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Kapitel 4
ОглавлениеVom Anspruch an die Welt da draußen
Arno hatte sich damit abgefunden, dass er von Zeit zu Zeit auf Constances Anwesenheit verzichten musste, weil sie oftmals beruflich im Ausland zu tun hatte. Er hatte sich in seinem langen Leben auch damit abgefunden, dass die Dinge einfach geschahen und die Welt ihren Lauf nahm, und dass darüber geschrieben wurde. Somit schien diese Welt für Dichter geradezu geschaffen.
Alles, dachte Arno, ist Material für sie, und sei es noch so tief, oder so trivial, so tragisch oder eben komisch. Es wäre alles nur eine Frage des ästhetischen Momentes, oder einer gewissen Lehrhaftigkeit seiner Pragmatik. Thema war alles und die Zeiten der Eingrenzung positivistischen Kerkertums ein für alle Mal vorbei. Die Umsetzung der Stoffe unterlag keinen Zwängen mehr, moralisierend zu sein, oder allzu logisch, zu rational, nein, es war möglich, über alles zu schreiben, ob das über gebrauchte Tampons war oder über angebrannte Milch, und es wurde gedruckt, egal, ob es sich auch verkaufen ließ. Auf den Versuch käme es schließlich an und Arno hatte Constance oftmals über die Schultern geblickt, um zu sehen, was sie denn gerade übersetzte und hatte aufgehört, sich zu wundern, was er an Texten zu lesen bekam.
Manchmal kam ihm in den Sinn, ob es nicht so etwas wie eine vergleichbare Anatomie der Dichtung geben könnte, und ob sich daran eine Technologie ihrer Disziplinen ablesen ließe, denn im Großen und Ganzen kam ihm alles so vor, als handle es sich dabei bloß um den Versuch einer Vereinfachung der Darstellung unübersehbarer komplexer Wirklichkeiten durch Abstraktion. Jedoch, bei genauerer Überlegung meinte er, dass man ja doch nur eine Art literarisch geografische Tabulatur erstellen würde, im schlechtesten Fall mit chronologisch aneinander gereihten, uninteressanten Scheußlichkeiten unterschiedlicher Einzelschicksalhaftigkeiten. Trotzdem könnte man dabei vielleicht lediglich nur eine genetische Richtung verfolgen, vielleicht mit dem Ziel, die organische Entwicklung der Thematik zu beobachten, auf der Suche nach dem tatsächlichen biologisch literarischen Leben?
Der Mensch, dachte Arno, ist schon ein undurchsichtiges, unberechenbares Geschöpf, und gefährlich, mit Waffen ausgerüstet, mechanischen, geistigen, ein Wesen, welches sein letztes Geheimnis nicht verrät, rätselhaft, nicht kalkulierbar, und wenn er es gern sein möchte, dann ist er es immer mit Vorbehalt. Keiner kennt sich so gut, als dass man sich selber nicht immer wieder zu überraschen imstande wäre. Ein Mensch gebiert immer nur einen Menschen, einen noch nie da gewesenen, glauben wir, ein Individuum, nicht so wie beim Rind, das eben bloß irgendein Vieh ist, für den Acker bestimmt, oder zum Verzehr. Wir sind Unikate, Mann, dachte Arno, und darum machen wir so viel aufheben um uns, nehmen uns so wichtig, weil wir so einzigartig sind.
Jeder von uns ist eben anders. Aber es gibt auch scheckige Kühe, helle, dunkle, schwarze und so weiter. Wir aber denken unterschiedlich, sprechen unterschiedlich, und bilden uns ein, die Vielfalt der Originalitäten darzustellen. Wir schreiben auch unterschiedlich, wenn wir nicht gerade von einander abschreiben, und einiges davon gilt als Literatur. Anderes wiederum nicht, weil es dem Zeitgeist nicht entspricht, oder dem Normativen, oder dem Spekulativen. Arno dachte an Constance und an die Stapel Manuskripte auf ihrem Schreibtisch. Unveröffentlichtes, ungelesen, nicht eingereiht in den Kanon der Erwartungshaltungen. Das Gegenwärtige verlangt stets nach dem Neuen, danach, was wirksam ist, Wert messend ist, und je gewaltiger es ist, verschlüsselter, oder vulgärer, desto zeitgemäßer ist es.
