Читать книгу Daniel & Andiswa - Norbert Kuntz - Страница 8
Planten un Blomen
ОглавлениеBei uns in Hamburg treten im Park höchstens einmal lokale Künstler auf der kleinen Freilichtbühne auf und im Sommer gibt es ein kleines Jazz-Festival, aber nicht mit internationalen Größen, sondern mit Künstlern aus dem Norden. Klein aber fein, wie man so schön sagt. Doch ich liebe den Park mitten in der Stadt und verbringe einen recht großen Teil meiner Freizeit dort, sicher auch, weil wir in unserer Hamburger WG nicht einmal einen Balkon haben, wo wir uns im Sommer aufhalten können.
Das ist jedoch alles kein Vergleich zum Botanischen Garten Kirstenbosch!
Ich weiß gar nicht, wieso ich es bei meinem Volontariat zur Fußball-WM 2010 nicht geschafft habe, mir diesen wirklich einmaligen Park am Fuße des Tafelbergs wenigstens einmal anzusehen. Ich war wohl zu sehr auf Fußball und die dazu gehörigen Hintergrundgeschichten fixiert.
Ich hatte die Konzertkarten bekommen und mich die letzen beiden Wochen täglich mehr auf mein Date mit Andiswa im Botanischen Garten gefreut. Während dieser Zeit hatten wir uns immer nur recht kurz in der Akademie getroffen. Sie hatte viel für ihr Studium zu arbeiten. Ich war begeistert von den Fotos der Mädchen vom RV United All Girls Soccer Team.
„Und das alles mit dieser alten Kamera!“ So kommentierte Andiswa meine Begeisterung für ihre Fotos. Ich hatte wohl einmal mehr wieder diesen erstaunten, fragenden Gesichtsaudruck, denn sie grinste mich an.
„Du bist wohl nicht auf dem Laufenden, was die heutige Kameratechnik angeht, oder? Meine Spiegelreflex, mit der ich arbeite, ist schon fast sechs Jahre alt, ein Oldtimer bei der heutigen rasanten Entwicklung.“
Ich zeigte ihr meinen Apparat, mit dem ich nicht nur privat, sondern auch hin und wieder für das Magazin Aufnahmen mache und stellte fest, dass der auch nicht wesentlich moderner sei als der Ihre.
„Du bist ja auch kein Profi und studierst nicht mit all diesen reichen Kindern hier! Die gehen jedes Jahr zu Papi und bekommen dann zu Weihnachten oder zum Geburtstag immer das Neueste vom Neuesten geschenkt. Und mit denen muss ich hier an der Akademie konkurrieren. Und glaube ja nicht, dass die Professoren das berücksichtigen. Die interessiert es nicht, mit welchem technischen Equipment du arbeitest. Da zählt nur, was am Ende dabei raus kommt!“
Oha. So hatte sie sich bisher noch nie ereifert. Da hatte ich gerade eine neue Seite an ihr kennen gelernt. Leider blieb uns keine Zeit dieses Thema zu vertiefen, da sie wieder in den Unterricht musste, aber ich war mir sicher, dass wir darüber noch ausführlicher sprechen würden.
Aber Kirstenbosch, das sollte ganz privat werden, keine Gespräche über die Arbeit, so hoffte ich. Ich wollte diesen Sonntag mit Andiswa einfach nur genießen!
Meine Wohngemeinschaft hatte mich perfekt für den Kirstenbosch-Tag ausgestattet. Alibaba lieh mir seine elfenbeinfarbene Picknick-Kühlbox, mit ganz edler Ausstattung: zwei Weingläser, Besteck, Teller, Schalen und Kühlelemente. Clarence steuerte seine Picknickdecke mit Aluboden – „das Gras in Kirstenbosch ist immer etwas feucht“ – bei und Patrick hatte eine praktische Regenplane im Angebot – „Kapstadt, das sind vier Jahreszeiten an einem Tag, da musst du auf jede Eventualität vorbereitet sein.“
Beim Einkauf im Supermarkt an der Ecke waren die Drei auch behilflich, obwohl da natürlich jeder seinen eigenen Geschmack zur Geltung bringen wollte. Clarence wählte den Wein aus, einen Pinotage aus Stellenbosch; Alibaba legte verschiedene scharfe Cracker und passenden französischen Käse in den Einkaufswagen, während Patrick für die gesunde Abteilung, also Obst und Oliven zuständig war. Ich durfte dann zumindest noch meinen heiß geliebten Appletiser, hundertprozentigen kohlesäurehaltigen Apfelsaft, beisteuern. Als Autofahrer würde ich es bei einem Glas Wein belassen müssen, da bin ich ganz deutsch: kein Alkohol am Steuer! Mit all diesen Dingen wurde die Kühlbox gut gefüllt und einem leckeren Picknick steht schon einmal nichts mehr im Wege.
Musiktechnisch habe ich mich ebenfalls gut auf mein Date vorbereitet. Dank YouTube kann ich die bekanntesten Songs der Parlotones schon leidlich mitsingen. Ich freue mich schon Andiswa damit überraschen zu können. Hoffentlich empfindet sie meinen Gesang nicht als störend. An den Sänger der Band, Khan Morbee, reicht meine Stimme natürlich bei Weitem nicht heran, aber in Hamburg hatte ich während meiner Studienzeit immerhin im Journalistenchor gesungen.
