Читать книгу Still und starr ruht die Spree - Nora Lachmann - Страница 9
Heiligabend beim Abfischer
Оглавление»Keine Ahnung, wo der
nu herkommt. Sieht nich jut
aus für den, der drinne war.«
Auf dem Wege hierher war mir schon klar, dass unser Besuch nicht die beste Idee gewesen war. Den Spandauer Damm nach Westen, links oben die Lichter vom U-Bahnhof Ruhleben. Einladend wie ein gemütliches Hotel. Eine düstere Unterführung rechts: Klärwerkstraße. Jetzt eine Schlittenfahrt durch jungfräulichen Schnee im Bayrischen Wald, kam mir in den Sinn. Doch das hier?!
Freiheit. Wie kann man eine Straße an der Kläranlage Freiheit nennen. Vielleicht war Befreiung gemeint. Ich hatte mir immer vorgestellt, die Luft nahe einem solchen Betrieb röche ähnlich einer schlecht gelüfteten Toilette. Doch hier roch es nicht nach Bedürfnissen und Befreiungen, großen, kleinen, gemeinsamen; hier hing ein alles durchtränkender, verweslicher Dunst in der Luft. Auf dem roten Backstein-Kubus des Kontrollgebäudes leuchteten einige Kerzen an einer zerrupften Fichte.
Unser Adventsbesuch durchtränkt von der Frohen Botschaft zu Heiligabend am späten Nachmittag im Klärwerk beim Kontrolleur und Abfischer Boglund. Abfischer? Was ist ein Abfischer?
Jedes Jahr vor Weihnachten erschien in der Zeitung der rührselige Artikel mit der Aufforderung, irgendwelche Leute an Heiligabend am Arbeitsplatz zu beschenken, die gerade dann Dienst haben. Ich finds ja blöd, diesen Appell zur temporären Menschenfreundlichkeit, aber Günter fällt so spätestens am dritten Advent in eine humanitäre Infektion, es ist wie eine Art Wintergrippe, man kann darauf warten. Und dann geraten wir auf solche Pfade wie jetzt: Klärwerkstraße!
Mir schwante schon das Kommende, als ich in der Morgenpost die Aufforderung zur tätigen Menschenliebe las.
Hier waren wir nun. Klärwerk Ruhleben. Machen Sie doch mal einen Kurzbesuch bei den treuen Diensthabenden, die Heiligabend an ihrem Arbeitsplatz feiern müssen!
Der Kontrolleur und Abfischer Daniel Boglund. Er saß im Kontrollraum mit Blick auf das weite Areal rechteckiger und runder Betonbecken, die man mehr ahnte als erblicken konnte. Es leuchteten nur wenige Industrielampen.
Jawohl, er hatte mit einem Besuch heute gerechnet, er wusste von dem Artikel in der Morgenpost. Ja klar, selbstverständlich freute er sich, dass er heute Besuch bekam. Günter schaute zu mir rüber, wir waren beide überzeugt, dass Boglund keinen Wert auf unsere Gesellschaft legte.Egal! Voller missionarischer Weihnachtsfreuden-Verbreitung packten wir aus: Leckereien für einen bunten Teller, geschmückter Tannenzweig, rote Kerze, angezündet, in die Hände geklatscht: »Fröhliche Weihnachten!«
Leicht machte er es uns nicht, aber er nickte wenigstens ein grämliches Dankeschön, und wir kamen uns völlig fehl am Platze vor. Welch ein trübseliger Abend! Boglund, mürrisch, in sich zurückgezogen, dem Rentenalter nahe, saß nur so da. Schwarze Schiffermütze, darunter ein finsterer, etwas abwesender Blick. Mich zog es heim zu Lichterglanz und Weihnachtsoratorium. Aber Günter typisch gab nicht so schnell auf. Was wohl ‚Abfischer‘ bedeute, fragte er. Der Beschenkte, plötzlich munterer geworden, sagte: »Kann ich Ihnen zeigen. Kommse mal mit!«
Wir folgten ihm ins Freie. Nicht weit von uns schwebten adventsrote Lichterkränze im kalten Dunsthauch des Winterabends: die Flugwarnlichter an den Schloten des Ernst-Reuter-Kraftwerks. Neben dem Gebäude hier gluckste in einem riesigen Rundbecken ein schwarzer See. Eine Strömung ließ das Gewässer ab und zu aufschwellen. Man sah es in der Dämmerung nur, weil sich ein Lampenlicht in den kräuselnden Wellen spiegelte. Der Gestank war hier durchdringend. Ein Laufgang mit Geländer war undeutlich zu erkennen, er führte wie ein Durchmesser über die Mitte des Rundbeckens.
