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Kapitel 2
ОглавлениеDas Ekel
Da! Da war es, das störende Nebenlicht, in Gestalt Bodo Rabitschs - eben zur Tür herein-gekommen! Jetzt blieb nicht mehr viel Zeit, über Angst nachzudenken, Sybilla Trinks könnte ihm, Moll, zuwenig Aufmerksamkeit widmen, dem Mann Norman Moll nämlich, und nicht bloß ihrem konversationellen Gegenüber. „Sie kommen oft mit unlauteren Mitteln zu Reichtum“, stellte sie sachlich fest, „guten Abend Herr Rabitsch“, begrüßte sie diesen. Rabitsch küsste das Händchen. Moll machte „kleinen Diener“, stellte sich kurz vor, um rasch noch einen Satz anzubringen: „ Ich meine, fahren Sie einmal auf der Ostautobahn! Man ist im Vergleich ein armer Schlucker! Aber, trotz allem, das Image von diesen Leuten ist miserabel, egal, von wo sie kommen. Man hört das ja überall, auch aus den Skigebieten. Sie werden alleine schon ihrer Herkunft und ihres Vermögens wegen skeptisch betrachtet. Damals, vor dem Fall des Stacheldrahtes..“. Sybilla Trinks begann plötzlich zu lachen. Aber Moll fuhr fort: „Also, bis vor einigen Jahren, da – hat man uns mit ihrer Anwesenheit verschont, bis auf einige wenige. Aber heute, jetzt - brauchen sie nicht mehr wie verrückt zu singen, Cello oder Schach zu spielen, nein! Heutzutage dürfen sie auch so ausreisen!“, dabei musste er lächeln.
„In Moskau hat man ihnen verboten, das Verb ‚erobern’ zu gebrauchen, wenn sie hier Geschäfte machen. Negativ konnotiert, Sie verstehen? – Vor sechzig Jahren haben sie bei uns schon einmal alles abgebaut und mitgenommen“, setzte er noch schnell nach, „ganze Industrieanlagen bringen sie derzeit in ihre Gewalt!“ Sie nickte. Rabitsch, der seinen Kopf vorerst etwas schräg hielt, um den hoch Interessierten zu mimen, hörte aufmerksam zu, noch aber schien die Zeit seines Auftrittes nicht gekommen, sodass er sich damit begnügte, nur verwundert sein Haupt zu schütteln. Sein dichtes, dunkles Haar war kräftig im Wuchs und an den Schläfen bloß leicht von weißen Strähnen markiert, trotz seiner siebzig Jahre. Moll hatte es sogleich neidvoll bemerkt. „Und ich sage Ihnen, mir hat der Kerl richtig Angst gemacht! Diese kurze Affenfrisur, mit den hohen Winkeln im Stirnbereich, die breiten Schultern, kurzer, stämmiger Nacken – und ganz besonders diese nach oben hin spitz zulaufenden Augenbrauen, dreieckig – mephistophelisch irgendwie! Immer im schwarzen Seidenanzug. Und dazu noch dieser stechende Blick, eiskalt, berechnend, so, als würde er andauernd irgendetwas auskundschaften wollen – und trotzdem so nichtssagend, ich weiß nicht“, sagte sie, „einmal abgesehen von den abstehenden Ohren!“ „Ja ja, der Rubel rollt langsam aber stetig nach Westen! Wir können seinen Feldzug nicht aufhalten. Wie sagte Ennius einst? Wie ähnlich ist uns doch das häßlichste Tier, der Affe – aber wieso stört Sie eigentlich die äußere Gestalt so sehr? Ich würde sagen, der Mensch besitzt doch immerhin auch Vernunft und Geist! Mag sein, dass es bei diesem Exemplar, von dem Sie erzählen, so ist, wie mit einem Baum, dem alles Überflüssige oder Nutzlose doch bloß hinderlich ist, nicht wahr? Ein Mann muss nicht immer schön sein, denken Sie nur daran, was Torberg über uns Männer verbreiten ließ!“ Sie schmunzelten.
