Читать книгу Piv - und die Kapitänskiste - Nina Sahl - Страница 3
Kapitel 1
Оглавление„Da sind wir!“, verkündet Onkel John endlich und parkt den Wagen im Sonnenschein vor dem kleinen roten Haus. Piv dreht sich auf dem Rücksitz um und sieht aus dem Heckfenster. Dann rollt sie die Kabel ihrer Kopfhörer zusammen und steigt hinter Sabine aus dem Auto.
Sie stehen auf dem Bürgersteig, gähnen und recken und strecken sich, um die lange Autofahrt aus den Knochen zu bekommen.
„Mein Hintern ist eingeschlafen“, lacht Sabine und reibt sich die Pobacken. Piv und Onkel John grinsen sie an, während Tante Berit die Schlüssel aus ihrer Tasche herauskramt.
„Na dann kommt mal rein“, sagt sie schließlich und öffnet die Haustür. Sabine springt hinein und beginnt sofort, herumzustöbern und neugierig hinter Türen und in Schränke zu schauen. Sie hört gar nicht, als Tante Berit sie darum bittet, mit dem Ausladen des Gepäcks zu helfen.
Piv schultert einen Rucksack und folgt ihrer Cousine ins Haus.
„Schön ist es hier“, staunt sie und geht durch den Flur in das Wohnzimmer. Sabine wuselt bereits durch die Küche und ist offensichtlich dabei, alles anzufassen und genauer zu untersuchen.
„Wo schlafen wir?“ Piv schlendert durch das Wohnzimmer in die Küche hin zu ihrer neugierigen Cousine.
„Oben!“, jubelt Sabine und fliegt mit einem Satz die steile Treppe hinauf. „Komm und schau’s dir an!“
Piv setzt ihren Rucksack ab, stellt ihn in den Flur und stiefelt hinter ihrer Cousine die Treppe hinauf. Neugierig schaut sie Sabine über die Schulter, als sie eine der beiden Zimmertüren der oberen Etage öffnet. Sie führt in ein Badezimmer.
„Na, hier drin ist es wohl nicht“, stellt Sabine grinsend fest und schließt die Tür wieder. Dann versucht sie die nächste Tür. Hinter dieser verbirgt sich ein großes helles Loftzimmer mit schrägen Wänden und Fenstern zu beiden Seiten.
Piv geht zu einem der Fenster und blickt hinaus. Von hier aus kann man den ganzen Garten überblicken. Er ist groß, grün und überall wachsen wilde Büsche und Bäume.
Sabine springt an das andere Fenster und schaut hinaus. „Komm mal her, Piv! Guck mal!“, ruft sie begeistert und öffnet das Fenster mit einem Ruck. Gelassen schlendert Piv über den blankpolierten Fußboden und stellt sich neben ihre Cousine.
„Was denn?“, fragt sie. Sabine deutet aus dem Fenster über die Dächer unten im Ort. Von hier aus können sie die ganze verschlafene Stadt erblicken. Sie sehen den Hafen mit all seinen Booten, die auf dem glitzernden Wasser umherdümpeln. Die Kirche mit ihrem hohen Turm und dem spitzen Dach. Und das Schloss, das ein wenig abseits außerhalb der Stadtgrenzen liegt.
„Och, man kann den Strand nicht sehen“, beklagt sich Sabine. Sie lehnt sich weit aus dem Fenster und sieht hinunter auf die Straße.
„Hallo Mama!“, ruft sie und winkt Tante Berit zu, die unten auf dem Bürgersteig steht.
„Hallo, mein Schatz!“, ruft Tante Berit hinauf. „Was glaubt ihr eigentlich, wer all eure Sachen ins Haus tragen soll?“
Piv lächelt und zieht sanft an Sabines Arm.
„Ja, ja!“, grinst diese und verdreht die Augen. „Wir kommen ja schon“, ruft sie aus dem Fenster, bevor sie, dicht gefolgt von Piv, das Zimmer verlässt.
***
Die Sonne glüht heiß über der Stadt. Die Luft ist erfüllt mit Düften von Gewürzen und süßen Blumen, die in den Vorgärten der alten Häuser wachsen. Piv und Sabine spazieren durch die Stadt, während Sabines Eltern fertig auspacken und das Essen zubereiten. „Diese Stadt hier ist ja echt uralt!“, stellt Sabine fest und schnuppert an einer hellroten Rose, die an einer Hausmauer aus einer Halterung herausguckt. Sie sticht sich an einem Dorn und lässt schnell wieder von der Blume ab. „Es ist, als würde man durch die Vergangenheit spazieren.“
Piv steckt ihre Nase in die Blüte der nächsten Rose. Ein milder, feiner Duft kriecht ihr in die Nase und sie muss unweigerlich lächeln.
