanne und erläuterte ihr nochmals genau, was er zu tun gedachte.

Die junge Patientin hörte ihm angespannt zu, aber je länger der Spezialist redete, um so größer wurde das Vertrauen, das Susanne zu ihm faßte.

»Ich bin einverstanden«, sagte sie schließlich. »Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen, daß Sie hergekommen sind, um diesen Eingriff zu wagen. Ich weiß, daß Sie es vor allem wegen Dr. Winter tun…«

Dr. Franklin schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht ganz, Susanne«, sagte er. »In erster Linie tue ich es für Sie. Sie sind noch so jung, haben noch so viel vor sich… und ich hoffe, daß ich ein wenig dazu beitragen kann, Ihre Zukunft schön und glücklich zu gestalten. Den Rest sollten Sie und Ihr netter Freund von eben dann selbst tun.«

»Aber Herr Franzen ist doch nicht…«, begann sie, brach aber im nächsten Moment ab. Er ist nicht mein Freund, hatte sie sagen wollen. Doch das stimmte nicht. In den wenigen Tagen, die sie und Thorsten Franzen sich jetzt kannten, war er ihr schon sehr vertraut geworden.

Sie hatte gleich beim ersten Sehen viel Sympathie für ihn empfunden, doch jetzt, wo sie viel mit ihm gesprochen hatte, wo er ihr von seiner Arbeit erzählt hatte, von seinen Zukunftsplänen, in denen auch sie einen Platz hatte, war er ihr ans Herz gewachsen. Ach, sie war sich darüber im klaren, daß er Mitleid mit ihr hatte und ihr nur aus diesem Mitleid heraus angeboten hatte, eventuell in seiner Firma zu arbeiten.

Doch sie war froh darüber. Was sollte sie sonst tun? Eine Malerin im Rollstuhl… nein, das ging nicht. Sie würde, wenn die Operation mißlang und sie für immer gelähmt bleiben würde, nie wieder große Bilder malen können. Nie wieder… Ohne, daß sie es wollte, traten Tränen in Susannes Augen, denn ihr wurde bewußt, daß ihr Leben an einem seidenen Faden hing, wenn es Dr. Franklin nicht gelang, den Tumor herauszuoperieren.

Der Arzt hatte ihr wechselndes Mienenspiel genau beobachtet. »Sie sollten nur positive Gedanken haben«, sagte er. »Ich habe mir alle Röntgenunterlagen angesehen und bin mit meinem Freund Winter die CT-Aufnahmen durchgegangen. Ich denke, daß ich Ihnen helfen kann. Aber…« Er strich kurz über Susannes Wange. »Ich will Sie immer lächeln sehen, wenn ich in Ihr Zimmer komme. Versprochen?«

»Versprochen«, nickte Susanne, und sie schenkte ihm mit Tränen in den Augen ihr erstes scheues Lächeln.

*

»Hiergeblieben, kleines Fräulein!« Oberschwester Walli, die aus ihrem Kurzurlaub zurück war, hielt Tanja am Zipfel des hellgelben Bademantels zurück. »Deine Mami kommt gleich, dann könnt ihr nach Hause fahren.«

»Ich muß mich aber noch verabschieden gehen!« Das kleine Mädchen hielt ein buntes Bild hoch. »Das hab’ ich Susanne versprochen. Und was man verspricht, muß man auch halten.«

»Das stimmt, aber du kannst jetzt wirklich nicht zu Susanne. Sie wird von Dr. Winter untersucht, denn heute nachmittag wird sie operiert. Und das ist ganz wichtig für sie.«

Tanja nickte, doch ihre Augen bekamen einen feuchten Schimmer. »Nie seh ich die Leute wieder, die ich mag«, sagte sie leise. »Erst ist mein Papi weg, dann kann ich nicht mehr Auf Wiedersehen zu Susanne sagen.«

Walli schluckte. Sie wußte im ersten Augenblick nicht, was sie erwidern sollte, doch dann meinte sie. »Susanne ist bestimmt bald wieder gesund, dann kommst du sie einfach besuchen, ja? Und ich bin sicher, daß sie sich dann noch mehr über ein Bild von dir freut.«

Tanja nickte zögernd und folgte der Schwester ein bißchen widerwillig ins Zimmer zurück. »Wann kommt meine Mami denn?« erkundigte sie sich.