Rabitsch schien keine Ahnung davon zu haben, wo von sie überhaupt sprachen. Er selber sagte noch immer nichts. Sybilla Trinks stand auf. „Ich denke, ich gehe einmal kurz nach oben – ein wenig frisch machen. Es ist noch Zeit bis zum Abendessen. Wenn Sie mich entschuldigen würden?“ Die beiden Herren erhoben sich. Sie stand auf, griff nach ihrer Badetasche und, eben in der Absicht zu gehen, wandte sie sich noch einmal Norman Moll zu: „Ach, es wird Ihnen nicht aufgefallen sein, aber ich heiße Trinks, Sybilla Trinks“. Moll errötete. Wenn er nicht schon gestanden wäre, er wäre wohl mit einem Satz aufgesprungen. „Mein Gott, es tut mir furchtbar Leid, ehrlich! Aber – unsere kleine Konversation war wohl so aufregend für mich, dass ich darüber beinahe – ja, wirklich sogar – gestatten Sie – Norman Moll.“ „Ich weiß, ich habe vorhin zugehört. Na dann, bis später!“ lachte sie. Rabitsch grinste bis zu den Ohren und verbeugte sich. „Gnädige Frau!“, rief er hinterher, dann rieb er sich die Hände und wandte sich Moll zu. „Sie sind gestern angekommen?“
In diesem Augenblick betrat Fräulein Trixi den Salon, zierlich, brünett, kurzes schwarzes Röckchen, weiße Bluse, rote Wangen, freundlich lächelnd und fragte artig: „Guten Abend, die Herrschaften. Haben Sie irgend-einen Wunsch?“ Das also war besagte Trixi, dachte Moll, der sich den Tee allein auf seinem Zimmer gemacht hatte, mittels Tauchsieder, und in den Salon mitgebracht hatte. Rabitsch blühte förmlich auf, seine Nase begann zu glänzen, die Augen traten aus ihren Höhlen, als hätten sie die Absicht, das junge Ding mit Haut und Haar zu verzehren. „Das ist lieb von Ihnen, mein Kind, vielleicht ein Achterl, ja? Bitte!“ Moll war wunschlos. „Nein, doch, vielleicht – einen kleinen Kognak. Vielen Dank!“ Fräulein Trixi schwirrte ab. „Herr Moll, Sie kommen aus Wien? Hör‘ ich sofort an der Aussprache. Sie waren schon öfter hier, ist ja auch eine schöne Gegend. Ich sag‘ ja immer, man muss die Zeit ausnützen, die schöne Jahreszeit meine ich, wer weiß, wie lange wir das alles noch genießen können? Stimmt‘s? Ach Sie rauchen ja, na, also kann es Ihnen nicht so schlecht .... ach, stimmt, Sie sind ja nur zur Erholung hier, hab‘ ich beinahe vergessen. Also ich hab‘ das schon lange aufgegeben! Führt ja doch zu nichts!“ Er lachte kurz auf. „Was haben Sie denn da für einen Tabak? Ah ja, kenn‘ ich! War ja nie Pfeifenraucher, im Büro - Sie verstehen, nur Zigaretten. Aber dafür von den Feinsten!