Endlich klingelt es an der Wohnungstür, und außer dem meinen schauen natürlich drei weitere neugierige Köpfe aus ihren Zimmern heraus. Meine Mitbewohner hoffen, einen Blick auf die junge Frau zu erhaschen, die mein Herz so blitzartig getroffen hat und ständig in meinen Gedanken herumgeistert. Es gab in den letzten beiden Wochen kein anderes Thema bei unseren gemütlichen Abenden auf der Couch, ebenso wie im Pub um die Ecke, wo wir uns hin und wieder auf ein Bier treffen.
Jetzt zahlt sich aber meine gute Vorbereitung aus. Alle Dinge, die wir fürs Picknick benötigen, sind schon unten im Auto verstaut und so braucht Andiswa sich nicht in den obersten Stock des Appartementhauses zu bemühen, was ich ihr über die Gegensprechanlage mitteile.
Besonders Clarence zieht daraufhin eine deutliche Schnute.
„Du hättest sie uns ja nun wirklich endlich mal vorstellen können, deine Fotografin! Wir haben dich liebestrunkene Quasselstrippe immerhin in den letzten Wochen jeden Abend ertragen müssen, dazu noch das ständige Gedudel der bekanntesten Lieder der Parlotones. Und dann haben wir dir auch noch geholfen, alles fürs heutige Date perfekt vorzubereiten. Wehe, wenn du uns nicht nachher alles in allen Einzelheiten berichtest, du Journalist!“
„Bei euch komme ich mir ja vor wie bei den Kolleginnen von der Klatschpresse – wusste gar nicht, dass Männer auch so neugierig sein können!“
Gut gelaunt lasse ich die Drei in ihren Zimmertüren stehen und laufe Push me to the Floor summend die ganzen Etagen über die Treppe hinunter. Das ist meist schneller, als den in die Jahre gekommene Aufzug zu nehmen, und entspricht auch viel mehr meiner Stimmung, die sich noch weiter aufhellt, als ich Andiswa unten vor dem Haus stehend erblicke.
Sie trägt ein atemberaubendes ärmelloses schwarzes Kleid mit einem Muster aus angedeuteten großen weißen Blüten und einem unverschämt tiefen Ausschnitt. Ich weiß gar nicht, wo ich hingucken soll! Oder erwartet sie etwa, dass ich mit meinen Augen ihre wohl geformten Brüste umkreise? Zum Glück gibt es noch etwas ebenso Auffallendes: ihre Frisur! Sie muss den ganzen gestrigen Samstag beim Frisör verbracht haben, denn auf ihrem Kopf befindet sich ein regelrechtes Kunstwerk. Ihr krauses Haar ist über den ganzen Kopf geflochten und zwar in der Art eines Schachbretts, also die Flechtzöpfe laufen von links vorn nach rechts hinten und von rechts vorn nach links hinten und dazwischen ist die Kopfhaut in quadratischen Feldern zu sehen. Da sich die Zöpfe von ihrem Hinterkopf über die Schultern lang nach vorne – und einige natürlich auch nach hinten – fortsetzen, nehme ich an, dass da mit Fremdhaar nachgeholfen worden ist. So viele eigene Haare hatte sie bei unserem letzten Treffen nicht auf dem Kopf.
„Wow, du siehst toll aus in dem schicken Kleid und mit der neuen Frisur!“
Ich bin ganz stolz auf mein fast gar nicht gestammeltes Kompliment, das ich nach einigen Sekunden des Atemholens dann doch raus gebracht habe. Sie hilft mir – wie immer – sofort aus meiner Verlegenheit und wechselt nach einem kurzen „Dankeschön“ gleich das Thema.
„Ich hoffe, dass sie das Lied, das du da eben vor dich hin gesummt hast, gleich auch spielen. Für mich war das der Höhepunkt auf der Eröffnungsfeier der Fußball-Weltmeisterschaft in Johannesburg.“
„Ja, das war eine tolle Zeit hier in Südafrika während der WM. Ich wäre bei der Eröffnung gerne live im Stadion dabei gewesen, aber ehrlich gesagt, haben mir Shakira und Freshlyground mit ‚Waka Waka’ besser gefallen.“
„Ich versteh schon: Hips don’t lie – Männer!“
„Der Song passte einfach perfekt hierhin – auch wenn er ursprünglich aus Kamerun stammt und in der Hauptsache von einer Kolumbianerin gesungen wurde. Da hätte sich die FIFA besser eine Südafrikanerin gesucht, wo es hier doch so viele exzellente Sängerinnen mit tollen Stimmen gibt.“
„Die greisen FIFA-Bosse stehen halt auf Shakira. Sie hat doch auch schon bei eurer WM 2006 den offiziellen Song gesungen.“
„Stimmt, aber in Deutschland wurde ,Hips don’t lie’ nicht als WM-Song wahrgenommen. Wir hatten unseren eigenen WM-Song, da der aber auf Deutsch war, hat der Rest der Welt den nicht registriert.“
Auf dem Weg zum Auto schaue ich zu Andiswas schwingenden Hüften hinüber und denke, dass Shakira gar nicht so falsch liegt und wir Männer tatsächlich mit weiblichen Reizen einfach einzufangen sind. Um diesen nicht schon jetzt ganz und gar zu erliegen, versuche ich unser Gespräch auf eine sachlichere Ebene zu bringen. Ein Fehler?
