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Kapitel 4

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Molls zweites Ich.

Moll erwachte, als die nahen Kirchenglocken läuteten. Er setzte sich jäh auf, nahm die Brille ab und rieb seine Augen. Neunzehn Uhr zwanzig. Um Gottes Willen! Abendessen! Seit einer dreiviertel Stunde schon! Sybilla Trinks könnte bereits gegessen haben. Vielleicht hatte sie danach ein Rendezvous? Oder sie aß auswärts? Konnte ja sein. Rabitsch hatte so etwas ja angedeutet, dass manche das taten. Oder? Und woher wusste der überhaupt, dass er bloß ein paar Tage zu Erholung hier war, fragte er sich? Außer mit Trinks hatte er mit niemandem darüber gesprochen. Er stand auf, ging zum Kleiderschrank und wechselte seinen leicht zerknitterten, hellen Leinenanzug gegen eine graue Hose und ein dunkelblaues Abendsakko. Die beigen Leinenschuhe vertauschte er gegen schwarze Lederstiefletten mit Zipp an den Innenseiten. Ach ja, die Frisur! Etwas Gel? Viel war da nicht zu machen. Was noch? Hugo Boss! Nicht zu aufdringlich! Er machte das Licht aus und trat auf den Flur. „Guten Abend!“, ertönte plötzlich die leise Stimme eines Gegenübers. Eine jugendliche offensichtlich, soweit Moll das feststellen konnte, denn die Beleuchtung war äußerst spärlich. „Sie gehen auch zum Abendessen?“ Der junge Mann vor Moll nickte artig und bot ihm höflich an, vorzugehen. „Vielen Dank“, sagte Moll, „aber Jugend vor Alter! Sie sind doch sicherlich hungrig? Sind Sie zur Kur? Ach ja, Norman Moll, wenn ich mich vorstellen darf.“ Moll reichte ihm die Hand. „Ich bin – ja, genau, zur Kur. Sehr angenehm, Johannes Manon“, stellte sich dieser vor. „Na, dann wollen wir“, sagte Moll. Sie schritten die Treppen hinunter zum Salon. Moll beobachtete den jungen Mann mit seltsamer Neugier. Sein Gang, der schlanke Körper, die zarten Gliedmaßen. Etwas längere Haare, dunkelbraun, ein kleiner S-Fehler, wie er vorhin beim Sprechen bemerkt hatte. Alles kam ihm irgendwie vertraut vor an Manon. Als hätte er ihn schon einmal gesehen. Unmöglich. Ein Déjà-vu! Beinahe schon, wie gestern bei der Trinks, dachte Moll. Unsinn. „Langsam werde ich alt“, sagte er zu sich.

„Ich habe nicht ganz verstanden“, sagte Manon. „Nein, nein. Ich habe nur für mich – sie verstehen“, lachte Moll, als sie vor der Salontür angekommen waren. Er öffnete, und ließ Manon vor-angehen. An mehreren kleinen Tischen, weiß gedeckt, mit frischen Nelken in durchsichtigen Vasen, saßen Rabitsch und eine Dame, links davon der Graf, alleine. Dahinter Sybilla Trinks, gleichfalls ohne Be-gleitung. Rechts von Rabitsch waren noch zwei weitere Tische gedeckt. Einer für Moll, und einer offensichtlich für Johannes Manon.

An der Fensterfront, etwas isoliert, das Tischchen von Frau Irene Hase und einem Professor Ebner. Fräulein Trixi ging auf Moll zu und wies ihm mit ihrem entzückendsten Lächeln seinen Platz zu. Danach begleitete sie Johannes Manon zu seinem. Die Anwesenden hatten den Neuankommenden wohlwollend zugenickt, Sybilla Trinks ganz besonders freundlich ihm, Moll. „Ach, Fräulein Trixi, würden Sie so freundlich sein, und Frau Trinks fragen, ob ich ihr Gesellschaft leisten dürfte?“ „Aber gerne!“, antwortete diese und ging auf deren Tisch zu. Trinks ahnte sofort, worum es ging und winkte Moll ganz einfach zu sich, dessen Herz bis zum Hals klopfte. Sie war noch viel attraktiver, als er sie sich in seinem Zimmer vorgestellt hatte. Auch hatte sie ihr Kostüm gegen eine dunkle Hose mit dazugehöriger Jacke vertauscht, war geschminkt und hatte offensichtlich frisch gewaschenes Haar, das in der dezenten Beleuchtung des Salons etwas dunkler schien als am Nachmittag, und jetzt kaum Spuren grauer Strähnen aufwies. Da saßen sie nun alle, im Schutze der vergilbten Götter, von Zeus und Hera be-wacht, während von hoch über dem Salatbüffet Poseidon und Hermes, jenes Paar, welches noch am besten erhalten geblieben war, streng auf alle herabblickten. Die meisten der Gäste, zwischen denen Fräulein Trixi zuckersüß lächelnd hin und her huschte, hatten schon ihre Vor-speisen gegessen. Emsig servierte sie mal dies und das, hier etwas Gebäck, dort ein Mineralwasser, und Fräulein Anna, der gute Hausgeist, stand ihr hilfreich zur Seite, wenn die Ungeduldigsten allzu heftig Druck machten.