»Da oben«, deutete Boglund, »da stehe ich. Die großen Pumpen die sehn Se nicht die pumpen det Abwasser direkt hier aus dem Absetzbecken in die Faultürme. Det gibt Bewegung, da kommt allet Mögliche hoch, wat leicht is. Da oben steh ich mit nem Netzkescher und fische den Dreck ab.«
Nun sah ich, dass der Laufgang über das Absetzbecken hinaus zu einem genau so großen Rundbecken dahinter führte. »Und da drüben?«, zeigte ich.
»Da brauch ich nich fischen«, sagte Boglund, »det is der Vorfluter. Da is allet sauber. Hier is Abwasser, Haushalt, Spülicht, Klosetts, öffentlichet Bedürfnis undsoweita, das ballern die Pumpen in die Faultürme, und danach, im Vorfluter, is allet sauber.« »Drüben«, sagte er und zeigte unbestimmt irgendwohin in die Dunkelheit. »Drüben is der Westteil vom Klärwerk. Allet nagelneu und proper. Die klären mit Belebungsbecken. Neumodischer Kram, völlig nutzlos. Ich hab hier im alten Teil noch drei Faultürme. Det is der wahre Johnny! Da wird det Faulgas aufjefangen und gleich rüber in’t Heizkraftwerk Reuter. Die machen Strom draus. Det bringt doch wat! Wenn Se aufem Klo sitzen und Licht brenn’ haben, isses vielleicht vom Faulturm zwo. Und wasse abliefern, wenn Se da aufem Klo sitzen, wird wieder zu Strom. Is’n Kreislauf, sare ich. Det Leben is’n Kreislauf. Je mehr jegessen wird, desto mehr Strom kriegen wa.Museal.« Er lachte böse auf. »Museal is det hier, habense jesacht, völlig veraltet. Aber hier könnse mit dem Faulgas noch wat anfangen. Drüben nich, da isset wech.«
Abfischer Boglund. Irgendwie wirkte er groß in seiner Düsternis, und umschwebt von dem süßlich-leimigen Fäkalgeruch, der alles durchdrang. »Ja, det muss sein!«, sagte er. Jetzt wurde er sogar gesprächig. »Dienst zu Weihnachten oder sonst wann. Solln die Leute nich mehr pullern und naja? Jänsebraten und allet, und denn nich aufs Klo? Nein, det muss schon sein. Wie’n Soldat auf Posten, jederzeit bereit, auch zu die Feiertage, wissense.«
»Und Sie hier ganz allein?«, fragte Günter.
»Bin ich jewohnt. Läuft ja allet automatisch bei mir hier im alten Teil. Der Pegelmesser gibt Kontakt und die Pumpen brummen los. Kommt höchstens mal’n Inspektor oder eine vom Labor. Sonst nischt. Keine Besucher oder so. Is ja auch normalerweise verboten. Nee, doch.« Er stippte mit einem Finger den Mützenschirm höher. »Silvester, letztet Jahr. Kommt doch so’n Schock junge Kerle mit ’nem Mächen. Richtig krawallig, schon wat in der Birne, mit Hallo und Tralla. Sind wohl übern Zaun jeklettert. Na, die unten rumkrakeelt und rauf uff den Laufgang. Is ja nich schlimm, is überall Jeländer rum. Die janze Korona im Scheinwerferlicht bis ans Ende, da wo der Vorfluter is. Ich wundere mich, det se so stille sind, da seh ich, se pinkeln alle von oben in den Vorfluter. Und det Mächen daneben, und dann pinkelt se auch. In den Vorfluter! Det is nich in Ordnung, det is sauberet Wasser. Det tut man nich! Denn habense mich jesehn. Jegröle und so. Na, ich bin zurück hier ins Büro, und denn warn se auch weg. Schweinebande! In den Vorfluter pinkelt man nich! Naja, Silvester eben.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Aber det Mächen. Nach einer Woche war se abends wieder da. Oben auf der Kontrollbrücke. Det weiße Jesicht. Sie guckte runter, ob ich se auch sehe. Ich den Scheinwerfer hier unten an, und denn zog se die Hose runter und pinkelte wieder in den Vorfluter. Und det so fast jede Woche.«
»Was denn, das Mädchen kam regelmäßig hierher, um ihr Geschäft zu erledigen?«, fragte ich.
