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Die Salami meiner Kindheit

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„Barčica po morju plava,

drevesa se priklanjajo,

oh le naprej, oh le naprej,

dokler je še vetra kej!“

„Das kleine Schiff schwimmt auf dem Meer,

die Bäume verneigen sich,

oh weiter, oh weiter,

solange es noch Wind gibt.“

Dieses Lied hat meine kleine Mama Neva mir immer vorgesungen, wenn wir mit dem Auto in den jug fuhren, meist Richtung Rijeka. Meine Schwester und ich saßen eingeklemmt mit meiner Großmutter Frančišca auf der Rückbank. Sobald die unglaublich blaue Adria mit den kleinen, friedlich auf ihr dahingleitenden Segelbooten in Sicht kam, begann meine Mutter zu singen.

Und ich war schrecklich aufgeregt, bis ich sie sah, meine geliebte, geliebte Adria. Jedes Mal musste ich weinen, sobald ich zum ersten Mal das Meer unterhalb der Berge am Horizont erblickte. Ein Heimatgefühl, das ich lange vehement unterdrückte.

Seit sechzehn Jahren nähere ich mich einmal jährlich der Heimat meiner Eltern, meinem Geburtsland, wieder an. Jugoslawien hieß es damals.

Jedes Jahr erhielt mein Vater aus der fernen Heimat ein großes Paket. Das war in den 1970ern. Telefonate waren damals teuer, es gab weder Internet noch Computer oder Handys. Seine damalige Aufregung entsprach meiner kindlichen, sobald ich das Meer sah.

In dem großen Paket waren luftgetrocknete Salami und Speck aus der Heimat. Damals war mir seine Freude fremd, mit der er die harte Speckschwarte eines Almschweines mit Zwiebeln und Brot auf einem Brett aufschnitt, dazu an einer knochentrockenen Salami sägte.

In der Konsumplastikwelt des TRI-TOP-Sirups meiner 70er Jahre-Kindheit wirkten diese aus heutiger Sicht natürlich aussehenden Würste widerlich.

Eine einzige große Salami war in dem Paket dabei, die meine Mutter ogarska, „die Ungarische“ nannte. Bis kurz vor ihrem Tod kaufte sie in Deutschland das hauchdünn geschnittene Pendant: ungarische Salami.

Maribor, meine Geburtsstadt und Heimatstadt meiner Eltern, grenzt an Prekmurje und das wiederum an Ungarn. Und zu Zeiten meiner Großmutter Frančišca Truppe-Ramelli war es ein Land: Das habsburgische Kaiser- und Königreich austro ogarska (Österreich-Ungarn) eben.

Auf besagter Salami war ein rotbackiges Mädchen in slawischer Tracht mit weißer Haube abgebildet. Eine Art jugoslawisches Rot-, nein, Weißkäppchen.

In einem Supermarkt in Premantura habe ich sie 2016 wiederentdeckt. Die Salami meiner Kindheit. Vor lauter Glück habe ich der kroatischen Wurstverkäuferin die Geschichte gleich auf Slowenisch erzählt, denn Kroatisch kann ich nicht – und hier schreibe ich sie auf Deutsch.


Etikett auf der Salami „Gavrilovic zimska salama“


Juni 2020: Die große Stadt Berlin ist wiedererwacht. Nachdem die Kurve der Infizierten verflachte, gab es Lockerungen. Die Regierung hatte zuvor einen Shutdown verfügt, Restaurants, Schulen, Kitas, Spielplätze, Theater, Kinos, Kirchen, Geschäfte blieben geschlossen. Die meisten Menschen arbeiteten im Homeoffice, andere waren in Kurzarbeit und versuchten dabei, ihre Kinder zu beschulen. Selten hatten Familien so viel Zeit miteinander verbracht.

Das Gebot „Stay at Home“ zog um die Welt, lediglich zum Einkauf mit Maske gingen die Berliner nach draußen oder zur Erholung mit einer Begleitperson in den Park. „Social Distancing“ bedeutete, mindestens anderthalb Meter Abstand zu anderen Menschen zu halten. Nur Angehörige einer Familie oder eines Haushalts durften gemeinsam die Wohnung verlassen. In vielen Ländern, wie Italien, Spanien, Frankreich, gab es ein totales Ausgehverbot. Lediglich mit Legitimationsschein war es dort erlaubt einkaufen zu gehen. Grenzen wurden geschlossen. Vierzehntägige Quarantänen wurden verfügt. Ein Versuch, die Pandemie aufzuhalten, Zeit zu gewinnen.

Auch sie hatte gehofft, Zeit zu gewinnen durch ihre letzte Operation, durch die Infusionen, die gesunde genauso wie kranke Zellen angriffen. Zum zweiten Mal hatte sie eine Ehrenrunde gedreht und den gleichen Zyklus wiederholt. Sie wusste: Trinke das Geschenk des Lebens mit jeder Pore deines Seins, solange du kannst.

Sehnsucht nach Premantura! Ihre Cousine hatte ihr zu Beginn des Jahrtausends von Premantura erzählt. „Du musst dorthin, an den südlichsten Zipfel Istriens. Du wirst sehen, es ist etwas Magisches dort.“ In ihrer Kindheit sprach ihr Vater oft von Premantura, das Wort war ihr geläufig, jedoch fuhr die Familie von der Wohnung der Tante in Pula meist zu anderen Stränden.

Würde sie Premantura dieses Jahr wiedersehen? Die geplanten Reisen in ihrer verbliebenen, verkürzten Lebenszeit fielen aus. Im Shutdown der Pandemie wurde ihr Leben noch enger, sie träumte, gefangen in ihrer Stadt und Wohnung, von Premantura. Die Krebse dort warten tagsüber unter den Felsen versteckt auf den Sonnenuntergang, um in der Stille des Abends herauszukommen, wenn es magisch wird auf dem Kap Kamenjak. Sie musste wieder dorthin.


Sehnsucht nach Premantura

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