„Sie trinken keinen Wein?“, frage Sybilla Trinks. „Nein. Ich finde, bei Bier kann man sich auch ganz gut unterhalten. Es ist irgendwie – geselliger, ja, finde ich. Nein?“ „Möglicherweise haben Sie Recht“, lächelte sie. „Immerhin ist weniger Alkohol drinnen, da bleibt man länger klar im Kopf“, bemerkte Moll. „Hm. Ich werde leicht müde davon.“ „Zugegeben, ich auch“, sagte Moll und schmunzelte, „aber es beruhigt die Nerven. Vom Wein – also, da werde ich so aufgeputscht – irgendwie, kommt mir immer vor.“ Fräulein Trixi brachte eine Halbe Bier. Moll bedankte sich und führte das Glas sogleich zum Munde. „Prost!“, sagte Sybilla Trinks, und hob gleichzeitig auch ihr Glas Rotwein. Moll wischte den Bierschaumbart über seiner Oberlippe weg und stellte das Glas ab. „Wissen sie“, begann er, Bier ist ein archaisches Getränk, das die alten Ägypter und auch schon die Mesopotamier gekannt haben, und gebraut haben. Ich habe eine gewisse Ehrfurcht davor, wenn ich an seine Eigenschaften denke, ehrlich! Es stillte den Hunger – zur Fastenzeit, in den Klöstern, also da wurde oft tagsüber nichts gegessen, jedoch erhielt jeder Mönch zwei bis drei Maß Bier zugeteilt. Flüssiges Brot, sozusagen.“ Trinks lachte. „Du lieber Himmel! Da waren die ja den ganzen Tag betrunken, was? Ohne zu essen?“ „Kann schon sein. Ich denke, dazwischen haben sie auch manchmal geruht, nicht? Naja, wie auch immer. Tatsache ist, Bier ist äußerst nahrhaft. Und wenn man nicht zu viel davon trinkt, regt es nicht nur hervorragend den Stoffwechsel an, sondern kann auch gewichtsvermindernd sein.“ „Also, davon möchte ich Ihnen abraten. Ein paar Kilo täten Ihnen wirklich nicht schaden!“, sagte sie lächelnd. Moll tat so, als hätte er nicht verstanden, beobachte aber in einem fort Rabitsch am Tisch vor ihnen.

Es war dieser Blick, den Rabitsch zwischendurch auf ihn und Trinks zu werfen schien, der ihn fürchterlich störte, diese unverschämte Selbstsicherheit, die von ihm ausging, einfach alles! Moll fühlte sich von ihm – ausgezogen, ja, beinahe nackt, irgendwie - dachte er. Unter seinen Blicken fühlte er sich so, als ob er nichts vorzuweisen hätte. Als ob fünfzig Jahre an ihm vorübergegangen wären, in denen er das ewige Kind geblieben sein mochte, nicht der Erwachsene, der hier saß. Andererseits, was hätte dieser schon - ? Als er ihn am Nachmittag im Salon so ausgefragt hatte – ihn, Moll - er wusste kaum zu antworten – ein Verhör beinahe! Er selber das Kaninchen, paralysiert, vor der Schlange – der Schlange Rabitsch. Welchen Beruf mochte er haben? Geschäftsmann vielleicht. Möglich. So glatt, wie er war. „Ach, sagen Sie, die Frau neben Rabitsch – das ist wohl seine Gattin, nicht?“, fragte er rasch. Trinks, die ihnen den Rücken zukehrte, sah sich kurz um und antwortete: „Nein, das ist seine – Liaison!“ Sie sah Moll dabei tief in die Augen. „Was?“ „Ja. Seine Gattin ist oben, auf ihrem Zimmer. Sie pflegt nie, hier bei uns zu essen. Auch Frühstück bekommt sie hinauf serviert. Ich denke, so krank ist sie wieder auch nicht. Oder vielleicht doch? Man weiß es nicht so genau. Er benimmt sich ihr gegenüber jedenfalls unmöglich. Und seine – also, die hier, das ist Linda Maar. Aus – äh, ich weiß nicht, woher. Nach der Kur hier fährt er mit ihr nach Brioni. Jedes Jahr um die gleiche Zeit. Seit Langem schon.“