Walli warf einen kurzen Blick zur Uhr. »Gleich«, antwortete sie, dabei fragte sie sich insgeheim, was passiert war, daß sich ihre Kollegin Juliane so verspätete. Das war eigentlich gar nicht ihre Art. Walli ahnte ja nicht, was sich in diesem Moment in einer kleinen Straße etwas außerhalb des Stadtzentrums zutrug…

Schwester Juliane schloß gerade die Wohnungstür ab und kontrollierte, ob sie alles dabei hatte, was sie brauchte, um Tanja aus der Klinik abzuholen, als ein Mann langsam die wenigen Treppenstufen hinaufkam. Sein Gesicht war zwar sonnengebräunt, doch ausgemergelt. Tiefe Falten zogen sich von der Nase hinunter zu den Mundwinkeln.

»Juliane…« Seine Stimme klang rauh, doch voller Zärtlichkeit. Die junge Frau zuckte zusammen, dann ließ sie alles, was sie in Händen hielt, fallen und stürzte die Treppe hinunter.

»Harald!« Der Name klang wie ein Schrei.

Und dann hielten sie sich umarmt, weinend und lachend zugleich. Es war ein Moment, der keine Worte brauchte, ein Augenblick, in dem nur ihre Herzen sprachen.

Es dauerte ein paar Minuten, bis Juliane sich ein wenig aus der Umarmung des Mannes löste und ihm in die Augen sah.

»Was ist passiert?« fragte sie. »Wo, um Himmels willen, hast du nur gesteckt? Ich bin fast verrückt geworden aus Sorge um dich.«

»Ich wurde von Eingeborenen verschleppt, erkrankte, bekam hohes Fieber – und wurde wieder von ihnen ausgesetzt. Wochenlang hab’ ich in einem kleinen Camp gelegen, mehr tot als lebendig. Und niemand wußte, wer ich war, woher ich kam…« Sie kamen in die Wohnung, und hier erfuhr Juliane in Kurzform alles Weitere.

»Als ich halbwegs wieder gesund war, als ich meinen Namen sagen konnte, war es zu spät – die Expedition war wieder in die Zivilisation zurückgekehrt. Also machte ich mich mit ein paar Männern auf den Weg.« Er legte den Arm um Juliane. »Du ahnst ja nicht, wie groß, wie unendlich verzweigt der Amazonas ist… und wie klein ein Mensch, der sich auf einem selbstgebauten Floß darauf fortbewegt.«

Juliane schmiegt sich an ihn. Sie war ja so glücklich, ihn wiederzuhaben!

»Warum hast du dich denn nicht gemeldet, nachdem du wieder in halbwegs zivilisierten Gegenden warst?«

»Ich wollte natürlich, aber da bekam ich auf einmal ein rätselhaftes Fieber, das die Ärzte nicht einordnen konnten. Sie behielten mich auf einer provisorisch eingerichteten Isolierstation, bis es mir besserging und ich endlich nach London abreisen konnte. Ich flog nach London, und dort wurde ich erst mal wieder untersucht und in ein Tropenkrankenhaus gebracht, denn dieses Fieber kam wieder.« Er lächelte Juliane beruhigend zu. »Keine Sorge, es ist nichts Schlimmes. Ich hatte eine Vergiftung… irgend etwas müssen mir diese verrückten Stammesältesten ins Essen gemischt haben, das nachhaltige Fieberschübe verursachte. Man weiß ja, daß diese heiligen Männer über Kräfte verfügen, die wir mit all unserer Wissenschaft nicht enträtseln können. Und sie haben Gifte, die uns schaudern machen.«

»Aber jetzt ist jede Gefahr gebannt?« fragte sie bang.

»Ich bin wieder gesund, das steht fest. Und ich wollte auch erst wieder heimkehren, wenn ich diese Gewißheit hatte.« Harald Steffens seufzte unterdrückt auf. »Weißt du, die Ärzte in London waren sehr skeptisch und hatten Zweifel daran, ob die rätselhafte Krankheit vielleicht ansteckend sein könnte. Und ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich dich und Tanja angesteckt hätte.« Er sah sich um. »Wo ist sie überhaupt? Ob sie mich noch erkennt?«

Juliane lächelte. »Das mit Sicherheit. Wenn du magst, können wir sie zusammen aus der Kurfürsten-Klinik abholen. Dort hat man ihr den Blinddarm rausnehmen müssen.«

»Mein armes Spätzchen.«

»Du mußt sie nicht bedauern, sie ist dort behandelt worden wie eine Prinzessin und hat das alles wie ein aufregendes Abenteuer genossen.«

»Dann los, ich bin so gespannt darauf, sie wiederzusehen.« Harald legte den Arm um seine Frau. »Du ahnst ja nicht, Liebling, wie sehr ich mich nach euch gesehnt habe.«

»Und du ahnst nicht, wieviel Angst ich um dich ausgestanden habe.« Juliane schmiegte sich an ihn. »Aber jetzt bist du zurück – ich hoffe, du bleibst diesmal lange.«