Haben Sie was mit der Hüfte? Gestern, als ich Sie kurz nach ihrer Ankunft flüchtig gesehen habe, hatte ich den Eindruck, Sie hinken? Sie gehen so schlecht, ist mir gleich aufgefallen. Wie ich immer zu meiner Frau sage, am besten gleich zum Arzt gehen, kann man sich viel Ärger ersparen. Bei wem sind Sie in Behandlung, wenn ich fragen darf? Professor Marian? Nein, der ist ja schon in Pension. Sein Nachfolger, wie heißt denn der?“ Moll winkte ab. „Na, ich kann mich auch getäuscht haben. Schade, dass das kleine Lebensmittel-geschäft nicht mehr existiert, da vorne. Sie machen alles kaputt, diese Bürgermeister. Alles verkaufen sie. Stellen zwei Supermärkte hin, einen am Ortsanfang und einen am Ende. Und dazwischen - nichts! Wenn man kein Auto hätte - warten sie nur, das kommt auch irgend-wann, wenn man eines Tages nicht mehr alleine gehen kann, Sie verstehen? Aufgeschmissen – völlig aufgeschmissen sind wir dann, Sie werden sehen! Und überhaupt, da wird ein Hotel nach dem anderen hingebaut, egal, ob es geht. Die EU gibt das Geld, solange eines da ist, und dann? Dann sitzen wir davor, vor den Ruinen! Ist doch so, oder? Was sagen Sie überhaupt zur neuen Gesundheitsministerin? Unglaublich das! Was sich Politiker heute alles leisten, na, das hätte es bei uns geben sollen! Gottlob sind meine Kinder schon erwachsen und müssen sich dieses Theater nicht mehr antun!“
Rabitsch zupfte seine gelb getupfte Schalkrawatte zurecht und sah Moll, Zustimmung erwartend, an. Dieser war bis jetzt nicht dazu gekommen, zu antworten, da waren aus dem Vorraum Stimmen zu vernehmen. Gleich darauf öffnete sich die Tür zum Salon. Fräulein Trixi brachte die Getränke. Hinter ihr betrat ein älterer Mann den Salon. Schwarzer Trachtenjanker, helle Hose. Die Haare, schon beinahe weiß, in langen Strähnen nach hinten gekämmt, kleiner, silbergrauer Oberlippenbart. Sofort sprang Rabitsch auf, buckelte und rief mit lauter Stimme, die Moll beinahe aus seiner Betäubung holte, in der er sich befand, seitdem er dem aufdringlichen Geschwätz Rabitschs bis jetzt rettungslos ausgeliefert war: „Verehrung Graf! Behandlung für heute beendet? Wie fühlen Sie sich?“, und zu Moll gewandt, „darf ich vorstellen? Graf Otto von Traunstein, Herr Moll aus Wien!“ „Angenehm, sehr angenehm!“, sagte der Graf, „gestatten Sie, dass ich mich zu ihnen setze, meine Herren? Mein Rücken ....“, und ließ sich mit einem lauten, gedehnten „Aaaahhhh“ in einen der umstehenden Fauteuils fallen. Auch Bodo Rabitsch setzte sich wieder. „Und, welches Leiden lassen Sie sich hier auskurieren?“, wollte Traunstein wissen. Moll, gerade im Begriff zu antworten, wurde sofort von Rabitsch unterbrochen: „Nein, nein! Herr Moll ist sozusagen nur Urlauber! Ha ha ha!“ „Ah, geh‘,“ tat der Graf erstaunt, „na ja, da kann man halt nichts machen, nicht wahr?“
Moll war irritiert. Er stand auf, verschränkte seine Hände hinten am Gesäß und schritt, scheinbar gelassen, auf die Terrassentür zu. Innerlich jedoch kochte er. Er hätte diesem Rabitsch am liebsten eine heruntergehauen, aber – man war ja wohlerzogen, und so schluckte er es hinunter, um stumm hinaus in die fortschreitende Dämmerung zu starren. „Also, der ein- zige Gesunde in unserem trauten Kreis, was?“, meinte der Graf. „Niemand ist so gesund, dass er nicht ab und zu einen Arzt braucht, hab‘ ich Recht?“, lachte Rabitsch frech, „letztendlich ist so eine Untersuchung nach zwei drei Stunden schon nichts mehr wert!“ Sie lachten. Molls Hände krampften sich zu Fäusten in seinen Hosentaschen, aber er lächelte nur, Blick in den Garten gerichtet, ohne dass es der Graf oder Rabitsch sehen konnten. Schließlich aber drehte er sich doch zu den beiden um, ja, ging sogar zu ihrem Tisch zurück und setzte sich zu ihnen. Rabitsch grinste. Der Graf machte die Handbewegung eines Platzanweisers, da saß Moll bereits. „Sind Sie Deutscher?