Moll schüttelte den Kopf. „Das ist ja nicht zu glauben“, sagte er leise, „und sie? Seine Gattin? Lässt sich das gefallen? Vor allen Leuten hier, ich mein - wieso wissen Sie das eigentlich?“ „Das weiß hier jeder“, sagte sie, „aber wer sollte etwas dagegen haben?“ „Aber – seine Gattin, die .....“ „Die sagt gar nichts. Ein herzensguter Mensch ist sie, ein Engel. Viel zu schade für dieses Ekel. Wer weiß, wozu es gut ist. Ich mache mir wenig Gedanken darüber.“ Moll starrte auf Rabitsch, der sich ausgezeichnet zu unterhalten schien, sein Glas Rotwein schwenkte und aufgekratzt mit Linda Maar konversierte, dabei betrieb er mit seinen Händen eine auffallend aufwendige Gestik. Schien alles furchtbar wichtig zu sein, was er sagte, und vor allem, wie er es sagte. Schade, dass man an diesem Tisch hier nichts verstand, was er denn so Wichtiges zu erzählen hatte, dachte Moll. Sybilla Trinks stocherte lustlos in ihrem Salat, als sie Moll so nebenbei fragte: „Und? Sind Sie eigentlich solo?“ Irgendwann hatte er diese Frage ja erwartet, und insgeheim sogar gehofft, sie würde sie nie stellen. „Sagen wir so“, antwortete Moll, „ich bin nicht ganz allein. Genügt Ihnen das?“ Trinks kaute etwas länger an einem Salatblatt. „Ich habe das Gefühl, dass Sie sich ungern festlegen. Vielleicht sogar ungern binden? Hab’ ich Recht?“ „Könnte sein. Ja. Vielleicht.“

Moll atmete tief durch. Immer, wenn sich ein Gespräch unmittelbar auf seine Person zu richten begann, spürte er diese Enge in der Brust, einen Druck, als wollte ihm jemand direkt ans Herz. Aber ich lasse es nicht zu, dachte er. Sybilla Trinks musste plötzlich lachen. „Als ich Sie vorhin mit dem jungen Mann da hereinkommen gesehen habe, dachte ich im ersten Moment, das wäre Ihr Sohn. Ja! Irgendwie sehen Sie sich ähnlich. Er ist ja schon länger hier, und ich habe ihn öfters beobachtet, wie er geht, spricht, die Hände bewegt. Aber jetzt, wo ich Sie kenne – also, diese Ähnlichkeit – verblüffend, wirklich!“ Moll schien verwirrt. Wo saß doch dieser Manon gleich? Ach ja, gleich rechts von ihnen. Merkwürdiges Profil. Sieht mir überhaupt nicht ähnlich. Vielleicht sehe ich mich zuwenig oft von der Seite, überlegte er. „Ich glaube, Sie sind ein Mensch, der gerne lange überlegt, bevor er sich entscheidet, wie? So jemand, der sich erst später zu etwas entschließt als andere, richtig?“ „Weiß nicht“, sagte er etwas abwesend, „war das ein – Kompliment?“ „Ja, wenn Sie das so sehen?“, lächelte Trinks und zeigte ihre herrlichen Zähne. Dann nippte sie ein wenig am Wein. „Wenn sie mich entschuldigen!“ Moll stand auf, und ging an Manon vorbei, den er sehr genau beobachtete, in Richtung des Salatbüffets.