»Für immer. Die Zeit, in der ich unbedingt auf Abenteuer aus war, ist vorbei. Keine Expeditionen mehr ins Ungewisse. Ich denke, ich nehme den Lehrauftrag an, den man mir angeboten hat.«

»Ein Lehrauftrag?« fragte Juliane überrascht. »Davon weiß ich ja noch gar nichts.«

»Auch ich weiß es erst seit einer Woche. Aber… ich konnte mich noch nicht entschließen, fest zuzusagen. Was meinst du – könntest du dir vorstellen, eine Weile in London zu leben?«

Juliane zögerte, dann aber nickte sie. »Ich kann überall dort leben, wo du bist«, sagte sie dann. »Hauptsache ist, wir sind zusammen – gesund und glücklich.«

Und glücklich gingen sie gleich darauf zu ihrem Wagen und fuhren zur Kurfürsten-Klinik, wo ein strahlendes kleines Mädchen seinen Papi mit einem Freudenschrei begrüßte, der laut durch den Klinikflur hallte.

Aber es gab niemanden, der Tanja deswegen gerügt hätte. Im Gegenteil, alle freuten sich mit der kleinen Familie, die endlich wieder vereint war.

*

»Dr. Winter, bitte in die Notaufnahme! Herr Dr. Winter – dringend in die Notaufnahme!« Die Lautsprecherdurchsage war in der Caféteria der Kurfürsten-Klinik überlaut zu hören.

»Um Himmels willen, was mag denn jetzt schon wieder passiert sein?« murmelte Olivia, die junge Bedienung, und nahm geistesgegenwärtig das Tablett an, das ihr Adrian Winter in die Hände drückte.

Seit dem frühen Morgen stand der Arzt in Bereitschaft, und bisher hatte er nicht eine Minute Ruhe gefunden. Jetzt, am späten Nachmittag, hatte ihn der Hunger für einen Moment in die Kantine getrieben.

»Ich brauche dringend eine Stärkung, sonst wird mir schwarz vor Augen«, hatte er zu Schwester Claudia gesagt.

»Noch einen Kaffee? Ich hab’ auch Kekse«, hatte sie angeboten.

»Danke, das ist lieb von dir, aber ich brauche was Handfestes. Ich hole mir schnell ein Schnitzel. Oder vielleicht erwische ich noch ein Stück von dem Rotbarsch-Filet, das auf der Karte stand.«

Nun ja, den Rotbarsch hatte er bekommen – aber Zeit, das Essen zu genießen, fand er nicht.

So schnell es ging, hastete Adrian zurück zur Notaufnahme, wo ihm Schwester Claudia schon aufgeregt entgegenwinkte. »Schnell, hierher«, rief sie.

Adrian Winter eilte in den größeren der Untersuchungsräume. Und dann sah er es auch schon – ein etwa vier Jahre altes Mädchen lag mit verrenkten Gliedern auf einer Trage, zwei Sanitäter standen blaß daneben. Der ältere von beiden schüttelte nur den Kopf. Da kommt jede Hilfe zu spät, sollte das bedeuten.

Adrian aber gab so rasch nicht auf. Er kontrollierte den Puls, der kaum noch fühlbar war, sah Dr. Schäfer zu, der eine stark blutende Wunde am Oberschenkel untersuchte und sich von Schwester Monika gerade eine Aortenklemme geben ließ.

»Hier, die Kopfwunde…« Schwester Claudia trat ans Kopfende und wies auf eine klaffende Wunde am Schädel.

Adrian mußte schlucken, denn das, was er da sah, ließ jede Hoffnung schwinden. »Was ist da passiert?« fragte er. »Wie hat das Kind sich so verletzen können?«

»Ein Fenstersturz. Sie ist aus dem sechsten Stock in die Tiefe gefallen.« Der ältere Sanitäter mußte sich räuspern, ehe er weitersprechen konnte. »Die Mutter ist süchtig, der Vater ebenfalls… die Kleine war sich selbst überlassen, wie wir von einigen Mitbewohnern gehört haben.«

»Und das Jugendamt?«

»Die kontrollieren regelmäßig die Zustände, waren aber wohl der Meinung, daß sie nicht einschreiten mußten, denn das Kind war nicht verwahrlost.« Der Sanitäter, ein Mann von fast sechzig Jahren, schluckte. »Sie ist so alt wie meine Enkelin«, sagte er dann. »Wenn ich mir vorstelle…«

»Besser nicht.« Adrian beugte sich wieder über das kleine Mädchen, dessen Atemzüge immer schwächer wurden. Und dann ging noch einmal ein Ruck durch den kleinen Körper – es war vorbei.

