Читать книгу Der Besucher - Norbert Johannes Prenner - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеDer Liebesreigen
Manche müssen einfach tun, was sie tun müssen, dachte er. Diese Antwort war noch für Traunstein bestimmt gewesen, als er die ersten Stiegen zu seinem Zimmer im ersten Stock hochstieg, auf dem roten Sisalteppich, der unter jeder Stiege mit einer Messingleiste gesichert war, um nicht wegrutschen zu können. Was Traunstein damit gemeint hatte – ich bin ja Abonnent? Man musste sich ja nicht jeden Mist ansehen, wenn an der Wichtigkeit einer Aufführung Zweifel aufkamen. Noch dazu, wenn ein Regisseur ein Nichts von einem Stück obendrein auch noch würde- und wei-hungsvoll in unerträgliche Länge zu ziehen vermochte, während die Handlung ohne Licht- und Toneffekte unweigerlich zum Tode verurteilt war, man selbst beinahe schon im Koma lag, diese dann aber doch gerade noch reanimiert worden war, man selbst auch - im besten Fall durch einen Schluck Kognak aus dem wohlweislich mitgebrachten Flachmann, um vielleicht an diesem Abend doch noch irgendwann den bühnenhaft apokalyptischen Höhepunkt des Stückes mitzuerleben, der sich zwar nicht gleich als solcher zeigte, aber es doch irgendwann einmal unweigerlich sein hätte sollen, um kurz danach in rasender Talfahrt inszenatorischen Unvermögens dem heiß ersehnten Ende zuzustreben, und im Anschluss danach sofort irgendwohin auf ein oder zwei Bier zu gehen, um den ganzen Jammer auch gleich für immer und ewig vergessen zu können. Dort konnte man hoffentlich in aller Ruhe darüber nachdenken, dass eines Tages irgendwann einmal ein ganz normaler Arbeitstag sein würde, an dem man sich an Parametern der Normalität täglichen Frustes von der Seelenzerrüttung kultureller Ausschweifungen regenerieren konnte, um hinterher, Gott sei Dank, wieder ein ganz normaler Mensch sein zu dürfen.
Moll sperrte seine Zimmertüre auf und trat ein. Die Luft herinnen war nicht die beste, also ging er zur Balkontür und öffnete beide Flügel. Er trat auf den Balkon hinaus und atmete erst einmal tief durch. Ein wunderbarer Abend, voll von Düften süßer, frischer Blüten. Vor ihm der silberne Schimmer des Sees, über dem sich ein blasser Halbmond zu erheben anschickte. Dahinter dunkelgrün bewaldete Hügelketten, hineinge-malt – hellgrünes, frisches Wiesenpatchwork, ausgewogen verteilt. Den Abschluss bildend – blassblau-violette Gebirge mit Schneeresten in Geröllrinnen, in ihrem Bestreben, als vereiste Adern talwärts fließend erstarrt - daran gehindert worden zu sein. Von Westen her er-hob sich ein weißer Wolkenturm, hoch wie der Nanga Parbat. Im gelb-orange-lila Farbenspiel auf türkisem Grund durchaus nicht bedrohlich, hübscher Gegensatz sogar, der flauschig weiße Wattebausch, mit seinen ständig wechselnden Figuren. Ein aufgeblasener Zwerg, dann ein, Feuerdrache, samt Schweif, jetzt wieder Nichtdeutbares, doch, ja, sitzender Elefant und gleich darauf fliegende Riesenkrake. Moll konnte sich kaum satt sehen. Alleinsein - welch eine Gnade kostbarer, selbstbestimmbarer Abgeschiedenheit.