“, fragte Moll. „Wer? Was? Ich? Nein! Wie kommen Sie denn da drauf?“ „Ach, ich dachte nur. Bei uns ist das ‚von‘ ja nicht üblich“, sagte Moll. „Uralte österreichische Familie, mein Herr!“, antwortete der Graf, „sollten davon schon gehört haben. Aber – ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Herr – äh, wie war doch gleich der werte Name?“ „Moll!“ „Ah ja, Herr – Moll.“
Rabitsch begann zu schwitzen und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch, auf dem in goldenen Lettern B.R. eingestickt waren, für jeden gut sichtbar. Er sah Moll streng an und erklärte: „Genau, das ist, worüber wir gestern Abend auch schon gesprochen haben, nicht wahr, Graf?“ „Eben! Schaun Sie“, begann Traunstein in väterlichem Ton, völlig entspannt, sonore Bassstimme, „im Grunde könnte mir das völlig gleichgültig sein, welcher Titel vor meinem Namen steht. Er steht ja ohnehin für sich! Und darüber gibt es überhaupt keine Debatte. Aber ein bisserl bin ich schon darüber derangiert, und es ärgert mich! Ja, es ärgert mich, dass die Leut‘ gleich so zurückschrecken davor, nicht wahr? Da wird so getan, als ob man sich dafür auch noch schämen müsst‘, so is‘ es!“ Traunstein beobachtete Molls Reaktion sehr genau, und Moll tat amüsiert über das, was er da hörte, jedoch überließ er dem Grafen das Wort. „Ich möchte sogar behaupten, dass es schließlich eine Verpflichtung ist, nicht wahr?“, fuhr der Graf fort, „seinem Namen eine gewisse Ehre angedeihen zu lassen, sag‘ ich immer.“ Und schließlich hat so ein Bürgerlicher keine Ehre im Leib, durchfuhr es Moll. Arthur Schnitzler fiel ihm ein. Nein, es musste Zivilist geheißen haben – auch egal. „Ehre? Was denn für eine Ehre?“, fragte Moll provozierend, obwohl er genau wusste, was Traunstein damit meinte. „Nun, unsere Vorfahren haben ja eine bestimmte gesellschaftliche Stellung innegehabt, und diese verpflichtet uns traditionsgemäß selbstverständlich auch heute noch, verstehen Sie?“
Moll nickte scheinbar verständnisvoll. „Mag schon sein“, erwiderte er, dem Grafen, „das war allerdings nichts Besonderes, denn innerhalb ihrer sozialen Gruppe haben sie sich ja gegenseitig immer wieder selbst ausgezeichnet und mit diversen Ämtern belehnt, wie wir alle wissen.“ Traunstein räusperte sich, er wurde etwas rot im Gesicht, während Rabitsch unruhig auf seinem Sitz hin und her rutschte und vom Rotwein trank, den Fräulein Trixi serviert hatte. „Herr, äh? – verzeihen Sie...“. „Moll!“ „Richtig! Herr Moll, ich erlaube mir trotzdem festzustellen, dass uns dieser Titel, auch wenn wir ihn im Sinne des sogenannten Adelsverbotsgesetzes nicht offiziell tragen dürfen, doch so etwas wie ein Privileg darstellt, nicht wahr?“ In diesem Augenblick wurde die Salontür heftig aufgestoßen, und Anna, der gute Geist des Hauses, Mittelding zwischen Krankenschwester und Zimmerfrau, gleichsam Mädchen für alles, stürmte herein: „Herr Rabitsch, verzeihen Sie, schnell, Ihre Frau – ein Asthmaanfall. Sie ist oben in ihrem Zimmer!“, stieß sie atemlos hervor, und war auch gleich wieder zur Türe hinaus. „Dass man nie seine Ruhe hat, mein Gott!“, klagte Rabitsch und verdrehte die Augen. Er erhob sich gemächlich. „Sie hat ja ohnehin ihren Inhalator mit, kann sie denn nicht...“, und zu Traunstein und Moll gewandt, bemerkte er: „Ich weiß nicht, gestern auch schon – geht halt manchmal ein bisserl zu rasch, so etwas. Da kann man halt nichts machen. Keine Ruh‘ hat man, wenn man einmal gemütlich beisammen sitzen könnte, was?“, lachte er und verließ den Salon.