»Verdammt!« Bernd Schäfer trat vom Tisch zurück, er biß sich die Lippen blutig und sah Adrian aus feuchten Augen an. »Warum so ein Kind? Warum nur?«

»Das fragst du besser nicht.« Adrian wischte sich müde über die Augen. »Aber für die Kleine ist es besser so. Schau dir nur die Kopfwunde an. Die Schädeldecke ist zertrümmert. Wir hätten nicht viel mehr tun können.«

»Ich weiß. Trotzdem…«

Adrian winkte müde ab. »Laß gut sein, Bernd. Es kommt eben immer wieder vor, daß wir unsere Grenzen erkennen müssen.«

Er ging müde hinüber in sein kleines Büro, ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder und stützte den Kopf in die Hände. Es war nichts so schlimm wie der sinnlose Tod eines Kindes. Und wenn es auch müßig war, nach Schuldigen zu fragen, nach einem ›Warum‹ und ›Wieso gerade dieser junge Mensch?‹ – Dr. Adrian Winter fühlte sich so elend wie schon lange nicht mehr.

An Essen war nicht mehr zu denken. Er arbeitete bis zum Ende seines Dienstes weiter und fuhr dann sofort nach Hause. Zum Glück hatte ihm seine liebenswürdige alte Nachbarin, Carola Senftleben, einen Topf mit Gulaschsuppe hingestellt.

Manchmal hat sie wirklich einen sechsten Sinn, dachte Adrian. Sie weiß, wenn ich so was brauche. Er aß, weil er Hunger hatte. Und wenn ihm auch der rechte Appetit fehlte, so fühlte er sich nach einem Teller Suppe doch schon wieder besser. An diesem Abend ging er früh schlafen, froh, morgen nicht in die Klinik zu müssen.

Sie hatten, in Absprache mit Dr. Franklin, beschlossen, sich vor der schweren Operation an Susanne Burgmer einen Tag Ruhe zu gönnen. Sie würden lange am OP-Tisch stehen und mit voller Konzentration arbeiten müssen. Da galt es, frisch und ausgeruht zu sein.

Nur der Anästhesist würde morgen für ein paar Stunden in die Klinik kommen und die Patientin optimal vorbereiten.

Alle hofften, daß dieser Eingriff gelingen möge, und Susanne war glücklich, als sich am Abend, als sie schon müde von der vorbereitenden Spritze war, Thorsten Franzen noch einmal bei ihr sehen ließ.

»Ich wünsche Ihnen alles, alles Gute«, sagte er und zog ihre Hand an die Lippen. »Ich weiß, daß der Eingriff gelingen wird – und dann, Susanne, beginnt für uns ein neues Leben.«

Sie sah ihn aus großen Augen fragend an, doch der Mann lächelte nur und drückte ihre Hand noch ein wenig fester.

Susanne wollte etwas sagen, fragen, aber die Lider wurden schwer, die Spritze wirkte und sie fiel in einen tiefen, ruhigen Schlaf.

*

Obwohl sie noch nie miteinander gearbeitet hatten, war das Team um Dr. Winter sehr gut aufeinander eingespielt. Das merkte man schon nach wenigen Minuten, und der Chefarzt atmete erleichtert auf.

»Wie sieht’s aus?« erkundigte sich Dr. Franklin und sah kurz zu dem Narkosefacharzt hinüber.

»Alles bestens. Sie schläft fest, die Herz-Kreislauf-Werte sind gut«, meldete Dr. Roloff. »Von mir aus können Sie anfangen.«

Der Neurochirurg warf einen letzten Blick in die Runde, er nickte Adrian Winter zu – und der schwere Eingriff konnte beginnen.

Die Patientin war bäuchlings auf den OP-Tisch gelegt worden, der Mittelteil des Tisches war dann hydraulisch erhöht worden, bis das Eingriffsfeld in der richtigen Position war und die Operateure gut arbeiten konnten.

Dr. Winter machte die ersten vorbereitenden Handgriffe, assistiert von Bernd Schäfer, der vor Nervosität jetzt schon schwitzte. Er war sich bewußt, daß er einem äußerst seltenen Eingriff beiwohnte und daß er so rasch nicht wieder die Gelegenheit bekommen würde, einem so außergewöhnlichen Operateur wie Dr. Franklin zuzusehen.

Der Spezialist kümmerte sich, nachdem das OP-Feld freilag, erst einmal um den Tumor, denn das war der wichtigste Teil des Eingriffs.

Justin Franklin hatte sich für eine minimal-invasive Methode entschieden, das hieß, es wurde nicht geschnitten, sondern die Ärzte wollten versuchen, eine Kanüle so zu legen, daß sie gleich neben dem Rückgrat platziert werden würde. Durch diese Kanüle würden dann das Laserskalpell und eine winzige Kamera eingeführt werden.