„Ich finde es wunderschön hier“, meint sie glücklich und schaut gelassen die enge Straße hinunter. Die Häuser auf beiden Straßenseiten sind klein und gemütlich. Die meisten sind Fachwerkhäuser wie auf alten Bauernhöfen und haben kleine, niedrige Fenster und zahllose Sommerblumen in ihren Vorgärten. „Wie eine kleine Märchenstadt“, seufzt sie zufrieden. „Als hätte jemand die Zeit angehalten.“
Sabine rümpft die Nase und geht weiter.
„Ach“, erwidert sie gleichgültig. „Das ist eher was für Geschichts-Nerds. Ich finde es eher ein bisschen langweilig. Alte Bruchbuden und Blumen und was weiß ich. Wenn wenigstens das Meer hier in der Nähe wäre. Weißt du eigentlich, wie weit es bis zum Strand ist? Wir brauchen sicherlich mindestens zehn Minuten dorthin. Oder sogar 15. Von unserem Sommerhaus aus kann man den Strand ja nicht mal sehen!“
Piv seufzt. Sie genießt es gerade sehr, die engen verwinkelten Gassen entlang zu spazieren und die kleinen schiefen Häuser mit ihren niedlichen Türen und den duftenden Vorgärten zu begutachten. Im Vorbeigehen liest sie die Namen auf den Türschildern.
„Ja, und?“, murmelt sie gedankenversunken. „Wir haben doch unsere Räder mitgebracht, dann dauert es nur fünf Minuten.“
Sabine überlegt.
„Du hast ja recht“, gibt sie zu und hakt sich bei Piv ein. Dann hüpft sie auf dem schmalen Fußweg von dannen, mit ihrer Cousine an ihrer Seite.
Vor ihnen schwingt der Weg in eine leichte Kurve. Die Mädchen folgen ihm. Hinter der Kurve fällt ihr Blick auf ein altes Gebäude, das etwas abseits der anderen Häuser liegt.
„Lass uns dort mal hingehen“, schlägt Sabine vor und zieht ungeduldig an Piv, damit sie ihr Tempo beschleunigt. Über der Tür des alten Hauses hängt ein Schild. Gasthaus zur Schanze steht dort in zerfledderten Buchstaben. Direkt darunter fegt ein Junge die Fliesen auf der Türschwelle. Er ist sehr konzentriert bei der Arbeit.
„Lass uns ihn nicht stören“, flüstert Piv und versucht, Sabine auf die andere Straßenseite zu bugsieren. Doch Sabine lässt sich nicht beirren.
„Na, wollen wir mal sehen“, lacht sie, packt Piv am Arm und zieht sie mit sich. „Du bist so ein Angsthase, Piv! Es kann genauso gut sein, dass wir hier neue Freunde finden. Das wär doch toll!“
Der Junge sieht auf, als er Sabines Lachen hört. Als er die Mädchen erblickt, hört er sofort auf zu fegen und starrt verwirrt, mit großen Augen und offenem Mund in ihre Richtung. Piv bemerkt, dass er besonders Sabine fixiert.
„Hi!“, begrüßt Sabine ihn mit einem großen Lächeln. Der Junge schluckt und blinzelt verlegen.
„Äh, hi“, grüßt er schüchtern zurück und errötet bis unter seinen hellbraunen Haarschopf.
„Ich bin Sabine. Und das hier ist meine Cousine Piv.“ Sabine legt eine Hand auf Pivs Schulter, aber der Junge sieht sie nicht an. Nicht eine Sekunde lang kann er den Blick von Sabine abwenden.
„Wie heißt du denn?“, fragt sie ihn. Er antwortet nicht sofort. Zunächst fährt er sich mit der Zunge über die Lippen, als wären sie von dem vielen Fegen ausgetrocknet.
„Ich heiße Magne“, antwortet er schließlich. „Wie ’Magnus’ nur ohne ’us’. Magne.“
Sabine lässt den Namen in ihrem Mund nachschmecken. „Magne“, sagt sie langsam. „Cool. Was treibst du so?“
„Ich fege“, murmelt er und hebt seinen Besen ein Stück an. „Das mache ich fast jeden Tag. Aber jetzt bin ich gerade fertig. Ich hol mir eine Limo, wollt ihr auch eine? Die Flaschen sind hier drin.“
Piv und Sabine sehen sich um
„Drin?“, fragt Sabine. „Wo denn drin?“
Magne deutet auf das weiße Haus mit den schwarzen Balken hinter sich.
„Dort drin“, antwortet er. „Im Gasthaus. Ihr könnt gerne mitkommen. Schön, mal ein paar Gäste zu haben.“
„Ins Gasthaus?“ Sabine ist überrascht.