Moll und der Graf sahen sich wortlos an. Vom ersten Stock her drangen Geräusche trockenen Hustens zu ihnen herunter, heftiges Räuspern. Dann Stimmengewirr. Rabitschs lautes Organ – dazwischen wieder Husten. Diese schreckliche Ahnung einer Atemnot, die aus dem ersten Stock durch den Stuck der Decke strömte, begann Norman Moll mit Angst zu erfüllen. Er trank rasch einen Schluck Kognak, den er bisher noch nicht angerührt hatte und ertappte sich dabei, plötzlich selber an Sauerstoffmangel zu leiden, ja, beinahe das Atmen zu vergessen - begann plötzlich die Panik drohenden Erstickens am eigenen Leib zu erfahren, vielleicht aus Solidarität mit Rabitschs bedau-ernswerter Gattin? Es verengten sich ihm bereits die glatten Muskeln seiner vom Tabak gereizten Bronchien, deren innere Schichten zu schwellen begannen – zähen Schleim absondernd - die Atemwege schienen enger und enger zu werden, Moll musste sich anstrengen . Ein- und Ausatmen gerieten zur Qual - er stützte seine Arme in die Hüften, um leichter Luft zu bekommen. „Ist Ihnen etwa nicht gut?“, fragte der Graf besorgt, der Moll beobachtet hatte. „Wie? Äh – nein, nein! Es ist nichts.“ Da endlich tat der Kognak seine ersehnte, muskel-entspannende Wirkung.
Moll war es auf einmal wieder möglich, frei durchzuatmen. Sicherheitshalber nahm er noch einen größeren Schluck, schließlich konnte man nicht wissen... Noch immer war Rabitschs Stimme von oben zu hören, wie er offensichtlich auf seine Frau einredete, vielleicht etwas gedämpfter also zuvor. Doch immerhin schienen die Intervalle der Hustenanfälle jetzt langsam länger zu werden. Indessen hatte auch Traunstein ein Glas Rotwein bei Fräulein Trixi bestellt, die, beinahe zu Tode erschrocken über den ungewohnten Vorfall bei den Rabitschs das elegante Glas mit zittrigen Händen am Tisch abstellte und heiser ein „Sehr zum Wohl!“ lispelte, worauf sie bleich und grußlos wieder verschwand. Moll griff gedankenverloren zur Pfeife, zündete den Tabak an, um sofort heftig am Mundstück zu ziehen. Dicker Qualm stieg auf. Der Graf sah Moll aufmunternd an. „Hm!“, machte er, „hervorragende Raumnote! Vorhin dachte ich, Sie würden mir jeden Moment.... na, es geht Ihnen wieder gut, wie ich sehe, und rieche!“, lachte er. Moll mochte seine Stimme gut leiden. Eigentlich sympathisch, dachte er, kein Vergleich mit Rabitsch, dem Ekel. Fräulein Trixi war erneut in den Salon gekommen, um die weißen Teelichter in den kompottschalenartigen, nach oben geschlossenen Glasgefäßen an den Tischen anzuzünden. Als sie sich der Kerze an Molls und des Grafen Tisch näherte, und sich weit über die Mitte des Tisches beugte, um diese mittels Streichhölzer höchst umständlich zu entzünden, bot sich den beiden Herren, völlig unerwartet, ein deliziöser Ausblick in eine sanft geschwungene, fahle Bucht, welche der Ausschnitt ihrer Bluse großzügig freigegeben hatte. Moll nahm den Grafen unauffällig ins Visier, der beinahe Stielaugen bekam, und eben dabei war, eine offensichtlich ganz ausgeklügelte Strategie zu entwickeln, die es ihm gestatten sollte, dem ihm mittlerweile ach so selten vergönnten Schauspiel so nah wie möglich beiwohnen zu können und einen, für die kurze Dauer des Ereignisses durchlauchten Blick zu positionieren, indem er sich in seinem Fauteuil blitzschnell so gerade aufsetzte, wie es ihm seine ramponierte Wirbelsäule, wohl nur in ganz seltenen Fällen sicherlich, für einen sehr begrenzten Zeitraum gestattete, ohne sofort gleich Opfer eines irreparablen Bandscheibenvorfalles zu werden, jedoch immerhin in der Hoffnung, mit dem, wenn auch noch so geringen Erfolg belohnt zu werden, noch ein einziges Mal ungestraft die verbotenen Früchte des Paradieses zu schauen.