Zu dumm, denn gleich mit ihm war auch Rabitsch aufgestanden, ebenfalls dorthin. Das hätte er gerne vermieden, ärgerte sich Moll. „Na, wie ich sehe, haben Sie ja sofort Anschluss an unsere illustre Runde gefunden wie?“ Rabitsch lachte unangenehm laut, sodass Moll das Gefühl hatte, alle Blicke auf sich gerichtet spüren. Konnte denn dieser Mensch nicht etwas gedämpfter sprechen? Man war schließlich nicht auf dem Marktplatz! „Sagten Sie vorhin nicht, Sie kämen schon länger hierher? Wie kommt es, dass ich Sie noch nie hier gesehen habe?“, drängte ihn Rabitsch. Sein unverschämt lautes Organ machte Moll völlig konfus. Jetzt mussten es alle gehört haben, und er – durfte hier Rede und Antwort stehen, und dann wüssten alle, dass er – „Ja, ja. Ich glaube, schon seit - warten Sie – heuer werden es zwölf Jahre etwa. Aber ich bin meistens im August hier.“ „Aha, ja, da sind wir schon wieder weg. Brioni, Sie verstehen. Hier ist es zu kalt. Einmal regnet es, dann scheint wieder die Sonne, manchmal schneit es sogar. Wer soll das aushalten? Wir lieben die Sonne und das Meer!“

Wer, wir? Seine Frau war damit wohl nicht gemeint, dachte Moll. Dieser aufgeblasene Kerl, mit seiner ewigen Schalkrawatte, dem englischen Sakko. Dieser Pseudobaron! Genau, jetzt hatte er endlich einen Begriff für ihn gefunden. Der Baron! Von jetzt an würde er ihn überall den Baron nennen. Das passte zu ihm, zu seiner Überheblichkeit! „Was nehmen Sie? Von den Karotten? Ist gut für die Augen, sagt mein Arzt. Sehen Sie, ich bin zweiundsiebzig und brauche die Brille doch nur zum Lesen. Alles wegen der Karotten! Ich habe immer viel Gemüse und Obst gegessen! Das hält fit. Sollten Sie auch probieren. Sie sind ja noch jung. Ihr Jungen esst immer nur so ungesunde Sachen. Viel zu viel Fleisch, sag’ ich immer! Und zu viel Alkohol! Mein Sohn, der ....“ Moll fühlte die Schweißtropfen auf seiner Oberlippe. Er hatte mit dem roten Rübensalat in die grünen Gurken hineingepatzt, worauf sich eine dünne Spur wie der sprichwörtliche rote Faden durch das Grün zog. Ärgerlich, wirklich, dabei hatte er so aufgepasst, und immer einen anderen Löffel genommen. Nur, dieser Rabitsch, der verwirrte ihn völlig. Er hatte das Gefühl, plötzlich nicht mehr selbständig denken zu können. Das erledigte alles Rabitsch für ihn. Dieser Mensch legte sein Gehirn lahm. „Ha ha ha!“, lachte Rabitsch. “Na, da haben Sie ja was angerichtet. Geh’, Fräulein Trixi!“, rief er laut, dass sich alle nach ihnen umdrehten, „wir haben hier ein kleines Problem! Vielleicht könnten Sie...“. Fräulein Trixi eilte sogleich herbei. „Gehn Sie, sind Sie so lieb, dem lieben Herrn Moll ist da ein kleines Missgeschick passiert. Vielleicht könnte man den Gurkensalat da auswechseln? Das schaut nicht so gut aus, bitte, Ja?“ Fräulein Trixi nickte artig und nahm die verunreinigte Schüssel sofort mit in die Küche.