»Sie kam wegen meiner«, sagte Boglund hochtrabend und feierlich. Es klang wie einstudiert. »Ich stand unten und peilte rauf, und sie auf der Kontrollbrücke, und wenn ich hier den Scheinwerfer anstellte, ging se zum Vorfluter und pinkelte rein.«
Günter guckte mich an, ich guckte Günter an.
»Wenn Sommer war und richtig heiß, denn hatte se’n Kleid an. Denn raffte se bloß det Röckchen zum Pinkeln, denn hatte se kein Höschen an.«
»Sie haben sie nie angesprochen?«, fragte ich.
»Nee, was hätte ich sagen solln? Ich wusste ja, was sie wollte. Dann stand ich unten und guckte rauf, und sie stand oben und pinkelte. Det mit dem Vorfluter war nich gut. Det hätte se nich machen solln. Meinetwegen ins Absetzbecken, aba nich in’n Vorfluter.«
»Und dann kam der Herbst«, sagte Günter nach einem tiefen Atemzug, »und sie pinkelte weiter. Und der Winter kam, und sie trug wieder Hosen. Wann hat sie denn das letzte Mal den Vorfluter getauft?«
»Na, vor knapp zwei Wochen unjefähr. Sie kommt etwa alle ein oder zwei Wochen. Ich lass immer det Seitentor auf. Ich gucke hoch, und wenn se auf der Kontrollbrücke steht, stell ich den Scheinwerfer an und sie …«
»Ja, in den Vorfluter«, sagte ich ungeduldig. Die Kerze leuchtete weihnachtlich, aber mich zog es mit Riesenkräften nach Hause, weg von dem glucksenden Absetzbecken und der feuchten Dunstumklammerung der Fäkalien. Günter ging es ähnlich, merkte ich. »Dann wird sie ja bald wieder auftauchen«, sagte er und erhob sich. »Vielleicht heute Abend zur Heiligen Nacht. Wäre doch irgendwie passend. Ach ja, Abfischer! Was fischen Sie denn alles aus dem Absetzbecken, Herr Boglund?«
»Massenweise Kram. Allet, wat aufschwimmt«, sagte der. »Wollnse mal sehen? Mein Privatmuseum? Allet jesammelt!«
Ich wollte nicht. Mir war nach Heiligabend zumute und nicht nach den Inhalten der Großstadtaborte, aber Günter war gleich Feuer und Flamme. Was blieb mir, als mich anzuschließen?
Ein bunkerähnlicher Raum ohne Fenster. »Mein eigenet Museum«, sagte Boglund stolz. »Wenn ich ma nich mehr bin, kriegts det Museum für Kunst und Jewerbe. Habich schon im Testament.«
Grelles Neonlicht. Lochplatten an den Wänden, Krims und Krams daran. Natürlich Präservative, kleine blasse Gummisäckchen. »Kommen zu Tausenden anjeschwommen«, meinte der Abfischer, »is ’n richtijer Jummibahnhof hier.«
Ein Weckglas mit einer trüben Brühe. Ein kreideweißer Fötus, durchscheinend. »Det is Kilian. Wat besonderet. Sonst jehn se alle durch die Pumpen. Und denn is nur noch Brei, wat in Faulturm kommt. Den hab ich vorher erwischt. Is in Formalin.«
Weiter hinten Kleidungsstücke. Ein Strampelanzug in Bleu.
»Wer schmeißt denn Babysachen ins Klo?«, wunderte ich mich.