Aber um seine Wirkung zu testen, muss es allerdings erst gelesen und verstanden werden und – es sollte möglichst vielen gefallen, denn schließlich ist es ein Geschäft, das, mit den Büchern, wenn auch kein so bedeutendes wie jenes mit dem Öl. Das Merkwürdige dabei ist, dass sich so viele an der Beurteilung beteiligen, die interpretieren, beschönigen, kritisieren, verleumden, ohne selbst auch nur eine einzige Zeile versucht zu haben, flüsterte Arno halblaut vor sich hin, was wird hier nicht alles verfälscht und umgelogen! Und er schüttelte nachdenklich den Kopf. Ist es erst einmal niedergeschrieben, hat man eine tote Quelle vor sich, und findet sich nichts Neues, wird sie ganz einfach uminterpretiert. Basta! Arno ließ von Constances Manuskriptstapel ab um es dem Besuch, der sich seit Längerem schon angesagt hatte, so bequem wie möglich zu machen und er hatte eingekauft.
Wurstaufschnitt, Kaffee, etwas Obsttorte, Cognac und einen schwereren französischen Rotwein. Professor Wasner war ein Feinschmecker und schwer zufrieden zu stellen, wenn es um’s Essen ging, auch dann, wenn es sich bloß um eine Kaffeejause handelte, und es blieb selten bei einer solchen, denn danach kam der Appetit, und Professor Wasner hatte immer Appetit, und dann wurde also die Wurst gereicht und was sonst noch so da war, und schließlich wurde der Rotwein aufgemacht, nachdem Wasner immer umständlich darauf zu verweisen pflegte, um Gottes Willen, machen Sie den nicht wegen mir auf, das kennt man ja schon, überdies wollte Arno selbst einen Schluck trinken, und dann gab’s immer noch ein Schlückchen Schärferes und so weiter und es wurde geredet, solange, bis man sich wieder einmal in ein Thema verbissen hatte, wobei es meistens bis gegen Mitternacht ging.
Jedenfalls hatte sich Arno dementsprechend vorbereitet und sich wirklich Mühe gegeben, den Tisch im Esszimmer einigermaßen angemessen zu gestalten, aber tief in seinem Innersten musste er sich neidlos eingestehen, dass Constance ohnehin alles besser gemacht hätte, keine Frage, allein schon die Auswahl des Tischtuches, vom Arrangieren des Gedeckes bis hin zum Tischschmuck gar nicht zu reden, und überdies hatte sie Wasner schon allzu oft verwöhnt, was die Sache natürlich zusätzlich erschwerte und ihm dadurch die Latte ziemlich hoch gelegt worden war. Nun also läutete es an der Tür und Arno lief hin, um sie zu öffnen und Wasner hereinzubitten. Dieser, höflich wie er war, wollte sich sogleich seiner Schuhe entledigen, wie immer dasselbe Spiel, nein, lassen Sie sie an, wirklich, es ist ohnehin trocken draußen, das macht gar nichts und Wasner wiederum, aber ich bitte Sie, das macht doch keine Umstände, und ließ sie an, wie immer.
Arno bat ihn mit einer galanten Geste ins Wohnzimmer. Wasner trat ein, setzte sich auf immer denselben Stuhl, obwohl Arno einen anderen vorbereitet und sogar schon vom Tisch etwas zurecht geschoben hatte, aber Wasner verweigerte diesen und setzte sich partout auf jenen, auf dem er eben immer saß, gerade auf den, der immer im Weg stand, wenn man in die Küche musste. Arno war es zu dumm. Er entschuldigte sich, er hätte nur kurz in der Küche zu tun, und eilte rasch dorthin, nicht nur um nach dem Kaffee zu sehen, der gottlob noch nicht durch den Filter geronnen war, sondern um sich rasch ein Glas kaltes Bier zu genehmigen, ohne dieses die Konfrontation mit Wasner für ihn unmöglich durchzustehen gewesen wäre. Wenn doch Constance hier wäre! Arno wirkte etwas verloren. Er zündete sich rasch eine Zigarette an und rauchte in hastigen Zügen, sodass ihm leicht schwindelig wurde und er sie, nur ein Viertel davon genossen, gleich wieder ausdämpfte. Constance, der Engel, hätte mittlerweile in der Küche gewirkt, während er lässigen Disput mit Wasner hätte führen können.