Moll wollte eigentlich sterben, und nur die freundlichen Blicke, die ihn von Trinks Tisch her trafen, hielten ihn davon ab, augenblicklich und für immer im Parkett zu versinken. Er holte ein Taschentuch aus seiner Hosen-tasche und tupfte damit seine feuchte Stirn. „Lassen Sie es sich schmecken!“, lachte Rabitsch und kehrte wieder an seinen Tisch zurück. Moll, mit zittrigen Händen, hob sein Salatschüsselchen hoch, um sicher zu sein, dass auch nichts tropfte und ging wie gelähmt an seinen Tisch zurück, völlig verwundert darüber, dass er nach dieser Blamage überhaupt noch selbständig gehen konnte, und seine eigenen Beine seinem Willen gehorchten. Sybilla Trinks hatte ihre Arme auf dem Tisch aufgestützt, während sich ihr Mund in ihre wie zum Gebet gefalteten Hände schmiegte, und lächelte still vor sich hin. Moll war schweißgebadet und setzte sich, das volle Schüsselchen vorsichtig vor sich auf den Tisch stellend. Dann nahm er einen großen, langen tiefen Zug aus dem Bierglas. Sie beobachtete ihn sehr lange und sprach kein einziges Wort. Die Schweißtropfen auf seiner Stirn glänzten wie Diamanten und gaben ihm beinahe den Ausdruck des Schmerzens-mannes bei Tizian, fehlten nur noch die Attribute, Dornenkrone und Ahornstab. Moll wagte kaum, den Blick zu heben und er fühlte jenen der anderen schwer in seinem Nacken lasten. „Was haben Sie denn?“, fragte Sybilla Trinks. Gott, ist diese Frau naiv, dachte Moll, und zum ersten Mal spürte er, dass sie ihm plötzlich ganz unsäglich auf die Nerven ging. Warum musste er sich ausgerechnet zu ihr setzen? „Ja, haben Sie nicht gesehen, wie er mich gedemütigt hat, vor allen Leuten?“ „Wieso denn? Mir ist nur aufgefallen, dass Sie etwas länger gebraucht haben, ihre Salatschüssel zu füllen“, sagte sie beinahe belustigt. „Ach was!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie sind ja richtig leicht aus dem Konzept zu bringen!“ setzte sie nach. Moll kostete vom Salat. Mit kauendem Mund meinte er: „Mir ist nichts so zuwider, wie enge, heiße Räume!“, und er lockerte ein wenig seine Krawatte, die sich wie ein Seil um seinen Hals zu legen drohte. „Enge Sitzreihen! Im Kino! Oder gar im Flugzeug! Nein, fliegen, dass kann und will ich nicht mehr. Da bekomm’ ich Zustände, sag’ ich Ihnen. Ganz fürchterlich!“ „Also Klaustrophobie?“ „Quatsch! Ich will einfach mit niemandem mehr meinen Platz teilen müssen. Wie komm’ ich denn dazu? Es gibt jede Menge Platz! Warum muss ich ...?“

Er hielt inne. Jetzt war es wohl passiert. Sie musste sich bereits das fürchterlichste Bild von ihm gemacht haben. Ja, jetzt war es draußen. Moll, der ewige Nörgler und Meckerer! Das Bild vom sensiblen interessanten distinguierten Gentlemen war dahin! Restlos! Stattdessen hatte er den Choleriker hervorgekehrt! Und Schuld hatte einzig und allein der Baron! Warum bin ich nicht auf meinem Zimmer geblieben? Oder hätte ich mich besser zu Manon setzen sollen? Er war im Zweifel, ob dieser Abend überhaupt noch zu retten war. Er dachte daran, schnell von sich abzulenken, daher sagte er: „Der Baron – ein seltsamer Mensch eigentlich, finden Sie nicht?“ „Was denn für ein Baron?“, fragte Trinks neugierig. Moll deutete mit seinem Kopf hinüber zu Rabitsch. Sybilla Trinks lachte auf. „Ach, haben Sie ihm einen Titel verschafft? Also, das finde ich großartig, wirklich!“, und sie lachte aber-mals herzlich. „Sie sind schon wirklich auch ein komischer Kauz, Herr Moll!“, sagte sie, „aber ein liebenswerter!“, und blickte ihm abermals tief in die Augen. Was hat sie vor, dachte er? Was soll das jetzt? Ich bin doch durchgefallen, oder? Ich muss bei ihr durchgefallen sein! Das Gefühl kenne ich. Ich – ich – ich kann nicht! Dann lassen sie`s, hatte der Professor damals zu ihm gesagt, lassen sie es einfach! Moll spürte neuerlich, wie seine Stirn feucht wurde. Da, plötzlich der erlösende Auftritt des Verwalters. Gott sei Dank! Ich bin gerettet!

Jetzt nimmt alles eine völlig andere Wende - und ich brauche gar nichts dazu tun, fuhr ihm durch den Kopf. Der Verwalter Franz Eder hatte den Salon mit freundlichem Lächeln betreten und begrüßte die Gäste mit den Worten: „Verehrte Herrschaften! Erlauben Sie mir vorerst einmal, ihnen einen guten Appetit zu wünschen, und zwar auch denjenigen, die, hoffentlich nur vorübergehend, auf Diät gesetzt sind!“ Man applaudierte. „Und jetzt darf ich Ihnen mitteilen, dass wir heute Abend eine kleine Tanzveranstaltung geplant haben, zu der ich sie alle sehr herzlich einladen möchte, um damit das kommunikative Element unseres Hauses zu unterstreichen. Zu diesem Zweck wird uns ein beliebtes Unterhaltungsensemble die Ehre geben. Manche von Ihnen kennen die Kapelle ja bereits von vergangenen Veranstaltungen. Und nun zum etwas nüchtereren Teil meiner kurzen Rede, ich darf die Neuankömmlinge ersuchen, hernach in mein Büro zu kommen, damit wir auch den notwendigen und leider unerlässlichen Papierkram erledigen können. Recht herzlichen Dank! So, und jetzt lassen Sie sich bitte nicht weiter stören. Ich wünsche ihnen einen wunderschönen Abend.“ Applaus. „Na bitte!“, freute sich Sybilla Trinks, „der Abend ist gerettet. Was sagen Sie?“ Norman Moll nickte stumm. „Ja, tanzen Sie nicht gerne?“ „Oh, doch, doch. Ich freue mich!“, sagte er nachdenklich.