Piv sieht auf die Bierreklame, die über ihnen leuchtet. „Darfst du da überhaupt reingehen?“, fragt sie verblüfft. „Das ist doch nur für Erwachsene, oder?!“
Magne nickt.
„Naja“, antwortet er kaum vernehmlich. „Manchmal kommen auch Kinder. Meistens zum Frühstück oder wenn jemand ein Familienfest feiert.“ Er umfasst den Besen mit festem Griff und geht zu der Tür im Bretterzaun neben dem Gasthaus.
„Wir haben Limos und Chips“, fährt er fort. „Das nehme ich immer gern.“
Neugierig folgt Sabine Magne in den kleinen Hinterhof und schleift Piv mit sich. Dort bleiben die Mädchen stehen, treten von einem Fuß auf den anderen, während Magne das schiefe Gatter mit einem Haken verschließt.
Piv sieht sich um. Der Boden des Hofes ist mit Asphalt überzogen und am Zaun stehen grüne Müllcontainer. Sie sind so randvoll gestopft, dass die Deckel einen Spalt weit aufstehen und alte Reklamezeitungen und Pizzakartons unter ihnen hervorlugen. Neben den Containern liegen Säcke mit noch mehr Abfall und Kisten mit leeren Pfandflaschen.
„Hier riecht es komisch“, flüstert Sabine Piv zu, während sie Magne über den Asphalt folgen. Er führt sie durch den düsteren Hinterhof zu einer Tür, die in das Fachwerkhaus hineinführt. Sie ist nur angelehnt und sie hören klappernde Gläser, als sie eintreten. Magne schlüpft hinter die Bar, schnappt sich drei Flaschen Limonade und ein paar kleine Chipstüten. Piv und Sabine stehen mucksmäuschenstill im dunklen Flur und warten.
„Warum bist du eigentlich hier?“, fragt Piv, als sie einen Augenblick später eine Cola von Magne entgegennimmt.
Verwirrt schaut er sie an.
„Was meinst du?“, fragt er sie. Geräusche von lachenden Menschen und Gläsern dringen aus der Bar zu ihnen in den dunklen Flur.
„Hier, meine ich“, versucht Piv sich zu erklären. „In einem Gasthaus.“
Als er gerade antworten will, lugt ein Kopf mit roten Haaren und riesigen Ohrringen aus der Tür zur Bar hinaus in den Flur.
„Hallo Magne“, grüßt die Frau fröhlich. Magne sieht kurz zu ihr und wendet dann seine ganze Aufmerksamkeit wieder Sabine zu.
„Ich habe gar nicht gehört, dass du hineingekommen bist“, sagt die Frau. „Oder dass du Gäste mitgebracht hast. Was für eine Überraschung, das muss ich schon sagen!“ Sie trocknet sich die Hände an dem Handtuch ab, das ihr über der Schulter hängt. Dann reicht sie erst Piv und anschließend Sabine die Hand.
„Ich heiße Sanne“, stellt sie sich vor. „Willkommen! Magne, ihr nehmt euch einfach, worauf ihr Lust habt, okay? Und es sind noch Spaghetti im Kühlschank, falls ihr Hunger bekommt.“ Sie lächelt immer noch und legt eine Hand auf Magnes Schulter. Er steht stocksteif da, bis sie ihn wieder loslässt.
„Naja, macht’s euch gemütlich, ihr drei!“, sagt sie fröhlich. „Und sagt Bescheid, wenn ihr irgendetwas braucht. Ich stehe den ganzen Abend hinter der Bar.“ Dann wendet sie sich um und geht wieder in die Küche. Ein würziger Duft von gebratenem Fleisch weht in den Flur, als sie die Tür öffnet und hinter sich wieder schließt. Piv spürt schon Hunger aufkommen. Als Sanne weg ist, atmet Magne erleichtert auf.
„Wer war das?“, fragt Sabine neugierig und setzt sich auf die Treppe. Piv lässt sich neben ihr nieder und sieht Magne an. Er steht auf dem braunen Holzfußboden, die Arme hinterm Rücken verschränkt.
„Das war Sanne“, sagt er kühl und ohne den Blick zu heben. „Sie arbeitet bloß hier.“
„Sie ist hübsch“, findet Sabine und nimmt einen Schluck Cola. Magnus runzelt die Augenbrauen und schnaubt verdrossen.
„Ach“, murmelt er und wendet den Kopf, so dass die Mädchen sein Gesicht nicht sehen können. Piv beobachtet ihn und pult an dem Etikett ihrer Colaflasche herum.
„Wo wohnst du denn?“, fragt sie ihn schließlich. Ein verwunderter Blick huscht in seine runden, braunen Augen.
„Hier wohne ich“, antwortet er.
Nun ist Sabine an der Reihe, erstaunt zu gucken.