Er ließ sich in einen Korbsessel fallen und starrte, kaum atmend vor Ehrfurcht über das ihm dargebotene Panorama, wie gebannt auf jenes kosmische Kaleidoskop. Da bemächtigte sich seiner plötzlich ein Gefühl der Freiheit, einer Ahnung, wie er sie als Kind schon empfunden hatte, so neu, so beglückend, in Wirklichkeit nicht greifbar, nicht fassbar, vielleicht nur an spezifischen Nuancen kindlicher Wahrnehmung festmachbar. Ach, jetzt, wo er sich daran erinnerte, überlegte er, wie es gewesen sein könnte, wenn endlich gefrühstückt war, Zähne geputzt, das lästige Frisieren! - man in kurzer Gegerbter, kniebestrumpft endlich in den Garten entlassen worden war, um die Welt da draußen auf eigene Faust zu entdecken, die zwar schon vertraute, und doch stets im Geist neu erschaffene für sich zu erkunden? Den Kopf angefüllt mit Abenteuern kindhafter Phantastereien, die es nachzuvollziehen galt. Wirklichkeiten, die täglich neu erschaffen werden wollten, um dem öden Gleichmut des Alltags zu trotzen, ewige Begleiter auf der ständigen Suche nach Spitzlichtern einsamen Kindseins, auf der Suche nach dem Leben. Wie ein Blitz durchfuhren flüchtige Erinnerungen Molls Ge-hirn und ihm war, als hätte er von Ferne Wetterleuchten bemerkt, aber – er konnte sich auch getäuscht haben. Berauscht verfiel er abermals in unbeschwertes Kindsein. Was war das? Donner etwa? Nein, das war kein Donner. Zwei Abfangjäger, ganz hoch am Himmel, nur zwei Punkte. Übungsflug - dachte Moll. Klar, unbewohntes Gebiet über den Bergen. Kurz vor der Ablöse der „Neuen“! Umstrittene Notwendigkeit, den Staatsvertrag erfüllen zu müssen. Lieblingsspielzeug selbstverliebter Militärs! Zankapfel profilierungssüchtiger Politiker! Steuerfressende Ungeheuer! Verdammt laut waren sie!
Moll wartete, bis sie wieder hinter dem Wolkenturm hervorkamen. Da! Jetzt wieder das bedrohliche Rauschen und Pfeifen – knatternder Donnerhall - den Ernstfall proben. „Welchen?“ dachte Moll. Wie war das? Was war es denn, was ihn so zufrieden, so glückselig gemacht hatte? Sofort schien alles wieder ausgelöscht, sobald Gedanken danach haschten. Profanes Überlegen – kaum jemand hatte Fernsehen damals! Unvorstellbarer Zustand! Heute? Ohne Playstation, ohne Computer? Arme Jugend - heute! Jede Zeit braucht ihr Spielzeug! Endloses Knöpfchendrücken - dubiose Funktionalitäten – als schwer recyclebares Erbe einer profitgierigen Erwachsenenkaste. Metallbaukasten hatte es gegeben, den Matador abzulösen, den Ingenieur im Kind zu wecken, der nicht im Kinde steckte. Und im Garten? Seinem Reich? Karge Steppe im Frühjahr - unendlicher Ozean, vor der ersten Mahd. Das hohe Gras bot urwaldartiges Dickicht, ozeangleich! Beide Arme kämpften vergeblich gegen die Strömung an – man war verloren. Da, an der Wade, Zikadenschleim! Ekelhaft! Im dichten Gras kauert eine fette Spinne! Gänsehaut! – alles bloß, um ans andere Ufer zu gelangen. Der kleine, steile Hang an der Westseite – tägliche Erstbesteigung - schneebedeckt und nackter Fels - war einmal Eiger, dann wieder Glockner. In Todesangst stürzen ganze Seilschaften in seine sanft auslaufenden Wiesenhänge, bleiben eine Zeit lang entseelt am Fuße liegen, bis die ersten Ameisen kommen. Im Kindergehirn verunglücken ungezählte, schneidige Bergkameraden, eines Tages auch sein bester Freund, im ersten Schnee des Winters 1961, von Moll über diesen Hang gejagt, um dessen Mut zu proben. Der Schnee ist patzig, und viel zu hoch! Da geraten die ungeübten Beine übereinander! Wird er die Strecke durchstehen? Nein! Es kommt zum Sturz – ein Aufschrei! Auch das noch! Norman rutscht das Herz beinahe in die Hose. Die Väter, die sich nicht ausstehen können, werden geholt. Es setzt Ohrfeigen. Tränen zu Unrecht! Der herbeieilende Arzt diagnostiziert: Schienbeinfraktur! Das Ende! Er, Norman – schuldig gesprochen! Der Freund in Gips! Das Ende einer Freundschaft! Von da an war er wiederum wochenlang allein in seinem Reich, in sich, und mit sich beschäftigt, weit weg, Antarktis - während Winterstürme meterhohe Schneewechten aufgetürmt hatten, in deren gräulichen, unendlichen Gletscherspalten er tagelang als verschollen galt - stets aber rasch geborgen werden musste, wenn zu Tisch gerufen wurde. Darin verstanden die Eltern keinen Spaß!
