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Der amerikanische Traum – eine kurze Vorbemerkung

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Die Great Depression, die schwere Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre in den USA, die ich noch selbst miterlebt habe, war eine harte Zeit – subjektiv gesehen viel härter als die heutige. Aber es herrschte das Gefühl vor, irgendwie auch wieder da rauszukommen, die Erwartung, es werde irgendwann schon wieder besser: »Heute haben wir vielleicht keine Arbeit, aber morgen ganz bestimmt, und gemeinsam können wir an einer besseren Zukunft arbeiten.« Politischer Radikalismus hatte Hochkonjunktur und nährte die Hoffnung auf eine bessere Zukunft – eine, in der mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit die repressiven Klassenstrukturen aufbrechen würden. »Irgendwie wird es vorangehen«, dachten alle.

Auch in meiner Familie gehörten viele zur Arbeiterklasse und hatten keinen Job. Aber die Gewerkschaftsbewegung war im Aufschwung, Ausdruck und Quelle von Optimismus und Hoffnung zugleich. Und das fehlt heute. »Nichts wird mehr, wie es mal war«, das ist heute die Stimmung – es ist aus und vorbei.

Wie viele Träume ist auch der amerikanische Traum zu einem nicht unerheblichen Teil ein Mythos. Im 19. Jahrhundert gehörte dazu auch der Traum vom Aufstieg, wie ihn Horatio Alger in populären Groschenromanen schilderte – »wir mögen bettelarm sein, aber wir werden hart arbeiten und es nach oben schaffen«. Bis zu einem gewissen Grad entsprach das auch der Wahrheit. Mein Vater, der 1913 aus einem ärmlichen Dorf in Osteuropa einwanderte, ist ein Beispiel dafür. Er fing in einem Ausbeuterbetrieb in Baltimore an, schaffte es irgendwann aufs College und konnte dort sogar promovieren. Schließlich führte er das Leben der sogenannten Mittelschicht. Viele andere schafften das ebenfalls. Immigranten aus Europa konnten damals einen Grad an Wohlstand, Privilegien, Freiheit und Unabhängigkeit erreichen, der in ihren Herkunftsländern undenkbar gewesen wäre.

Aber inzwischen wissen wir einfach, dass das nicht mehr gilt. Die soziale Mobilität in den USA ist geringer als in Europa. Doch der Traum, genährt durch Propaganda, besteht fort. Er ist Bestandteil sämtlicher politischer Reden: »Wählt mich, wir lassen den Traum wiederaufleben.« So oder ähnlich verkünden es alle – selbst jene, die den Traum, bewusst oder unbewusst, zerstören. Der »Traum« muss einfach fortbestehen, wie anders sollten die Menschen im reichsten und mächtigsten Land der Welt, das mit so vielen Vorzügen gesegnet ist, mit der Realität um sie herum klarkommen?

Die heutige Ungleichheit ist nahezu beispiellos, vergleichbar nur mit den schlimmsten Perioden der amerikanischen Geschichte. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sie sich aus dem extremen Reichtum eines winzigen Bruchteils der Bevölkerung ergibt, der lediglich 1 Prozent ausmacht.

Ähnliche Entwicklungen gab es zwar auch im sogenannten Vergoldeten Zeitalter, der wirtschaftlichen Blütezeit Ende des 19. Jahrhunderts und in den Roaring Twenties, den Goldenen Zwanzigern der USA, aber die heutigen Verhältnisse sind wirklich extrem. Denn wenn man sich die Verteilung des Reichtums anschaut, dann sind es vor allem die Superreichen, die für diese Ungleichheit sorgen – also das oberste Zehntel Prozent. Dies ist das Resultat eines über drei Jahrzehnte währenden Umbaus der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik. In dieser Zeit hat sich die Regierungspolitik gegen den Willen der Bevölkerung vor allem darauf verlegt, den Reichen Vorteile zu verschaffen. Die Mehrheit der Bevölkerung muss sich hingegen seit 30 Jahren mit einem mehr oder weniger stagnierenden Einkommen abfinden. Die amerikanische Mittelschicht ist unter erheblichen Druck geraten.

Ein wesentlicher Bestandteil des amerikanischen Traums ist die soziale Mobilität: Auch wer arm geboren ist, kann es durch harte Arbeit zu Wohlstand bringen. Gemeint ist damit, dass jeder einen gut bezahlten Job finden, sich ein Haus und ein Auto leisten und seinen Kindern eine Ausbildung finanzieren kann …

All das ist in sich zusammengebrochen.

Requiem für den amerikanischen Traum

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