Fräulein Trixi bemerkte in ihrer infantilen Naivität von all dem nichts, lächelte die beiden Herren unschuldig an und entfernte sich nach getaner Arbeit wieder. „Charmant!“, flüsterte der Graf kaum hörbar, „charmant!“ Er sah zu Moll hin, der kaum merkbar die Mundwinkel zu einem Lächeln verzog und fragte: „Lieber Moll, so versunken? Woran denken Sie? Hören Sie noch was von da oben?“ Moll schüttelte den Kopf. „Das Schlimmste dürfte vorbei sein, hoffentlich“. „Möge Gott, dass Sie Recht haben“, sagte Traunstein, und fuhr fort, „ach, unser Gespräch betreffend – ich wollte dazu noch etwas anmerken. Wir haben es uns also zum Ziel gemacht, dem toten Recht“, er stockte, „übrigens nicht nachvollziehbar, jetzt, wo wir in einem vereinten Europa – Sie verstehen? Was also anderswo gestattet ist, und gerade hierzulande – na ja“. An dieser Stelle machte er eine kleine Pause, nahm sein Glas und trank bedächtig etwas vom rubinfarbenen Rotwein, um es vorsichtig wieder auf den Tisch zu stellen, ganz langsam, so, als ob es nie dort ankommen sollte, wobei das Aufsetzen des Glases nicht das geringste Geräusch verursachte. „Sehn Sie?“, sagte er dann, „ganz ruhig da oben. Nun gut! Andererseits aber verdrießt es, dass es genau in diesem Lande mit dem Rest der Kultur nicht so besonders bestellt ist. Wenn ich dabei an die jüngsten Aufführungen in manchen Theatern denke, grauenhaft so etwas! Für so einen Mist gibt man Geld aus! Und dafür muss man sich auch nicht schämen! Und wenn Sie genauer hinsehen, dann sehen Sie lauter Schweinereien, direkt ekelhaft! Schauderhaft das, nicht wahr? Und ich bin Abonnent! Verstehen Sie, was ich meine?“
Der Graf musste husten. „Wissen Sie, Herr Moll, ich hab‘ ja diesen Kerl da nie gemocht, der sich hier für die Serben stark gemacht hat. Ich mein‘, man kann ja in niemanden hineinschauen, nicht wahr, aber fragen wird man ja wohl noch dürfen? Was geht in diesem Menschen vor? Und die Serben sind uns weiß Gott nicht bloß einmal in den Rücken gefallen!“ War das eine ernst gemeinte Frage, dachte Moll, und was sollte er antworten? Er hatte sich mit dieser Sache nie beschäftigt, irgendwo vielleicht diese Rede überflogen, und als Normalverbraucher nichts sonderlich Auffälliges daran finden können, außer Langeweile. Die Zeitspanne, in der er antworten sollte, wurde immer länger. Hatte es überhaupt noch Sinn, zu antworten? Wartete Traunstein tatsächlich darauf, dass er dazu Stellung nehmen sollte? Aber da waren auch die Gedanken an Sybilla Trinks, mit ihrer Art, und ihrem Wahnsinns-körper, dazu bestimmt, nicht aus seinem Kopf verbannt werden zu können. Er fühlte, er sollte jetzt wirklich aufstehen und endlich auf sein Zimmer gehen, für den Anfang sollte es genug sein, an Gesellschaftlichem, und dann sagte er endlich „Aber jetzt wollen Sie womöglich ein Gesetz durchboxen, dass Ihnen erlaubt...“. Traunstein unterbrach ihn: „Schauen Sie, es ist ein Gesetz, das ja doch nie exekutiert wurde, und schließlich sind wir kein Gesangsverein, sondern gewissermaßen – äh, wie Sie schon vorhin angedeutet haben, tatsächlich eine soziale Gruppe. Ja! Es ist ein Privileg, und das ver-pflichtet zur Verantwortung, zu Führungsaufgaben, verstehen Sie?“ „Ja, wollen Sie jetzt Landeshauptmann werden?“, scherzte Moll, aber Traunstein winkte ab und lachte herzlich.