Aber so – zu dumm, dass er diesen Termin nicht hatte verschieben können. Außerdem war er Constances Eroberung, dieser Professor. Aber was konnte man tun? Jetzt war es zu spät. Er packte alles auf das Serviertablett und jonglierte den ganzen Plunder ins Wohnzimmer, wo Wasner sich bereits über eine offen gelassene Literaturzeitung gestürzt hatte und Arno bereits ahnte, was jetzt kommen würde. Zeit, sein Plädoyer vorzubereiten, hatte dieser ja genug gehabt. Doch nichts. Offensichtlich hatte Wasner heute noch nichts gegessen denn er wandte sich dem Obstkuchen in einer Art und Weise zu, als ginge es um ein Wettessen. Arno begnügte sich mit etwas schwarzem Kaffee und wartete, bis von Wasner das Signal zum Sprechen kam.
Diesmal dauerte es länger als sonst, möglich, dass Constances Abwesenheit daran schuld war und er sich mehr gehen ließ, als wenn sie hier gewesen wäre. Als das Mampfen schließlich doch ein Ende gefunden hatte und Wasner den Kaffee, der noch viel zu heiß gewesen sein musste, hinuntergeschüttet hatte, lehnte er sich genüsslich zurück und ermunterte Arno mit den Worten, nun, mein lieber Freund, Sie müssen auch etwas essen, finden Sie nicht, und Arno schüttelte artig den Kopf und meinte, er wäre vom Mittagessen noch so voll gewesen, was überhaupt nicht stimmte und glatt gelogen war, denn es hatte überhaupt kein Mittagessen gegeben. Egal. Wasner begann die übliche Einleitung mit einem „nicht wahr“, und dann kam eine lange Pause, und darauf folgte, es könne nicht sein, dass Literatur zu dem verkommt, was sie eben jetzt wäre, nicht wahr, nämlich Tagebuchliteratur, wie er sie nannte, und dann folgte noch ein „nicht wahr“.
Arno blieb zurückhaltend, was wiederum der Professor für sich nutzte, um fortzufahren, was in diesem Jahrhundert nicht schon alles für Unsinn geschrieben worden wäre, denken Sie an die Ekstase des Expressionismus, sagte er höhnisch lächelnd, die den Glauben an den neuen Menschen zunichte gemacht hat, nicht wahr? Und vor lauter Nüchternheit und Distanz ist sogar die Sprache dabei zu kurz gekommen. Nur ja nicht pathetisch sein, also das wäre ja ganz gegen den Zeitgeist gerichtet gewesen. Ist ja heute auch noch so, wagte Arno einzuwerfen und prüfte, die Lippen spitz, Pfeifen andeutend, den Status seiner Fingernägel. Mitnichten, lieber Freund, mitnichten! Aber wissen Sie, was ich an der heutigen Literatur vermisse? Arno schüttelte den Kopf. Ich werde es Ihnen sagen, es ist die Skepsis, die Selektion oder wenn Sie wollen, eine bestimmte Ideologie der heutigen Schriftsteller, wenn es darum geht, die sogenannte Wirklichkeit darzustellen, nicht wahr?
Wenn Sie wissen, was ich meine? Niemand schreibt heutzutage mehr einen Zauberberg, Berlin Alexanderplatz oder meinetwegen irgendwelche Kriegsbücher mit aktuellem Hintergrund, sagte Arno, haben Sie das gemeint? Vielleicht, ja, daran habe ich gedacht, nicht wahr, antwortete Wasner und schielte unverhohlen hin zur ungeöffneten Flasche Bordeaux vor ihm auf dem Tisch. Ah, tut mir Leid, entfuhr es Arno, ich habe vergessen, ihn zu dekantieren, zu blöd sowas. Warten Sie, ich bringe den Korkenzieher. Dadurch hatte er sich etwas Distanz geschaffen zu dem, was normalerweise jetzt immer kommen musste. Wasner wollte seine Lieblingsdichter geehrt wissen, seinen geliebten Keller, seinen Auerbach, seinen Immermann, die Arno allesamt ziemlich egal waren mit ihren Dorfgeschichten, und das wusste Wasner und genau deshalb quälte er Arno stets damit, ja, er hatte geradezu ein perverses Vergnügen daran, ihn mit der Entsubjektivierung der Novelle zu konfrontieren, um ihm zu beweisen, dass die heutige Tagebuchliteratur doch ohnehin immer nur um die autistischen Überheblichkeiten eines Autors ginge, und Arno tat jedes Mal so, als ließe er sich dann doch spät bekehren, wo er im Grunde froh darüber war, dass über all dem Unsinn die Zeit verrann und selbst der unermüdliche Professor sich irgendwann einmal auf den Heimweg machen musste.