Das Operationsgebiet war auf dem Kontroll-Bildschirm gut zu sehen, und Dr. Winter sagte beeindruckt:

»Seht mal… der Tumor ist ganz deutlich zu erkennen! Faszinierend! Wenn man sich vorstellt, daß wir nur mit Hilfe modernster Technik so eine Operation durchführen können…«

»Ja, das Kontrastmittel, das wir vorher gespritzt haben, macht den Tumor deutlich.« Dr. Franklin wirkte ganz ruhig und souverän, man merkte, daß er ähnliche Operationen schon mehrfach vorgenommen hatte.

Der Arzt arbeitete konzentriert, man merkte ihm nicht an, daß er nervös war. Seine Hände bewegten die OP-Geräte mit traumwandlerischer Sicherheit.

An einer Stelle lag das Tumorgewebe nur um weniger als einen Millimeter vom Rückenmark-Kanal entfernt, und jetzt kam es darauf an, ganz präzise zu arbeiten. Eine falsche Bewegung, ein kleiner Ruck, wenn auch nur um einen zehntel Zentimeter – und die Patientin würde wohl für immer gelähmt bleiben.

Jetzt sah Adrian Winter doch ein wenig Schweiß auf der Stirn des Freundes, doch es war nicht der Moment, eine unsterile Schwester zu rufen, damit sie Dr. Franklin mit einem Tuch erfrischte. Jetzt galt es, das kranke Gewebe sorgfältig herauszuschälen und abzutragen.

Bange Minuten vergingen, niemand sprach ein Wort. Nur das leise Zischen des Narkosegerätes war zu hören. Hin und wieder sah Adrian Winter auf den Bildschirm, aber alles lief lehrbuchmäßig.

Und dann war es geschafft! Dr. Franklin legte die Instrumente beiseite und trat mit einem kleinen Seufzer vom Tisch zurück. »Das war’s«, sagte er nur.

»Gratuliere. Das war einfach meisterhaft.« Dr. Winter lächelte dem Freund unter dem Mundschutz hinweg zu.

»Machst du jetzt weiter? Ich will mich ein wenig ausruhen.« Dr. Franklin ließ sich jetzt von der jungen Schwester Annkatrin die Stirn trocken tupfen.

Dr. Winter hingegen beugte sich tiefer über den Tisch und beendete den komplizierten Eingriff, indem er an der Bandscheibe einige Korrekturen vornahm. Das Knorpelgewebe war an einigen Stellen recht schwammig, teilweise aber auch verhärtet. Doch es gelang dem Arzt, die Bandscheibe optimal zu richten und zu stabilisieren.

Fast fünf Stunden hatte der Eingriff gedauert, und alle atmeten auf, als Dr. Roloff die Patientin hinüber in den Aufwachraum begleitete, wo er persönlich darauf achten wollte, daß sie optimal versorgt wurde, wenn sie endgültig aus der Narkose erwachte.

»Soll sie nicht gleich auf Intensiv?« fragte Adrian Winter.

Der Anästhesist schüttelte den Kopf. »Hier kann ich noch besser eingreifen. Wenn ihre Werte in einer Stunde noch so gut sind, lasse ich sie hoch bringen.« Er zählte den Puls von Susanne Burgmer zum wiederholten Mal persönlich aus. »Es ist phantastisch«, meinte er, »aber sie hat wirklich eine super Konstitution – trotz des Unfalls und der Folgen. Ich bin sicher, sie wird es ohne Komplikationen schaffen.«

»Ich wünsche es ihr von Herzen.« Adrian nickte dem Kollegen und Freund zu. »Ich gehe dann mal rüber und mache mich frisch. Bis später.«

Dr. Roloff nickte nur und beugte sich erneut über Susanne.

*

Der schwarze Sportwagen fuhr viel zu schnell die Auffahrt zur Kurfürsten-Klinik hoch, und Schwester Walli und Schwester Monika, die gerade aus dem Portal traten und nach Hause gehen wollten, sahen dem Gefährt kopfschüttelnd nach.

»Was soll denn der Irrsinn? Glaubt der Typ vielleicht auf dem Nürburgring zu sein?« Walli schaute dem Wagen nach, der eben in eine Parklücke fuhr.

»Vielleicht bringt er einen Notfall«, meinte ihre Kollegin Monika.

»Glaub ich nicht. Der Typ saß allein im Wagen.« Walli ging nur zögernd weiter, doch Monika lenkte sie gleich darauf mit der Schilderung einer spannenden Spielfilm-Handlung ab. Der Sportwagenfahrer war vergessen.