Irgendjemand hatte die Türen zur Terrasse geöffnet. Milde Luft strömte in den schwülen Raum und Norman Moll atmete tief durch. Es war, als hörte man von Ferne leises Donnergrollen. Ein leiser Windhauch bewegte sanft die seidenen Vorhänge, kaum merkbar. Die Ankündigung des Verwalters hatte zwar nicht bei allen Gästen helle Begeisterung her-vorgerufen, doch immerhin die Gemüter im Salon so weit bewegt, dass an allen Tischen rege Unterhaltung entstanden war. Rabitsch war aufgesprungen und hatte grinsend ein paar Tanzschritte versucht, während ihm seine Gefährtin ein Kussmündchen zuschickte. Moll wandte sich angewidert von ihm ab und verdrehte die Augen. Nur der junge Manon blickte gelangweilt in die Runde. Sybilla Trinks aß die Reste ihres Salates. Moll fühlte, wie er sie bereits um die schmale Taille nahm und im Sambaschritt auf die Terrasse entführte. Sie hatte sich nicht allein durch ihre textile Inszenierung zu einem erotischen Objekt für Moll gemacht, oder doch, in gewisser Weise vielleicht, und Moll stellte sich naiv genug, um sich von ihr umgarnen zu lassen. Es bedurfte allerdings keines Dekolletés, archaischen Adelsprivilegs, auch High Heels waren nicht vonnöten, nein, Sybilla Trinks hatte sich in keiner Weise durch Übertreibung weiblicher Attribute zum Super-weib transformiert, hatte es auch nicht darauf angelegt, ihren Körper zu überzeichnen, durchaus nicht, sondern - es lag eher an der Lust des Schauens, vor allem aber am Geruch, an Haar und Körper, wodurch Moll so getrieben schien. „War das alles, was Sie essen?“, fragte sie. Moll zuckte mit den Augenlidern. „Ich, äh, pflege auch abends eher wenig zu nehmen“, sagte er beiläufig. „Na, dann! Ich hole mir meinen Umhang. Es scheint ein wenig kühl zu werden.“ Sie stand auf und verließ den Salon.

Frau Haase und Professor Ebner waren mit dem Essen fertig. Er stand auf, trat hinter ihren Sessel und war ihr beim Aufstehen behilflich. Beide verließen den Salon. In der Zwischenzeit hatte sich Traunstein mit Manon unterhalten, jetzt eben im Begriff, gemeinsam auf die Terrasse zu gehen, um ein wenig frische Luft zu atmen. Im Vorbeigehen warfen sie Moll einen freundlichen Blick zu, beinahe auffordernd, mitzukommen. „Lieber Freund“, sagte der Graf, „wollen Sie uns nicht begleiten?“ Ja, er wollte schon. „Gerne! Einen Augenblick!“, antwortete Moll und beobachtete Manon und den Gra-fen, als sich die beiden durch die mittlere Terrassentür nach draußen begaben. Moll dachte an den Baron. Vielleicht war auch nur alles ein Missverständnis, und er hätte unrecht, wenn er Rabitsch verurteilte. Niemand kannte die näheren Verhältnisse, die dahin geführt hatten, und so beschloss er, sich für heute vorzunehmen, an das Gute zu appellieren und das Positive zu erkennen. Man war eben sensibel und empfindlich bei Dingen, welche die Norm des Verständlichen bei Weitem überschritten. Das Alter, dachte Moll. Ich werde alt, senil und intolerant, ja. Meine Welt – mein Horizont wird kleiner. Früher, da hätte ich mir nichts dabei gedacht. Das war in Ordnung. Jeder, wie er konnte. Aber – nein, es war nicht recht, es widersprach dem Reglement des Ästhetischen, vor allen Leuten hier – und alle wussten es. Der Baron wurde zu einer Konstante, dessen war er sich bewusst. Und er, Moll, war – ich bin der unproblematischste Mensch von der Welt, dachte er und stand auf, um langsam nach draußen zu gehen.

Der Besucher

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