Arno schenkte sich in der Küche ein weiteres Glas Bier ein und trank es in hastigen Zügen aus. Dann holte er den Korkenzieher aus der Lade und trat den Rückweg ins Wohnzimmer an, wo sich der dicke Wasner, mit seinem roten, aufgedunsenen Gesicht schon die fetten Patschhändchen rieb, denn gleich gab’s was zu Saufen, und das konnte dieser wirklich gut, und Arno ahnte gleich, geübt, wie er im Ahnen nun einmal war, diese eine Flasche würde es nicht tun und er überlegte fieberhaft, woher er denn in der kurzen Zeit eine zweite, ebenso würdige, nehmen könnte.
Lieber Freund, wo bleiben Sie denn so lange, ich möchte Ihnen doch noch über die subjektive Zurücknahme des Dichters im Realismus erzählen, wenn Sie sich erinnern, wo wir das letzte Mal stehen geblieben waren, weil es schon so spät war, nicht wahr? Arno seufzte tief und goss dem Professor das Glas Viertel voll ein, von links her, weil er zu wissen meinte, dass man das so macht, denn von rechts wäre es völlig falsch gewesen, aber wegen der ungünstigen Lage des Sessels, so vor der Wohnzimmertür, und weil Wasner immer diesen Sessel wählte, machte er sich keine weiteren Gedanken darüber, ob nicht doch von rechts besser gewesen wäre. Sie selbst nehmen keinen Schluck davon, heuchelte Wasner, der jedes Mal zu vergessen schien, was ihm Arno schon hundertmal über seine Histaminallergie erzählt hatte. Nein, er trinke nur Bier, das würde er besser vertragen und ging rasch noch einmal in die Küche, um sich ein Glas davon mitzubringen.
In der Küche stürzte er noch eilig einen letzten Rest hinunter um sich dann ein ordentliches Bierglas voll zu schenken und mit diesem bewaffnet ins Wohnzimmer zurückzukehren. Schön ist der Benjamin, empfing ihn Wasner diesmal und lobte das stolz gewachsene Bäumchen drüben im dreifenstrigen Erker, und Arno pflichtete ihm Kopf nickend bei, war das Bäumchen doch ihr ganzer Stolz, vor allem Constances. Ein wenig Grün in der staubigen, lärmenden Stadt zu besitzen, und sei es nur einen kleinen Baum, symbolisierte, dass man den Bezug zur Natur noch nicht gänzlich verloren hatte. So, dann Prost, hob Professor Wasner das Glas und fügte hinzu, dass man Wein mit Bier ja nicht anstoße. Wie Arno diese ewig öden, sinnlosen, nichts sagenden, bedeutungslosen Belehrungen über sture Etikette hasste, über die man sich auch ohne Weiteres hinwegsetzen konnte, wenn man sich nur ein wenig Freiraum schaffen wollte, aber der Mensch war nun einmal unfrei, oder zumindest arbeitete er permanent an seiner Unfreiheit, zumindest in diesen lächerlichen Dingen, ohne eigentlich zu bemerken, wie unfrei man sich dadurch machte, aber - er sagte nichts.
Sie tranken. Arno nahm einen größeren Schluck. Der Professor nippte nur. Sie stellten die Gläser ab. Stille. Ein paar Autos fuhren unten vorbei. Dann wieder Stille. Wasner tat, als läse er weiter in der offenen Broschüre. Doch dann atmete er plötzlich tief durch, als wollte er zu einem seiner üblichen Vorträge ansetzen. Aber diesmal kam ihm Arno zuvor. Wissen Sie, sagte er, und inspizierte wiederum nur kurz seine Fingernägel, ich teile zwar nicht Ihren Geschmack bezüglich ihrer literarischen Stilrichtung, dafür bin ich möglicherweise auch zu unqualifiziert, gebe ich zu, mich langweilt dieser Realismus, die Sache ist gegessen, aber ich teile durchaus Ihre Ansicht, wenn es um die Kritik an Gegenwärtigem geht.