Jonas Johannson stieg unterdessen aus und griff auf den Beifahrersitz. Hier hatte er Konfekt, ein paar Zeitschriften und Blumen deponiert – alles das eben, was man einer Kranken mitbrachte.

Der junge Rennfahrer hatte ein denkbar schlechtes Gewissen bei dem Gedanken an Susanne. Sie waren schließlich mal ein Liebespaar gewesen, und ihm war schon klar, daß er die junge Frau genau in dem Moment im Stich gelassen hatte, als sie ihn am nötigsten gebraucht hätte.

»Job ist Job«, sagte Jonas leise vor sich hin, und es klang wie eine Beschwörungsformel.

Aber im tiefsten Innern wußte er genau, daß er sich selbst etwas vormachte. Er hatte nur an sich gedacht, hatte das Rennen in Budapest nur vorgeschoben, weil er sich nicht mit einer kranken Frau belasten wollte.

Susanne im Rollstuhl…, nein, das würde er nicht ertragen! Aber ihn quälte das schlechte Gewissen, deshalb hatte er sich jetzt, nach mehr als vier Wochen, aufgerafft und sich nach ihr erkundigt.

Von ihrer Nachbarin hatte er erfahren, daß Susanne immer noch in der Kurfürsten-Klinik lag, und so war er nun auf dem Weg zu ihr.

Am Empfang sagte man ihm die Zimmernummer, und Jonas registrierte amüsiert, daß das junge Mädchen im weißen Kittel ihn anhimmelte, als es ihm Stockwerk und Zimmernummer nannte. Er war eben ein bekannter Mann, ein Formel 1-Star. Er konnte nur hoffen, daß Susanne das auch so sah und Verständnis dafür hatte, daß er in erster Linie an seine Karriere, an seine Verpflichtungen den Fans gegenüber denken mußte…

Dennoch klopfte er recht zaghaft an ihre Zimmertür.

Susanne lag im Bett, neben ihr saß ein Mann, den Jonas schon einmal hier gesehen hatte. In mindestens fünf Vasen standen gelbe Teerosen. Ihr Duft erfüllte den ganzen Raum. Susanne sah gut aus, auch wenn sie sehr schmal geworden war. Aber ihre Augen leuchteten, und im letzten Moment bemerkte Jonas, daß sie ihre Hand aus der des anderen Mannes zog.

»Hallo…« Langsam trat er näher. »Ich bin wieder im Lande und wollte sehen, wie’s dir geht.«

»Danke. Ganz gut.« Susannes Stimme klang ganz neutral. Kein Vorwurf schwang darin mit, aber auch kein bißchen Freude. Sie sah Jonas ruhig und gelassen entgegen, und er spürte ein dumpfes Gefühl in sich aufsteigen – Ärger, Verzweiflung, Trauer… es war von allem ein bißchen. Und Tatsache war, daß er Susanne verloren hatte! Es tat weh, weher als gedacht, und auf einmal schämte er sich für sein Benehmen.

Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu. »Du bist operiert worden, nicht wahr?«

»Ja. Vor einer Woche.«

»Und? Ist alles gutgegangen?«

»Danke, ja. Wir sind sehr zufrieden, die Ärzte und ich.« Sie wies auf den Mann neben sich, der nicht die geringsten Anstalten machte, den Platz an ihrem Bett zu räumen. »Darf ich bekannt machen? Das ist Jonas Johannson, den du sicher schon kennst, Thorsten. Und das ist Thorsten Franzen, ein Mitpatient.«

Jonas atmete auf. Also nur ein Kranker, der hier war, um Susanne die Zeit zu vertreiben! Gleich breitete sich wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Na also! Wer sagte es denn? Sie war doch ganz auf ihn, Jonas, fixiert!

»Hallo. Wie geht’s?«

»Danke, ausgezeichnet.« Thorsten erhob sich ein bißchen schwerfällig, und Jonas sah erst jetzt, daß der andere sein Bein in Gips hatte und auch sonst noch einige sichtbare Blessuren hatte.

»Thorsten hat mir in den Tagen vor und nach der Operation sehr geholfen«, erzählte Susanne da. »Er war immer da, wenn ich mutlos und verzagt war. Und…« Jetzt griff sie wieder nach der Hand des anderen! »… er hat ein wundervolles Mittel gefunden, mir neuen Lebensmut zu geben!«

»Du wirst also wieder gesund. Schön für dich.« Jonas fühlte sich unbehaglich. Er wußte nicht, wie er diese Situation einschätzen sollte. Irgendwie hatte er das Empfinden, daß Susanne sich ein wenig lustig machte über ihn, daß sie ihn – vorführte. Ja, das war wohl das richtige Wort.

