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Juli 2015 Heading for Premantura

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Der Bahnhof in München hat sich verändert. In den letzten Jahrzehnten dominierten die Urlaubsreisenden, jetzt sind die Wirren der Welt auch hier sichtbar geworden. Wirtschafts- und Kriegsflüchtlinge, Afrikaner, Roma, Araber … Früher hatte der Bahnhof dieses Flair bayrischen Wohlstands. Die Bahnangestellten sind trotz Stress allemal höflicher als zehn gut gelaunte Berliner zusammen.

Gestern in einem Zug: Waldbrand, einstündige Anreise des neuen Lokführers im Taxi, Menschen auf den Gleisen ... mit 10 km pro Stunde fuhr dann der ICE nach München. Die Bahnbegleiter waren hörbar am Ende und entschuldigten sich aufrichtigst und dauertransparent mit tausendundeiner Begründung. Wir Reisenden erfuhren in Echtzeitberichterstattung von Böschungsbränden, Fahrerwechseln auf offener Strecke und besagten spielenden Kindern auf Gleisen. Die Aussicht auf sämtliche Anschlussreisemöglichkeiten löste sich in Rauch auf.

Nach rekordverdächtigen 300 Minuten Verspätung sind wir dann in München angekommen. Ich durfte ab 3 Uhr nachts für ganze drei Stunden im Intercity-Hotel auf Bahngutschein schlafen. Morgens kurz vor 7 Uhr, ohne Frühstück, stand ich in einer langen Schlange am Service-Point, um mein Ticket umschreiben zu lassen. Dann zu Fuß zum ZOB. Ein Fernbus soll die einzige Methode sein, mich noch heute Abend nach Pula zu bringen. Leider stehen wir schon nach 30 Minuten im Stau und zweimal fliegen wir fast alle durch den Doppeldeckerbus „… beinahe aufgefahren!“

Ich bin gespannt, ob ich in Ljubljana ankommen werde. Ich muss wohl dort entgegen aller Pläne übernachten. Meine Cousine Nana kommt – dem Himmel sei es gedankt – heute Abend aus den Bergen zurück; meine andere Cousine Verja erwartet mich ebenfalls heute, allerdings in Premantura. Da will ich schließlich ankommen – so schnell es geht.

Heute früh – noch am ZOB in München – stand ich in der Enge des Aufzugs mit drei jungen Afrikanern. Einer grüßte mich bei Augenkontakt mit: „Wie geht‘s?“ – „Gut“, antwortete ich müde. Ich fühlte mich angebaggert und gereizt und sprach die junge afrikanische Frau an: „Wie geht es denn Ihnen?“ Sie kicherte, verstand mich nicht.

Später, als ich die drei gemeinsam vor einem Bus sah, wurde mir klar, dass der junge Mann vermutlich versucht hatte, einen seiner ersten deutschen Sätze auszuprobieren, in einer Situation äußerster Intimität: hautnah im engen Fahrstuhl. Berlins typischer Verhaltenskodex: in solch einer Situation durch den Menschen wie durch Glas hindurchzusehen ... duck and cover. Ich hörte, dass die drei nach Dresden mussten. „Scheiße“, dachte ich. Gestern haben doch dort Nazis eine Zeltstadt, die für Geflüchtete vorbereitet wurde, massiv angegriffen …

Ich reise mit einem neuen Koffer mit eingebautem Schloss, er war nicht billig. Erfolgreich habe ich ihn abgeschlossen. Jetzt suche ich bei Google eine Anleitung für die Entsperrung desselben, zwischendrin versuche ich wie wild irgendwelche Zahlen und Tastenkombinationen. Ich fühle mich wie ein Primat. Wenn ich Pech habe, habe ich unwissentlich einen persönlichen Code preisgegeben.

Lous, meine zweite große Liebe, nannte mich „meine geliebte Katastrophe“ … komisch. An Alltagssituationen konnte ich immer schon verzweifeln. An Bürokratie ebenso. Wann werde ich wohl da sein?

Nach 38 Stunden bin ich endlich in Pula angekommen und werde von meiner kleinen Cousine Verja am Bahnhof abgeholt und in mein Apartment nach Premantura gebracht. Ich kann vom großen Balkon aus das Meer sehen. Innerhalb von fünf Minuten erreiche ich über wohlduftende Ackerschleichpfade den Markt im Dorf und das Meer. Das Studio ist nagelneu, ich fühle mich pudelwohl hier am Dorfrand, am Ende einer Schotterstraße. Hier steigt meine Sehnsucht nach einer eigenen Wohnung, einem Seelenheim mit großer Terrasse am Meer meiner Kindheit. Ich bin in Premantura – endlich.