Ich möchte Ihnen folgendes Beispiel geben, setzte er fort. Nehmen wir irgendeinen jungen Literaten her. Niemand hat bisher von ihm gehört. Nirgendwo steht irgendetwas über diesen begnadeten Schöngeist. Da, auf einmal, bamm!, und Arno hielt ein wenig inne, dann fuhr er fort. Da hat dieser Kerl doch glatt einen Bestseller gelandet, oder schlimmer noch, da wird sein Erstlingswerk bereits im Theater aufgeführt. So mir nichts dir nichts. Wasner runzelte die Stirn. Und dann, liest du die Kritik, verstehen Sie mich?, fragte Arno und erwartete keine Antwort. Wasner nickte. In dem Stück geht es um nichts, lachte Arno, um nichts, sag´ ich Ihnen, höchstens um einen literarischen Furz, der irgendwo nach zwei drei Wochen zwischen den Regalen verdampft, spurlos, und nicht wieder auftaucht. Und die Probleme die darin angesprochen werden? Wieder hielt er inne.
Die Probleme, mein Gott, es handelt sich um Komaartiges, ja, Komaartiges, auf der Bühne, perfekt gestylt, so auf den ersten Blick, durchwachsen von fremden Elementen, die sich einmischen, weil die Regie es so will und weil die da oben glauben, die da unten sind blöd und merken nicht, dass es Klamauk ist. Arno war lauter geworden. Der Professor ruckte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Aber Arno war noch nicht zu Ende. Alles beruht auf dem sagenhaften Anspruch, mehr zu sein als es ist, aber das Stück wird diesem Anspruch nicht gerecht, in keinster Weise! Arno dachte nicht daran, seine Stimme zurückzunehmen, im Gegenteil, er war eine Nuance lauter geworden. Und wissen Sie, worum es gegangen ist? Ums Saufen, schrie Arno. Immer der ewige, triviale Anlass, das Saufen und, er lachte laut auf, natürlich, den Tod, um den Tod, was denn sonst? Fällt ihm ja nichts anderes ein, diesem Dilettanten. Saufgelage und der Tod! Originell, was?
Arno lachte, dass dem Professor irgendwie unheimlich wurde und dieser rasch zum Glase griff, und einen, diesmal größeren Schluck als vorhin, zu sich nahm, und noch einen, und gleich darauf noch einen. Nur weiter, ermunterte er ihn, obwohl – er fand hier eine Situation vor, in der er sich in diesem Hause noch niemals zuvor befunden hatte. Immerhin war er der Literaturprofessor, und dieser Herr hier war im Grunde ein Niemand, einer, der erst kürzlich seinen Job verloren hatte, und es war bisher immer seine Sache zu sagen, was Literatur zu sein hatte und was nicht. Was erdreistete sich dieser? Wasner fühlte eine Ohnmacht aufsteigen und er fühlte, dass er dem Hass, der von Arno auszugehen schien, im Augenblick gar nicht gewachsen war. Arno bemerkte, was in Wasner vorging, ließ sich aber nicht irritieren durch die gewisse Verletzung der Gastfreundschaft durch seine heftigen Worte und er lachte immer noch, bevor er, nun eher lächelnd, sagte:
Die Grenzen, lieber Professor, die Grenzen zwischen Leben und Tod, denken Sie nur an Hofmannsthal, dieser ewige, ausgeleierte Themenhype, mein Gott, wie ich es hasse, dieses Gejammer nach immer ein- und derselben Frage, was wird danach sein, und was ist jetzt, und wie ist es, ich kann es nicht mehr hören, verdammt noch einmal, ich kann und will diese Scheiße nicht mehr hören, weil es mich jedes Mal daran erinnert, wie blöde wir eigentlich sind, weil wir keine Ahnung haben was läuft, Sie nicht, und ich nicht. Aber alle machen sich wichtig, nehmen sich so wichtig, als wüssten sie was, verstehen Sie? Da kommt irgendein Arsch von irgendwo her, schmeißt ein paar Ideen auf ein Blatt Papier, die nicht einmal noch durchgekaut sind, das ist O.K, und dann? Was kommt dann? Nichts! Am Ende ist er! Aus! Fällt ihm nichts mehr ein! Das war’s.