»Die Zeitschriften sind hoffentlich von hier«, sagte sie jetzt. »Ungarische kann ich nämlich nicht lesen!«

»Natürlich sind es deutsche Illustrierte«, bemerkte er nun beleidigt. »Was denkst du denn von mir?«

Susanne sah ihm fest in die Augen. »Frag mich das lieber nicht, Jonas. Und jetzt laß uns bitte allein. Es war sehr freundlich von dir, dich nach meinem Befinden zu erkundigen, aber…«

»Sag mal, wie behandelst du mich? So wie einen Verbrecher! Wie jemanden, der…«

»Wie jemanden, der Susanne in den schwersten Tagen ihres Lebens im Stich gelassen hat.« Thorsten hatte sich wieder erhoben. Er war wesentlich größer als der Rennfahrer. »Wenn ich Sie auch nicht verstehen kann – ich bin Ihnen dennoch sehr dankbar, denn wenn Sie nicht Ihre Karriere, Ihren beruflichen Ehrgeiz höher gestellt hätten als die Zuneigung zu der Frau, die Sie angeblich geliebt haben… wer weiß, ob Susanne mir dann eine Chance gegeben hätte.« Er nahm die Zeitschriften aus Jonas’ Hand. »Die können Sie wirklich gern hier lassen. Und jetzt – auf Wiedersehen, Herr Johannson.«

»Susanne, das kannst du doch nicht zulassen!« Jonas hatte einen roten Kopf bekommen und sah mit blitzenden Augen auf die junge Frau im Bett.

Doch Susanne zuckte nur mit den Schultern. »Sei klug und geh, Jonas, dann kann ich dich wenigstens als höflichen Mann in Erinnerung behalten.«

Das war zuviel! Der erfolgverwöhnte junge Rennfahrer verließ mit langen Schritten das Zimmer. Er verstand die Welt nicht mehr und kam sich sehr, sehr schlecht behandelt vor. Was wollte Susanne denn noch von ihm? Er war zu ihr zurückgekehrt, hatte sie in der Klinik besucht, obwohl er nicht sicher hatte sein können, daß sie nicht gelähmt bleiben würde. Er hatte sogar das Treffen mit zwei wichtigen Journalisten verschoben und…

»Ach was, sie ist es nicht wert«, murmelte er wütend vor sich hin und versuchte alles, um das schlechte Gewissen, das an ihm nagte und einfach nicht zum Schweigen zu bringen war, zu ignorieren.

Doch es blieb eine Tatsache – er hatte sich schäbig verhalten, und Susanne hatte die Konsequenzen gezogen und ihm gezeigt, was sie von ihm hielt. Nämlich nichts.

Das war bitter. Das war sehr schwer zu verkraften. Jonas brauchte eine ganze Nacht in einer Bar und unzählige Drinks, bis er dies schaffte und sein Selbstbewußtsein wieder die Oberhand gewann.

In der Kurfürsten-Klinik saßen Susanne und Thorsten noch lange beieinander, nachdem der Rennfahrer das Krankenzimmer verlassen hatte.

»Danke, daß du bei mir geblieben bist«, sagte Susanne als erstes und griff wieder nach der Hand des Mannes. »Vielleicht wäre ich sonst nicht so ruhig geblieben.«

»Liebst du ihn noch?« wollte Thorsten wissen, und Susanne las die heimliche Angst in seinen Augen.

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein. Und ich glaube, ich habe ihn nie wirklich geliebt. Was Liebe ist…« Sie brach ab und biß sich auf die Lippen.

»Ja? Was wolltest du sagen?« Thorsten beugte sich vor, ein zärtliches Lächeln in den Mundwinkeln.

»Ach, nichts.« Susanne wandte verlegen den Kopf zur Seite. Was hätte sie da beinahe gesagt? Sie war eine kranke Frau, noch immer stand nicht fest, ob die Operation hundertprozentig gelungen war, ob der Tumor nicht rasch nachwachsen würde. Sie durfte gar nicht daran denken, einen anderen Menschen an sich zu binden. Und von Liebe… von der großen Liebe sollte sie besser nur träumen, die war nicht für sie bestimmt.