»Ins Klo?«, Boglund lachte. »Und det hier?« Er deutete auf ein abscheuliches Streifenkleid in Braun. »Auch durchs Klo? Nein, jute Dame, det kommt vom Kanal! Im Trockenfall, wenn et nich regnet, mischen wia Kanalwasser zu die Fäkalien, zum Verdünnen. Aus der Spree und dem Ruhlebener Altarm. Die Kleedasche kommt vom Kanal.«
»Und wer schmeißt Kleider in den Kanal?«
Boglund schaute mich groß an, als begriffe er nicht. »Die werden doch nich in’n Kanal jeschmissen, die hat jemand anjehabt. Gucken Se mal!« Er nahm das Kleid mit Bügel von der Wand und zeigte die Rückseite. Ein schmaler zerfaserter Schlitz, sein kleiner Finger steckte von innen durch. »Hier, von hinten erlecht! Mit ’nem Messer. Da steckte ’ne Frau drin.«
»Mein Gott, erstochen?!«
»Erstochen und in den Kanal jeschmissen.«
»Um Himmels willen!«, sagte ich. »Und die Frau?«
»Nischt mehr. Die Pumpen, was die ansaugen, det is allet Brei. Da is sone Wucht hinter, da pellt sich die Kleedasche ab, die schwimmt nach oben.«
Daneben hing seltsamerweise ein grauer Taucheranzug wie ein ausgeweideter Riesenfrosch. Die eine Seite gewaltsam aufgeschlitzt, die Beinpartie in Streifen gefetzt.
Meinem fragenden Blick begegnete Boglund mit einem Achselzucken. »Keine Ahnung, wo der nu herkommt. Sieht nich jut aus für den, der drinne war. Aber hier, sehnse
ma!« Daneben hing ein weißes, leicht bräunlich durchfärbtes Rüschenkleid, von roten Litzen durchzogen. Über dem Bügel ein Kranz aus Buchsbaumzweigen. »Det war se! Zu Sankta Lucia kam se wieder. 13. Dezember. Fein hat se sich je-schmückt!«
Mir stockte der Atem. »Das Mädchen? Die immer hierher kam und …?«
»Ja, det war se. Am 13. Dezember kam se wieder. Die Zeit war ja auch wieder ran. ’N hübschet Kleid. Sankta Lucia. Wie ’ne Puppe, sare ich Ihnen. Sie stand oben auf dem Steg, dann knipste ich den Scheinwerfer an, da wusste sie, dass ich zusah. Denn ging se zum Vorfluter und pinkelte. Mir ging det immer durch die Seele, wenn se in den sauberen Vorfluter pinkelte. Aber hübsch war se, wenn se so da oben stand. ’N schönet Mächen.«
»Ja, was weiter?«, drängte Günter. »Was geschah dann?«
»Wech!«, sagte Boglund. »Sie hat sich immer rechts am Jeländer festjehalten. Zurückzu auch. Aber überm Absetzbecken hatte ich auf der anderen Seite det Jeländer abjebaut. Es muss ja mal entrostet und jestrichen werden. Aber det konnte se nich sehn, der Scheinwerfer unten, da sah se nur Licht. Als se zurückkam, isset passiert. Innerlich hats mia ’n bisschen Leid jetan. Aber ich habe mia jesagt, wenn se da rüberkommt ohne Jeländer, denn is det ’n Zeichen, denn soll se eben weitamachen mit dem Vorfluter, wenns auch nich richtig is. Aber es hat nich solln sein. Wech, in det Absetzbecken! Det Kleid kam nach oben, hab ich abjefischt. Ansonsten …«, er winkte ab, »wissense, die Pumpen, die haben ’ne Jewalt! Jeht alles zerkleinert in die Faultürme und von da jeklärt in den Vorfluter. Da is nu ’n bisschen wat drin von ihr, im Vorfluter, wo se immer reinjepinkelt hat. Ich sare ja, det Leben is ’n Kreislauf. Ihr Kleid, ja, det habe ich. Ein schönet Stück. Kriegt allet det Museum für Kunst und Jewerbe. Wenn ich ma nich mehr bin.« Er senkte den Kopf und nahm die Schildmütze ab, wie zu einer stillen Andacht.
Im Auto, wieder auf dem Spandauer Damm, versuchte ich krampfhaft, an Weihnachten zu denken. Bach, Weihnachtsoratorium, Gänsebraten. Halt, nein, der wanderte doch später …
»Was machen wir nun?«, fragte Günter.
Ich sagte nichts.