„In einem Gasthaus?“, fragt sie ein bisschen zu schrill. „Kann man in einem Gasthaus wohnen?“
„Natürlich kann man das.“ Magne spricht gedämpft. „Unsere Wohnung ist in der oberen Etage. Wollt ihr sie sehen?“
Piv und Sabine nicken und stehen auf, damit er an ihnen vorbei die Treppe hinaufsteigen kann. Am Ende der Treppe ist eine Tür. Sie knarrt laut, als Magne sie öffnet.
„Hier also... schön hier“, lügt Piv, um höflich zu klingen. Sie folgt Magne in die kleine, düstere Wohnung.
Die Gardinen im Wohnzimmer sind zugezogen. Dennoch sickert ausreichend schwaches Licht durch den Stoff, so dass man das Chaos erkennen kann. Leere Colaflaschen auf dem Couchtisch, Wäscheberge auf dem Sofa und Haufen von Kabeln für alle möglichen Geräte wuchern durch das Zimmer.
Sie gehen am Wohnzimmer vorbei in die Küche. Hier stapeln sich Berge von Geschirr und auf den Fensterbänken stehen Kübel mit vertrockneten Pflanzen.
„Wohnt hier noch jemand mit dir?“, fragt Piv, als sie die Küche wieder verlassen. Magne führt sie an einer weiteren offenen Tür vorbei, die Einblick in ein ebenso verwüstetes Schlafzimmer gewährt, um die Treppe herum, hin zu dem anderen Schlafzimmer am anderen Ende der Wohnung.
„Nur mein Vater und ich“, antwortet er und öffnet die Tür zu seinem Zimmer. Hier ist es ganz anders als in der restlichen Wohnung. Hell, sauber und nicht im Geringsten unordentlich. Piv kann es fast gar nicht glauben, dass sie sich immer noch in derselben Wohnung befindet.
„Wo ist deine Mutter?“, fragt Sabine interessiert. Magne lehnt sich an die Wand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er wendet den Blick ab.
Piv bleibt in der Tür stehen. Über dem Bett hängt ein gerahmtes Bild von einer Frau.
„Sie ist tot“, sagt Magne.
Sabine und Piv reißen die Augen weit auf, als hätte jemand ihnen einen gewaltigen Schrecken eingejagt.
„Ich war noch klein als sie starb.“ Magne beeilt sich weiterzusprechen, bevor die Mädchen ihm Fragen stellen können. „Sie war sehr krank. Mein Vater spricht nicht oft von ihr.“
„Warum das denn nicht?“, will Sabine wissen. Sie setzt sich auf Magnes Schreibtischstuhl und stellt ihre Cola auf die blaue Schreibunterlage des Tisches. Nun betritt auch Piv zögernd das Zimmer. Sie setzt sich auf Magnes Bettkante.
„Ich glaube, er möchte mich nicht traurig machen“, antwortet Magne. Sabine nickt und knibbelt abwesend an irgendwelchem Krimskrams herum, den sie auf dem Schreibtisch gefunden hat.
„Fehlt sie dir?“, fragt Piv vorsichtig. Sie verspürt einen heftigen Druck im Magen und vermisst plötzlich ihre eigene Mutter.
Magne antwortet nicht. Stattdessen senkt er den Kopf und schaut auf seine Schuhspitzen. Ein paar lange Sekunden ist es totenstill zwischen den dreien.
„Manchmal vermiss ich sie schon“, murmelt er und schließt die Augen. Piv beißt sich betreten in die Unterlippe.
„Meistens, wenn ich krank bin oder so“, fährt er fort. „Oder einsam.“
Plötzlich erträgt Sabine die bedrückte Stimmung nicht mehr und schnellt wie eine Sprungfeder von ihrem Stuhl auf.
„Gibt es in dieser Stadt eigentlich irgendwelche spannenden Orte, an denen was passiert?“, fragt sie und marschiert Richtung Zimmertür. „Also, mal abgesehen vom Strand.“
Magne hebt den Kopf und sieht sie erstaunt an. Dann schenkt er ihr ein vorsichtiges Lächeln und zeigt aus dem Fenster.
„Dort ist der Hafen“, antwortet er. „Dort gibt es das beste Eis der Welt. Und dort hinten ist das Schloss, aber die haben gerade zugemacht. Im Sommer gibt es dort jeden Tag Besichtigungen und Führungen. Und dort ist unser Museum. Aber das hat jetzt auch schon geschlossen.“
„Tja, es ist schon eine ziemlich langweilige Stadt“, seufzt Sabine und greift in ihre Chipstüte. „Und es ist ewig weit zum Strand. Wir müssen auch langsam mal nach Hause zum Abendessen. Aber wir kommen einfach morgen wieder, oder Piv? Dann können wir ja mal das sagenumwobene Eis da unten am Hafen probieren. Das klingt immerhin nach guten Sommerferien.“