Ach, nie wieder war das Leben so klar abgelaufen, so einfach, so unbeschwert wie in diesen Zeiten. Die hereinbrechende Nacht hatte die Dämmerung verschlungen. Moll fröstelte ein wenig. Er stand auf, schloss die Balkontüren bis auf einen Spalt und legte sich auf die schmale Couch in seinem Zimmer. Ohne hinzusehen ertastete seine rechte Hand ein Buch auf dem kleinen, gläsernen Beistelltischchen. Ja, jetzt musste man Licht machen, so ging es nicht! Moll suchte nach seiner Brille, fand sie in der Brusttasche seines Hemdes und setzte sie auf. Dieses Buch – ein Buch, in dem er seine Welt wiederfinden konnte, die ihm vorhin im Salon beinahe zu entgleiten drohte. Es amüsierte ihn - der Kanzler, der Sonnenkönig – es war die Seelenliteratur des Sonnenkönigs, fiel ihm ein. Ein Freund hatte einmal zynisch gemeint, das schau‘ ich mir an, wann er das gelesen hat! Moll verzog die Lippen zu einem Lächeln. Ja, es war ein Buch, mit dem bedeutende Männer gerne prahlten, es gelesen zu haben, um ihren literarischen Geschmack zu untermauern! Ihm war es völlig egal! Wenn sich jemand damit umgeben musste, dann bitte! Er selbst stolperte immer wieder leidenschaftlich über die seitenlange Einleitung, in der Verschiedenes geschah. Immerhin, verschwenderische siebzig Seiten, in denen Mannigfaches zu erfahren war, sicherlich, aber trotzdem wenig Inhalte, in ständigen Reprisen immer wieder darauf rekurrierend, als ob sich der Dichter daran nicht hatte satt schreiben können! Es folgten langatmige Herkunftsgeschichten, psychologisierte, charakterisierende Typologien, hinter denen die Geschichte plötzlich abzusinken drohte, um sich in der Folge in Metamorphosen zu verrennen. Jemand hatte einmal die Geduld und Ausdauer des Autors mehr gelobt als sein Talent, dieses umfassende Werk zustande gebracht zu haben. Trotzdem, die Handlungsarmut wog der Geistreichtum auf. Moll hatte schließlich selbst Hochachtung vor seiner eigenen Geduld, und er las ein paar Seiten vielleicht, täglich, wie – als ob man eben nur kostete, nicht zuviel davon, sich nicht zu überlesen, sodass es am anderen Tag auch noch reizvoll blieb, weiter zu lesen. Das hielt er schon seit Jahren so, immer in der Hoffnung, nie zu Ende lesen zu müssen.
