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Kapitel 3

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In der näheren Umgebung

Das Haus, in dem Arno wohnte, stammte aus den Aufstiegsjahren zur Metropolstellung dieser Stadt, einer Zeit, in der ebenso die zweite Hochquellenwasserleitung als auch die Stadtbahn erbaut worden war, die längst dem modernen U-Bahnprojekt Platz gemacht hatte und deren rote Zuggarnituren in seiner Erinnerung ebenso rasch auf- und untertauchten, wie sie in den zahlreichen im Oberbau geführten Teilabschnitten auch schon wieder in den unergründlichen Katakomben ihrer Tunnelöffnungen verschwunden waren, höhlenartige Löcher der legendären Stadtbahnbögen, in die er als Kind stunden-, ja, tagelang gestarrt hatte wenn es der Regen nicht zuließ, dass man auf die Straße durfte, um darauf zu warten, wann denn endlich der nächste Zug aus dem gespenstischen Backsteindunkel auftauchen würde, dem immer ein sirrendes Geräusch und erst wellenartige Bewegung der Oberleitung vorausgegangen waren, was ihn aufs Äußerste zu fesseln vermocht hatte.

Dieses Haus hier aber hatte zwei Weltkriege überlebt, relativ unbeschadet, friedlich eingebettet zwischen Barockem und Gründerzeit, mit vier Erkern auf die Straße vorn raus und einem feuchten, dunklen Garten an der rückwärtigen Front und nicht nur dieses, sondern die meisten ihrer Bauart standen in krassem Gegensatz zum plötzlichen Paradigmenwechsel der Zwischenkriegszeit und ihren Wohnbauprogrammen, so wie jener Gemeindebau mit Durchhauscharakter an der Ecke der Quergasse, trauriges Relikt profanen Strukturdenkens. Diese Gasse also, alles andere als verkehrsberuhigt, bot mit seinen kleineren Häusern in diesem Abschnitt ein beinahe ländliches Wohngefühl, mit dem Obst- und Gemüseladen, dem Frisörladen, der Trafik und immer denselben Menschen, denen man täglich begegnete.

Arno genoss die Nähe dieser Menschen ebenso wie die der City und ihren zahlreichen Parks, die Nähe der Bildungs- und Kultureinrichtungen mit ihren Angeboten, die er von Zeit zu Zeit auf seine Weise für sich zu nützen pflegte. Die Wohnung in jenem Hause, in der zuvor ein jüdisches Ehepaar gewohnt und in derselben ein stattliches Alter erreicht hatte, und, nachdem die nationalsozialistische Gemeindeverwaltung es sich auf geniale Unart erspart hatte, ihre angekündigten Wohnbauprogramme auch durchzuführen, indem sie ganz einfach die Wohnungsnot durch die Vertreibung der Wiener Juden eben auf ihre Art gelöst hatte, dieses Ehepaar also dem Holocaust Gott sei Dank entgangen war, schien ihm günstig zu sein, dazu noch großzügig angelegt, mit Stuckdecke und dreifenstrigem Erker, Wohn- und Nebenzimmern, Küche und WC, jedoch ohne Badezimmer ausgestattet.

Nachdem Arno eingezogen war, hatte er einen Benjamin in den Erker gestellt, der begierig seine Äste nach allen Seiten der Fenster ausgebreitet hatte, so, als wollte er ihm zeigen, wie wohl er sich hier fühlte und seine Arme nach dem Licht ausstreckte, welches das geräumige Wohnzimmer mit seinen schräg einfallenden Strahlen in sanftes Hell tauchte, zumindest an den Vormittagen, denn gegen Mittag verabschiedete sich die Sonne stets hinter dem hohen First des Vis-avis-Hauses und breitete ihre Schatten behutsam erst über den Teppich, dann über den Esstisch und den roten Samtfauteuil aus, von wo aus sie langsam bis hin zur Vorzimmertür krochen und den sonst so hellen Raum in Augen schonendem Rosa zurückließen, reflektierten doch vorwiegend die Rottöne der Überwurfdecke der Couch wie auch der roten Gardinen ihren Teint an die weißen Wände, ebenso wie an die Stuckdecke.