Thorsten stand auf und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Die gebrochenen Rippen schmerzten, das Bein, das immer noch nicht verheilt war und im Grunde auch nicht belastet werden durfte, tat höllisch weh. Aber darauf durfte er jetzt keine Rücksicht nehmen…

»Ich liebe dich, Susanne«, sagte er eindringlich. »Ich liebe dich, so wie du bist.« Und als sie ihn nur aus großen Augen ansah, fuhr er fort: »Ich weiß noch genau, was ich gedacht habe, als Dr. Winter mich bat, mich ein wenig um dich zu kümmern und dir eine Chance als Zeichnerin in meinem Betrieb zu geben: ›Tu ein gutes Werk, Thorsten«, hab’ ich gedacht, ›wer weiß, wozu es mal gut ist.‹ Und dann sah ich das Bild, das du von mir gezeichnet hast, ich lernte dich kennen… und alles war vergessen. Ich hab’ mich spontan in dich verliebt.« Er hauchte kleine zärtliche Küsse auf ihr Gesicht. »Nein, Susanne, ich liebe dich. So wie du bist.«

»Aber ich bin vielleicht schwer krank!« Sie versuchte sich aus seinem liebevollen Griff zu befreien, doch er ließ sie nicht los. »Du wirst ganz gesund werden. So wie ich. Und dann steht unserem Glück nichts im Weg. Du mußt nur ja sagen, Susanne, dann heirate ich dich noch am Tag der Entlassung aus der Klinik.«

»Aber…«

»Nein, kein Aber mehr. Nur noch ›Ich liebe dich‹.« Er küßte sie, daß sie gar nicht anders konnte, als seine Zärtlichkeiten zu erwidern.

Dr. Winter, der leise hereingekommen war, zog sich rasch wieder zurück. »Die Visite bei Frau Burgmer verschieben wir um eine Viertelstunde«, sagte er und zwinkerte Schwester Walli zu.

Am nächsten Tag waren die gelben Rosen in Susannes Zimmer in eine Ecke verbannt worden. Dafür stand ein prachtvoller Strauß roter Rosen auf ihrem Nachttisch.

»Gratuliere«, sagte Adrian, als er am Morgen das Zimmer betrat und seiner jungen Patientin die Hand gab. »Ich freue mich für Sie.«

»Danke, Dr. Winter.« Susanne lächelte verträumt. »Sie haben großen Anteil an meinem Glück… und es wäre einfach herrlich, wenn sich auch mein letzter Wunsch noch verwirklichen ließe. Ich möchte Thorsten erst heiraten, wenn ich weiß, daß ich wieder ganz gesund bin.«

»Das verstehe ich gut.« Der Arzt wurde ernst. »Dann sind Sie sicher einverstanden, daß Dr. Franklin morgen kommt und eine Abschlußuntersuchung vornimmt. Er muß nämlich zurück nach London und möchte Sie gern selbst untersuchen, bevor er reist.«

»Schon?« Susanne sah Adrian zweifelnd an. »Kann er denn schon sagen, ob alles in Ordnung ist? Was passiert, wenn der Tumor wieder wächst?«

Dr. Winter schüttelte den Kopf. »Das kann er nicht. Wir haben ihn vollkommen herausgeschält, ich bin ganz sicher, daß er nicht gestreut hat und Sie beste Heilungschancen haben. Jetzt müssen Sie nur noch lernen, sich wieder ohne Krücken zu bewegen.«

Susanne nickte. »Ich will wirklich gern alle Reha-Maßnahmen über mich ergehen lassen, wenn ich nur gesund werde. Gerade jetzt, wo Thorsten und ich uns gefunden haben.« Sie lächelte zu dem Arzt auf. »Ich bin so glücklich wie noch nie – trotz allem, was ich hier erleben mußte.«

»Ich bin sicher, daß Sie morgen noch eine kleine Steigerung erfahren werden«, sagte Adrian, und damit sollte er recht behalten, denn die eingehenden Untersuchungen ergaben, daß Susanne als völlig geheilt entlassen werden konnte. Das Rückenmark war gesund, es zeigten sich keine kranken Zellkulturen, und als sie versuchte, auch ohne Krücken ein paar Schritte zu gehen, als sie die Beine hundertprozentig belastete, war klar, daß sie schon bald völlig beschwerdefrei würde gehen und sich bewegen können.

»Ich bin sehr zufrieden«, sagte Dr. Franklin und reichte ihr zum Abschied die Hand.

»Und ich bin überglücklich und sehr, sehr dankbar«, gab Susanne zurück.

Zu Schwester Walli, die sie im Rollstuhl auf die Station fuhr, sagte sie: »Bitte, Schwester, bringen Sie mich zu Herrn Franzen, ja?«

Walli nickte. »Natürlich. Ich fahre Sie hin.«

Doch Susanne schüttelte den Kopf. »Ich gehe zu ihm«, sagte sie, und als sie wenig später auf Thorsten zuging und sich in seine Arme schmiegte, waren es Schritte ins große Glück.

Kurfürstenklinik Staffel 6 – Arztroman

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