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POLITISCHER ISLAM: SEINE URSPRÜNGE UND SEIN SELBSTVERSTÄNDNIS

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Als Islamismus im eigentlichen Sinne wird eine moderne politische Strömung innerhalb des Islam bezeichnet, die 1928 mit der Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten die Bühne betrat. Politischer Islam und Islamismus sind Begriffe, die in der wissenschaftlichen wie allgemeinen Debatte meist synonym verwendet werden. Mit ihnen wird das Phänomen einer auf dem Islam basierenden politischen Ideologie bezeichnet. Dieses Phänomen ist keine Erfindung von „Islamfeinden“, wie von manchen ins Feld geführt wird. Es waren vielmehr die Väter des Islamismus selbst, die den Islam als eigenständiges politisches Konzept definierten.

Für den Gründer der Muslimbruderschaft, Hasan al-Bannā (1906–1949), war der Weg des Westens von ökonomischen Krisen und aufsteigenden Diktaturen geprägt. Damit meinte er sowohl die westlichen Demokratien als auch Faschismus und Kommunismus. Dem gegenüber sah er im Weg des Islam eine historisch bewährte und eigenständige politische Alternative. Al-Bannā begriff den Islam keineswegs als rein spirituellen Rahmen, sondern definierte ihn, islamischer Ideengeschichte folgend, als politisch-religiöses Konzept, das die Grundlage der idealen Gesellschaft und des idealen Staates bilden und alle Bereiche derselben umfassen müsste. Um sich von ihren säkular eingestellten Gegnern abzugrenzen, haben in der Folge verschiedenste Gruppen sich selbst als „Islamisten“ (islamiyun) bezeichnet7 und von der islamischen Erweckung (Sahwa) gesprochen.

Einen einheitlichen Islamismus gibt es nicht, aber wie bei anderen Phänomenen gibt es natürlich bedeutungsunterscheidende Merkmale, die es uns erlauben, sie von anderen abzugrenzen und ihr Wesen zu erfassen und zu definieren. Wir haben es beim Islamismus, wie bei jeder anderen größeren politisch-ideologischen Bewegung auch, mit einem Spektrum von verschiedensten Organisationen zu tun. Dazu zählen staatlich-islamische Akteure ebenso wie transnationale und nationale Organisationen, die bei all ihren Unterschieden eine Idee eint: die Umgestaltung von Staat und Gesellschaft nach islamischen Regeln. Das islamistische Spektrum reicht von dschihadistischen Organisationen wie dem IS oder al-Qaida, die sich als internationale Organisationen begreifen und teilweise weltweit als eine Art Franchisesystem funktionieren, bis hin zu legalistischen, also sich im Rahmen der jeweiligen staatlichen Gesetze bewegenden Organisationen. Zu Letzteren zählt etwa die DMG („Deutsche Muslimische Gemeinschaft“) – ehemals IGD („Islamische Gemeinschaft in Deutschland) –, die nach Einschätzung des deutschen Verfassungsschutzes als wichtigste Organisation von Anhängern der Muslimbruderschaft gilt, die versuche, im gesellschaftlichen und politischen Bereich Einfluss zu nehmen.8

Ein weiterer islamistischer Player des legalistischen Spektrums ist die türkische, neo-osmanisch ausgerichtete Millî-Görüş-Bewegung („Nationale Sicht“), die in Deutschland ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet wird.9 Sie arbeitet eng mit der Muslimbruderschaft zusammen. Aus der Millî-Görüş-Bewegung stammt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Er vertritt als politischer Ziehsohn des Gründers Necmettin Erbakan (1926–2011) nach wie vor die Ideologie der Bewegung. Von Beginn seiner politischen Karriere an verfolgte er einen Islamisierungskurs entgegen dem in der Türkei herrschenden Kemalismus. Dieser Kurs zeichnete sich schon nach seiner Wahl zum Oberbürgermeister von Istanbul (1994 bis 1998) ab, als er verlautbarte, man könne nicht gleichzeitig laizistisch und Muslim sein. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt wurde der Alkoholausschank in städtischen Gastronomiebetrieben eingestellt. Seine Absicht, gesonderte Badezonen für Frauen und nach Geschlechtern getrennte Schulbusse einzuführen, stieß jedoch auf zu großen Widerstand. Erdoğan hat aus seiner Einstellung und seinen Zielen nie einen Hehl gemacht und sie bei aller notwendigen Taktik konsequent verfolgt, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollten und ihn aus verschiedenen Motiven als demokratischen Erneuerer begrüßten. Daher verwundert es nicht, dass sich unter seiner Ägide nach und nach auch die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet mit ihren Ablegern in sämtlichen Ländern, in die türkische Musliminnen und Muslime ausgewandert sind (in Österreich unter dem Namen ATIB, in Deutschland unter DITIB bekannt), zu einer islamistischen Organisation entwickelt hat.

› Dschihadismus und gewaltfreier legalistischer Islamismus unterscheiden sich in erster Linie in ihren Methoden und in der konkreten Ausformulierung ihrer Ziele und nicht so sehr in den Grundzügen ihrer Ideologie.

Während die einen zur Waffe greifen, um ihre Utopie gewaltsam herbeizuzwingen, haben sich die anderen auf den berühmten „Marsch durch die Institutionen“ begeben. Sie sind heute in politischen Parteien und NGOs vertreten, arbeiten in den europäischen Ländern, in denen sie leben, mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Stellen zusammen und beginnen, sich in eigenen politischen Parteien zu organisieren.

Ein zentrales Anliegen islamistischer Organisationen ist eine gesellschaftliche Sonderstellung des Islam, die mit einer Teilhabe am demokratischen System bei gleichzeitiger Segregation von der Mehrheitsgesellschaft einhergeht. Was auf den ersten Blick verwirrend erscheint, macht aus islamistischer Logik durchaus Sinn. Freiräume für konservativ-islamische Communitys, innerhalb derer nach islamischen Regeln gelebt werden kann, lassen sich in einem demokratischen System zunächst nur nach demokratischen Regeln erreichen, in der Hoffnung, irgendwann über jene politischen Mehrheiten zu verfügen, die es erlauben, die Regeln selbst zu ändern. Erdoğan hat diese Strategie in einer Wahlkampfrede im Jahr 1998 mit einem Zitat aus dem mittlerweile berühmten Gedicht des türkischen Dichters und Politikers Ziya Gökalp (1876–1924) auf den Punkt gebracht: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Die verschiedenen islamistischen Strömungen weisen neben unterschiedlichen Methoden, wie dieses Ziel zu erreichen sei, natürlich auch eine ganze Menge ideologischer Differenzen auf. Selbst innerhalb einer Organisation treten immer wieder Richtungskämpfe zutage. Dieses Phänomen ist allen größeren politischen Bewegungen eigen, wenn man etwa an die Bolschewiki und ihre internen Richtungskämpfe nach Lenins Tod denkt.

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