Arno liebte diese Lichtspiele ganz besonders an den im April und Mai häufiger werdenden Sonnentagen und er konnte sich nicht daran satt sehen, ja, es kam sogar manchmal vor, dass er gerade wegen dieser Spiele seine Aufmerksamkeit beim Lesen verloren hatte und sich dabei ertappte, wie seine Augen bloß den Sonnenstrahlen folgten, ähnlich wie die dünnen Ästchen des Benjamins, und auch er streckte sich dann und hob die Arme empor, die ihm vom Halten der Lektüre oft schon zu ermüden begonnen hatten, um gleich danach wieder den Zeilen jener Stelle des Textes zu folgen, den er vor sich auf den Oberschenkeln aufgebreitet hatte. Das Vorzimmer hingegen war in Dunkel gehüllt, vom engen Lichthof gegen die Sonnenflut abgeschottet, beinahe düster im Gegensatz zum glänzenden wohnzimmerlichen Überschwang und barg zwei große Wandschränke unter ihrem rundbogenartigen Deckengemäuer, in denen Arnos Garderobe ausreichend Platz fand, denen aber im Laufe der Zeit auch die Aufgabe zuteil geworden war, intimste Geheimnisse vor den Blicken allzu Neugieriger hinter wohl verschlossenen Türen zu beherbergen, wie etwa einige lichtempfindliche Whiskeysorten oder den Familienschmuck, der besser in einem Safe aufgehoben worden wäre.

Jedoch in diesem Punkt war Arno seit je her zu wenig umsichtig gewesen, trotzdem aber, bis zum heutigen Tag, vor unliebsamen Überraschungen verschont geblieben. Arno, kaum sonderlich am Leben anderer interessiert, als ausschließlich an seinem eigenen, er, der stets in der Kompliziertheit seiner nicht enden wollenden Gedankenwelten verstrickt schien, hatte in erster Linie ein Verhältnis zu Büchern, und dann noch eines mit Constance Jäger, und er liebte Constance Jäger, Übersetzerin, vierunddreißig, mittelblond, und bildhübsch, ein Tatbestand, der auf Gegenseitigkeit beruhte, von Anfang an, wie er glaubte. Liebe auf den ersten Blick, könnte man sagen.

Constance war für ihn - das Leben, zu dem er selber nicht, es ohne sie zu leben, imstande gewesen wäre. Hätte ihn der griechische Dichter Nikos Katzantsakis gekannt, würde er vielleicht Kopf schüttelnd über ihn gesagt haben: „Verstehe, zu viele Bücher!“, und hätte vielleicht gelächelt. Für Arno wäre das kein Grund zur Heiterkeit gewesen, denn Bücher waren nun einmal sein Lebensinhalt, waren für ihn das Salz des Lebens. Constance Jäger hingegen war ihm die Wonne, die sein Dasein versüßte, mit ihrem Lächeln, mit ihren wundervollen schmalen Hüften, der weichen, samtigen Haut, ihren warmen, vollen Lippen, die sie beim Küssen um die seinen, schmäleren, zu stülpen pflegte, als wollte sie ihn aufessen, ihn in sich aufsaugen, ganz, mit Haut und Haaren.

Und Arno ließ es geschehen, willenlos, ekstatisch, bis zur Erschöpfung, aus kürzester Distanz, wie bei einem Duell. Er pflegte, unter ihr und mit ihr aus Leidenschaft zu sterben. Tausende Male schon! Und er würde es noch tausende Male wollen. Constance war um Einiges jünger als er und seit längerem verreist. Seit Wochen schon wartete er mit Sehnsucht auf ihre Rückkehr aus Paris.

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