Dem Ende wollte er ausweichen, wo immer es ging. Davor verschloss er sich und sein Herz, überließ es großzügig denen, die sich am Fertigdenken delektieren konnten, denen es nichts ausmachte, sofort darauf gleich ein anderes Buch zu lesen. Nicht er! Ihm war es ein Gräuel auch nur daran zu denken, f e r t i g- lesen zu müssen, schließen zu müssen! Er kannte den Inhalt, das war genug! Diese Welt war für ihn genauso wenig fertig, wie jener Roman vollendet schien – vielleicht gar nicht zu Ende gedacht war. So hielt es Moll mit diesem Buch, zumindest mit seinem ersten Teil, seit Langem stets treuer Reisebegleiter auf seinen zahlreichen Reisen. Eher war es Molls mangelnder Konzentration zuzuschreiben, dass er nur sehr flüchtig über die schon so oft gelesenen Seiten streifte, als plötzlich Sybilla Trinks ins Spiel trat. Die Einbildungskraft, im weiteren Sinn Molls Vorstellungsvermögen, vielmehr die schöpferische Neubildung dessen, was er gesehen, wahrgenommen, gefühlt hatte, brachte sie wiederholt hervor, eine Reproduktion gleichsam ihres Bildes, ihrer Gestalt, alles – viel mehr noch, phantasieverbrämt, gar ausschweifend. Diese Einbildungskraft drängte sich ihm auf, verschonte ihn immer seltener. Er war bedacht auf seinen regen Geist, um dessen Einschränkung er in jeder Phase seines Lebens äußerst besorgt war, ihn bis zuletzt zu erhalten! Sybilla Trinks! Ob sie schon unten im Salon war? Er könnte doch ganz einfach zum Flügel gehen, ganz hinten stand einer, zugedeckt mit einem weißen Leintuch, und würde ihr zu Ehren – nicht irgendein - ach, wie er dieses Geklimper schon hasste! Wohltemperiertes Stufenbarren! Pianisten – wie Sand am Meer, trainiert wie die Affen! Prüfsteine lähmender Fingergymnastik, die jeder beherrschen musste, damit auch der Laie sofort erkennen konnte, seht her! Das ist einer, der kann’s aber. Dieses Klavier! Nein, das war kein Instrument! Doch, ein Folterinstrument, für Hand und Ohr! Töne – alle nicht formbar - kein Vibrato! Nichts! Ja! Piano Forte! Das schien ihm tref-fender. Einzige Bezeichnung für seine dynamische Armut! Dieser Begriff gewährte ihm inbrünstig Genugtuung, wenn er dieses Instrument beleidigt sehen wollte. Nein, nein, er dachte daran, Trinks Illusion mit seinem Spiel zu nähren, sie emporzuheben in einem ansteigenden Crescendo, um der nüchternen Wirklichkeit zu entfliehen!
Ein Tastenspiel war gefragt – perlender Zaubertrank zwischen Illusion und Desillusion - künstlerische Phantasie - mehr oder minder gelenkte erfinderische Vorstellung, welches der Einfühlung bedurfte - jener Einfühlung, von der er sich erhoffte, Sybilla Trinks würde ihn erhören. Erhören und gleichzeitig auch verstehen, was mit Worten nicht zu beschreiben war – nonverbale Anbetung, durch grünen Chiffon inspiriert, nicht bloß als eine Leistung eines Gefühls, nein – sondern durch teleologisch eigenschöpferischen Erfindungsgeist, zielgerichtet auf ihr – Herz! Nun hieß es, bereit sein zu einer Zwischenakteinlage improvisatorischen Könnens! Sie musste seiner Komposition verfallen, darin lag seine einzige Chance, das war ihm klar. Zunächst nur ein paar Takte, ganz nebenbei, bis zum Cantabile vielleicht. Tempo rubato – und trocken, ganz trocken – ohne Pedal. Danach langsam zwei drei Akkorde, aus dem Gedächtnis – vielleicht eine Wiederholung, gut, zweimal hintereinander, ganz entspannt! Die rechte Hand, wenn sie müde wurde von den Quintolengirlanden – nachlassen, einfach den Druck nachlassen, aber, der Bedeutung des kleine Fingers und des Daumens mehr Gewicht beilegen! Jetzt musste der Zeitpunkt für das Pedal kommen – schnelle Auf-und-Abwärtsbewegung – für besondere Effekte immer etwas früher aufheben! Zyklisch spielen! Zirkulieren! Sie würde es nicht merken, dass wiederholt wurde, nein, sicher nicht. Die Linke musste ein harmonisches Fundament finden, eine einfache Struktur sogar, brauchte nicht sonderlich kompliziert sein. Das war Aufgabe der Rechten! Darüber erhob sich die Rechte! Keine Triller! Kommt überhaupt nicht in Frage! Triller sind kindisch und signalisierten bloß unnötig kadenziöses Getue. Oder vielleicht doch etwas davon nehmen? Invertierten Mordent vielleicht? Hände und Gehirn, beides ununterbrochen in Bewegung, in Aufruhr, könnten unnötig durcheinander geraten. Nein, dann lieber Arpeggi! Aufeinanderfolgend - wären vielleicht besser!