Читать книгу Lasst uns um Europa kämpfen - Nini Tsiklauri - Страница 11
STERNENWANDERN
ОглавлениеIch darf mich jetzt einmal ordentlich vorstellen: Mein Name ist Nini Tsiklauri. Ich bin das Mädchen, das im Höllenfeuer vor Gori geschworen hat, alles in seiner Macht Stehende für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu tun, sofern ich lebend dort rauskomme. Damals war ich sechzehn, ich bin lebend herausgekommen und habe Wort gehalten. Ich tue das in meiner Macht Stehende. Seit zwölf Jahren. Nicht zuletzt mit diesem Buch.
Ich bin die Nini Tsiklauri, die ihre Wurzeln in Georgien hat und in Ungarn und Deutschland aufgewachsen ist. Obwohl Georgien nicht zur EU gehört, ist meine Geschichte eine durch und durch europäische Geschichte.
Deshalb bin ich auch Nini Tsiklauri, die Europäerin. Die junge Frau mit dem blau-gelben Herzen, das für die Europäische Union schlägt. Ich war Schülerin, ich wurde Schauspielerin, jetzt bin ich Aktivistin für eine Gemeinschaft der Europäer, die unerschütterlich zusammenhält.
Komisches Gefühl, wenn ich das für euch so kurz zusammenfasse. 28 Jahre im Schnelldurchlauf. Aber das ist sie, die Essenz meiner seltsamen Lebensgeschichte, die so untrennbar mit meinem Engagement für die EU verwoben ist. Sie beginnt 1992 in Tiflis, wo ich auf die Welt kam, als sich mein Heimatland Georgien mitten in einem der schmerzhaftesten Kapitel seiner jüngeren Geschichte befand.
Gerade war der Kommunismus zusammengebrochen, seine Bollwerke gefallen. Die Berliner Mauer eingerissen, der Eiserne Vorhang demontiert, die Wende in Deutschland, der Untergang der Sowjetunion. Was Jahrzehnte lang als eine der beiden Weltmächte galt, begann in der Form, wie man sie so lange gekannt hatte, von der Landkarte zu verschwinden. Die Westmächte und der Ostblock. Diese Zweiteilung der Welt war Geschichte. Sie bekam ein anderes Gesicht.
Für Georgien hieß das die langersehnte Freiheit, das Land erlangte seine Unabhängigkeit. Gleichzeitig aber steckte es in einer tiefen Wirtschaftskrise. Russland hatte 1990 eine Wirtschaftsblockade verhängt, unter der Georgien fast in die Knie ging. Dazu der Bürgerkrieg in den georgischen Regionen Südossetien und Abchasien. Im Westen wurden die Kämpfe als von Georgien ausgehende Rückeroberung zweier Provinzen ausgelegt. In Wahrheit nutzte Russland die Separatisten in Abchasien und Südossetien für Massenmord und Vertreibung der dort lebenden Georgierinnen und Georgier. Eine Viertelmillion Menschen wurde dort aus ihrer Heimat vertrieben. Aus der langerkämpften Hoffnung meiner georgischen Landsleute auf eine Zukunft in Frieden und Freiheit war schnell ein Albtraum geworden.
Gescheitert und um Macht ringend, hielt Moskau an etwas fest, das der Hoffnung die Kehle zudrückte. Die knapp vier Millionen Georgier in diesem kaum siebzigtausend Quadratmeter kleinen Land fühlten sich ihrer Zukunft beraubt. Und ich spreche da nicht von lebensfremder Politik. Ich spreche von Realität und Alltag. Von persönlichem Erleben. Wie alle anderen war auch meiner Familie und mir die Aussicht auf ein Leben in einem offenen Land genommen. Verwehrt, bis zum heutigen Tag. Zerstört war die Perspektive Georgiens, jemals ein Teil der westlichen Welt, der EU oder der NATO zu werden.
Da bin ich also, 1993, ein Baby, noch kein Jahr alt. Ich liege in den Armen meiner jungen Eltern an einer großen, alten postsowjetischen Bus-Station, umgeben von Bürgerkrieg, Wirtschaftskollaps, Arbeitslosigkeit, Elend und Armut. Meine Großmutter, so erzählte man es mir, wischt sich hastig die Tränen von den Wangen. Tränen nützen nichts in Momenten wie diesen. Wir müssen stark bleiben, das war schon immer der Satz, der die Familie aufrecht und zusammenhielt.
Die Monate davor hatten wir bei Oma auf dem Land verbracht. Tiflis war ein gefährliches Pflaster geworden, insbesondere mit einem Baby wie mir. Die Hauptstadt stand mitten im Schusswechsel. Doch die Umstände waren auch am Land immer schlechter geworden. Die lückenhafte Lebensmittelversorgung, die kaum vorhandene Infrastruktur, die organisierte Kriminalität, ein kleines Land lag in einem riesigen Scherbenhaufen.
Das größte Ziel meiner Eltern war eine lebenswerte Zukunft für ihre Kinder. Wir sollten es später nicht nur besser, wir sollten alle Chancen haben. Wie die Dinge lagen, war das in Georgien nicht möglich. So etwas geht nur auf der Basis einer guten Ausbildung. Und die fänden wir nur in Europa. Europäische Bildung, das war also die Parole.
Eine gute Ausbildung in Europa war das einzige Fundament, auf dem sich alle Möglichkeiten aufbauen ließen. Sie war die Voraussetzung für alles. Nur mit dem Rüstzeug einer solchen Bildung konnte etwas aus uns werden, und nur diese Bildung konnte uns in die Lage bringen, später auch hier, vor Ort in unserer Heimat, etwas zu bewegen. Unsere einzige Zukunft lag also darin, die Heimat zu verlassen.
Davon waren meine Eltern überzeugt, und sie überzeugten meine Großeltern. Obwohl überzeugen vielleicht etwas zu hoch gegriffen ist, eher war es ein Überreden. Jedenfalls stimmten sie der großen Reise zu. Meine Oma gab mir einen letzten Kuss, bevor mich mein Vater zum Bus trug. Meine Eltern verstauten unser Gepäck, setzten sich und hielten mich so, dass Bebo mich durchs Fenster gut sehen konnte. Die Tränen flossen jetzt ungehindert, mit dem Abwischen kam sie nicht mehr hinterher. Sie winkte mit ihrem Taschentuch wie mit einer weißen Fahne, während der Bus anfuhr. Es war Abend, die Sonne ging langsam unter. Wir brachen auf in die Nacht, voller Hoffnung auf ein besseres Leben. Wir brachen auf nach Westen.