Und wegen der paar mickrigen Zeilen kriegt irgendein ausgehungerter Intendant gleich einen Orgasmus auf offener Straße und schon wird das Kulturbudget angebohrt, weil er wen kennt und der Schmarren landet, hast du es nicht gesehen, innerhalb einiger Wochen auf der Bühne. Arno griff zum Bierglas und setzte es längere Zeit nicht ab. Dann wischte er sich den Mund ab, ordentlich, mit einer Serviette, so ganz gesittet und atmete erst einmal durch. Der Professor war klein geworden. Stumm war er. Klein und stumm, und er war in sich zusammengesunken, als würde er nie wieder ein Wort sagen können. Aber tief in seinem Inneren, da arbeitete es heftig, da mahlten die Zahnräder seiner aufgewühlten Gedankenmaschinerie ineinander, da zerstob der Ideenkies in seinem Gehirn zu feinem Staub, augenblicklich unfähig, etwas Vernünftiges zu entgegnen, und er trank schnell vom Bordeaux, und Arno goss nach, und Wasner trank wieder und sein Gesicht wurde langsam rot und röter. Arno setzte sich in Siegerpose ihm gegenüber.
Jetzt hatte er genug Bier getrunken, um stabil zu sein. Wissen Sie noch etwas, Professor, die Ohnmacht der Regie, wissen Sie, woran die abzulesen ist, wissen Sie das? Wasner verneinte scheu. Daran, dass es plötzlich einen Bruch gibt im Ablauf, und genau dort, lieber Professor, darf wieder alles drinnen sein was bisher gefehlt hat, szenisch, wenn Sie wissen, was ich meine! Weil aus der Feder des genialen Schriftstellers nichts mehr herauszuholen war, kein Tropfen mehr! Man zaubert da oben etwas aus der Tasche und glaubt immer noch, dass die da unten blöde sind. Aber was soll ich noch sagen? Die da unten sind blöde! Und wissen Sie auch warum? Wasner wich entsetzt mit dem Kopf zurück. Weil sie danach auch noch klatschen, die Arschlöcher, deshalb! Haahaha, lachte Arno diabolisch und Wasner begann auf der Stirne zu schwitzen wie ein Firmling. Mitkommen wäre erwünscht gewesen da unten, mitkommen, um was geht’s eigentlich, aber das scheint ohnehin egal zu sein. Erlaubt ist, was gut aussieht und laut ist, ordinär, vulgär, einfach deppert. Dann ist es gut!
Dann wirkt es, was? Prost, Herr Professor. Wenn einer schon lustlos an so einem Thema herumeiert und noch weniger Lust hat, den ganzen Scheißdreck zu Ende zu denken, dann würde ich sagen, schmeiße ich es ihm wieder hin, oder etwa nicht? Was sagen Sie, lieber Professor? Sagen Sie was, forderte ihn Arno auf, beinahe unangenehm. Der Professor hatte sich mit Mühe erhoben. Er war äußerlich blutrot im Gesicht, vor Anstrengung, innerlich jedoch leichenblass, zum Sterben. Lieber Freund, stammelte er heiser, mir – verstehen Sie mich, mir – ich bin nicht ganz wohl. Vielleicht lassen wir’s für heute, ja, nicht wahr? Sie erlauben, dass ich mich – Schon geh´n, scheinheiligte Arno? Aber es ist doch noch nicht – Schon spät, sagte Wasner. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Und – junger Freund, Sie sollten sich nicht so aufregen. So jung sind Sie nun wieder auch nicht mehr. Bedenken Sie, denken Sie an Frau Constance! Sie trinken zu viel, lieber Freund, sagte ausgerechnet der Professor und Arno brachte ihn zur Tür. Einen schönen Abend noch, wünschten sie sich beide. Dann schloss Arno die Tür hinter ihm.