Zuvor hat Verja mir ihre Ferienwohnung, eine ererbte Wohnung von Tante Zlata selig, gezeigt. Als Kind war ich in den 70ern alljährlich dort und fand es damals schon schauerlich, den Urlaub dort zu verbringen. Denn zum Strand mussten wir immer mit dem überhitzten Auto fahren. Erwachsene frühstücken bekanntlich gerne ausgiebig. Ich, Kind, musste endlos lange Donald Duck lesen, bis es in der Mittagszeit im vollgepackten Auto, bei 40 Grad und mit Ehekrach an den Strand ging. Und so viele Mücken gab es – gemeine komarji, ein ständig benutztes Wort für Mücken in meiner Muttersprache.

Ich war schockiert, dass in der Wohnung seitdem nichts verändert, renoviert oder weggeschmissen wurde. Sozialismus-Retro-Museum in Bestform. Entsprechend muffig, wie zu Lebzeiten meiner Tante Zlata selig. Froh bin ich, die Einladung, dort zu wohnen, nicht angenommen zu haben.

Überhaupt scheint mir die phlegmatische „bloß-nichts-ändern-Haltung“ eine familiäre, wenn nicht gar slowenische Mentalitätsfrage zu sein. Letztes Jahr im Haus der seit zwölf Jahren verstorbenen Schwiegermutter meiner ältesten Cousine Nana sah es genauso unverändert aus. Das Schrecklichste ist für mich der modrige, feuchte Geruch.

Meine Mama war anders, ein emsig bauendes und renovierendes Eichhörnchen – sie hieß mit Mädchennamen Zidar, das bedeutet Maurer. Mit frischer Farbe, ja sogar Sperrmüll kann man schließlich ganz einfach etwas Hübsches schaffen.

Heute am Strand ist es wellig und windig. Am Morgen hat es geregnet. Ich will unter Pinien schlafen, ich trinke ihren würzigen Duft mit jeder Pore und lausche den Zikaden.

Gespräche über Politik am Strand unter Slowenen. Grazyna, die Freundin meiner Cousine, kommt aus Polen, Nähe Krakau. Dass die EU die Annexion der Krim, das sogenannte Referendum, einfach hinnimmt, bestärkt sie in ihrem Glauben, im Zweifelsfall lasse die EU alle osteuropäischen Staaten fallen, bevor sie sich auf einen Krieg gegen Putin einlasse. Erst wenn Russland in Deutschland einmarschiere, werde sie sich rühren. Estland, Litauen, kein baltischer Staat könne sich damals wie heute auf den Schutz Europas verlassen. Die Stationierung der Mittelstreckenwaffen sei eine Gefahr für Polen.

Die Griechenland-Krise erregt in Polen und Slowenien ebenfalls Unwillen. Meine kleine Historikerin-Cousine Verja ist informiert. Alle Privilegien und Boni griechischer Beamter zitiert sie detailliert aus der Presse. In Deutschland habe ich dies nicht so gelesen. Beide Freundinnen ereifern sich lautklagend, sie verdienten in ihrem Land jeweils nur 600 Euro bei gleichen Lebenshaltungskosten wie in Deutschland. Rigide staatliche Kürzungen hätten sie in der Krise durchlebt und sollten nun für Griechenland mitzahlen. Ihr Gefühl, Frieden und Euro seien wirtschaftlich und politisch gefährdet, rufen beide Frauen einander lautstark überbietend in die Wellen.

Wir blicken aufs Meer: „Wer weiß, ob das für uns nächstes Jahr noch möglich ist? Die radikale Rechte in Ungarn kommt noch dazu.“ Davor fürchten sich alle.


In der Zeit des Shutdowns im Frühjahr 2020 trafen sich Menschen vor der Volksbühne zu sogenannten „Hygienedemos“, trotz Versammlungsverbots.

Linke und Rechte, Verschwörungstheoretiker, Querdenker und Impfgegner schrien, Dreijährigen ähnlich: „Ich will aber nicht!“, „Meine Grundrechte! Ich will aber nicht!“

Sie sprachen vom „Merkelschen Diktat“, von „Diktatur“, von „verlorener Selbstbestimmung“, „Verstößen gegen das Grundgesetz“. Eine Mund-Nasen-Abdeckung zu tragen, zum Schutz des Gegenübers und ihrer Selbst, war ein Grund ihrer jaulend brüllenden Unbill.


Sehnsucht nach Premantura

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