„Sie wissen doch, man hat uns doch damals verboten, in der Republik politische und gesell-schaftliche Verantwortung zu übernehmen. Das ist außerordentlich diskriminierend, nicht wahr? Aber in Wirklichkeit sind wir am Zeitgeschehen beteiligt, wie sie und jeder andere auch, und das ist doch der springende Punkt, nicht wahr!“ Moll wurde nachdenklich. „Dann sind Sie also Monarchist?“, fragte er den Grafen. „Also – jedes politische System hat seine Vor- und Nachteile. Schauen Sie sich nur die letzten Jahre demokratischen Fuhrwerkens genauer an – eine Verantwortungslosigkeit sondergleichen! Daher könnte ich mir durchaus eine moderate Kontinuität an der Spitze des Staates vorstellen, die sich nicht nach halber Arbeit einer Legislatur klammheimlich aus der Verantwortung stiehlt, nicht wahr? – und sich gemütlich in ihr wohlfinanziertes Privatleben zurückzieht“, erwiderte der Graf. Moll presste nachdenklich seine Lippen aufeinander. Das hätte er vor Vertretern der wahren Demokratie wohl nicht ungestraft sagen können – die hätten ihm schon ihre Meinung gesagt, und ihn über seine wahre Stellung in der Historie unterwiesen, aber er, Moll? Privatier von Gnaden, was hätte er schon Gewichtiges zu entgegnen? Nichts, wenn er es sich genau überlegte, nichts von Belang. Dann aber, beinahe schon im Begriff zu gehen, fragte er neugierig: „Und? Wer hat in dieser Sache Mitspracherecht?“ Der Graf überlegte etwas, und meinte schließlich: „Nun, nicht ein jeder, nicht wahr? Da bleiben wir ganz unter uns! Ein Unter-schied wird’s wohl noch sein dürfen? Wenn’s keinen Unterschied gäbe, bräuchten wir uns ja dafür nicht einzusetzen, oder?“, lachte er. Moll schüttelte den Kopf.
Da sprang die Tür auf. Rabitsch war wieder da, fröhlich, und unbekümmert, so, als ob nichts geschehen wäre. „Meine Herren!“, trat er selbstbewusst auf und blickte, die Brauen hochgezogen, auf die beiden von oben herab. „Und?“, fragte Traun-stein, „wie geht’s ihrer Gattin? Besser?“ „Ja ja! Überhaupt kein Grund zur Besorgnis. Wir kennen das ja schon lange, nicht? Damit muss man eben umgehen können. Ein kleiner Anfall eben, wie schon so oft. Kalt wäre ihr, hat sie gemeint, lächerlich! Ich bitte Sie, wir haben Mai! Ich habe den Heizkörper abgedreht. Man kann ja in der Nacht überhaupt nicht schlafen, wenn es so warm ist im Zimmer. Außerdem gibt es jede Menge Decken. Und schließlich können wir auf diese Weise so auch etwas zum Energiesparprogramm beitragen, finden sie nicht, meine Herren?“ Er lachte lauthals über seine eigenen Worte. „Aha!“, sagte Moll, und stand auf. Der Graf hatte offensichtlich doch keine Antwort von ihm erwartet, und stierte ganz einfach ins Leere, hin und wieder Unverständliches vor sich hin murmelnd, was Moll erst gar nicht zu deuten versuchte. „Also, ich geh‘ dann, wenn Sie mich entschuldigen?“ Traunstein fuhr zusammen. „Ah, selbstverständlich, ja, natürlich! Wir sehen uns ja!“ Moll blickte kurz in seine traurigen Augen, mit den hängenden Tränensäcken und den unzähligen Falten an Stirn und Wangen. „Schon gehen? Jetzt, wo’s gemütlich werden könnte? Nachtmahl ist kurz davor. Sie kommen doch? Oder essen Sie aus-wärts?“, fragte Rabitsch eilig. Moll drehte sich kurz um. „Natürlich, ja. Wir sehen uns“. Dann lenkte er seine Schritte rasch dem Ausgang zu und begab sich in Richtung Stiegenaufgang.