„War es eigentlich kompliziert, heute am Sonntag von Khayelitsha hier in die Roeland Street zu kommen?“
„Kompliziert nicht, aber es hat ganz schön lange gedauert. Ich musste erst ein Taxi von zuhause bis zum Taxirank nehmen. Dann von dort das nächste Taxi in die Stadt. Eigentlich geht das am Sonntag über die Autobahn schneller als in der Woche, weil da kaum Verkehr ist, aber die Taxis warten am Taxirank immer so lange, bis sie voll besetzt sind und das kann an einem Sonntag dann schon mal 20 Minuten oder sogar noch länger dauern. Ich hatte heute einfach kein Glück. Es saßen erst drei Leute drin, als ich am Taxirank ankam, und so musste ich auf weitere acht Passagiere warten. Von der Taxistation auf dem Bahnhofsdach hier in der Stadt bin ich dann gelaufen. Ich hab nämlich nicht so eine MyCitibus-Karte und bar bezahlen geht in diesen modernen Bussen ja nicht mehr. Insgesamt hab ich jetzt gut eineinhalb Stunden von mir bis zu dir gebraucht.“
„Oh, das ist doch ganz schön lange – und das am Sonntag, ohne Verkehrsstaus. Es ist ja auch ganz schön blöd, dass so viele Systeme nebeneinander existieren, Taxis, Metro und zwei verschiedene Busgesellschaften. Und jedes Mal muss man extra bezahlen, keine Kooperation! Aber so war das in Deutschland früher auch. In meiner Heimatstadt Hamburg wurde dann 1965 der erste Verkehrsverbund der Welt gegründet, wo du von Anfang bis Ende deiner Fahrt nur noch ein Ticket brauchst. In den meisten Regionen in Deutschland gibt es die aber auch erst seit den Neunzigern.“
„Dann hoffe ich mal, dass das hier bei uns auch bald kommt, aber hier hängt auch das noch mit unserer Apartheidsgeschichte zusammen. Viele sprechen auch heute noch von den ,Black Taxis’, weil das ursprünglich das Nahverkehrssystem für uns Schwarze in den Townships war. Du wirst auch heute immer noch nur ganz wenige Weiße finden, die damit fahren. Die Metro und die Golden-Arrow-Busse waren für die langen Strecken von den Townships zu den Arbeitsstätten gedacht und der MyCitiBus wurde ja erst zur Fußball-WM erfunden und verkehrt überwiegend in den reicheren weißen Gegenden.“
„Ja, ich hab schon gesehen, wie kompliziert das Nahverkehrssystem ist, wenn man es überhaupt System nennen kann. Nach Kirstenbosch kommt man zum Beispiel gar nicht hin, wenn man kein eigenes Auto hat!“
„Das war und ist vermutlich auch immer noch so gewollt. Der Botanische Garten dient ausschließlich dem Freizeitvergnügen derer, die sich ein Auto leisten können. Ich war einmal bei einem Schulausflug dort und dann im Studium für ein Fotoshooting, wohin mich jemand mitgenommen hat. Heute fahre ich zum ersten Mal zu meinem Privatvergnügen dorthin!“
„Aber die Menschen, die da arbeiten, müssen doch auch hin kommen?“
„Es gibt, soweit ich weiß, ganz früh morgens ein paar Golden Arrow Busse von der Stadt aus nach Kirstenbosch und abends zurück. Aber da wirst du keine Informationen zu finden.“
Passend zu unserer Unterhaltung stehen wir mittlerweile auch schon eine ganze Zeit auf der Autobahn im Stau Richtung Kirstenbosch. Auto an Auto reiht sich in die Schlange ein, es gibt offenbar keine andere Möglichkeit zum Parlotones-Konzert zu kommen. Mit 5000 verkauften Tickets ist das Konzert außerdem ausverkauft, wie man mir sagte, als ich vor zwei Wochen zu den letzten Glücklichen gehörte, die noch Tickets erhaschen konnten.
Am Botanischen Garten ist man aber ganz gut auf den motorisierten Ansturm vorbereitet, denn es gibt reichlich Parkplätze auf verschiedenen Wiesen, die ansonsten sicher anders genutzt werden. Und auf die Idee, daraus ein gutes Geschäft zu machen, ist noch niemand gekommen. Das Parken ist tatsächlich kostenlos!
Das Konzert beginnt zwar erst um halb sechs, aber die meisten Besucher kommen, wie wir, schon recht zeitig, denn zum einen ist ab vier Uhr Einlass auf die Konzertwiese und zum anderen ist mit der Konzertkarte auch freier Eintritt in den Botanischen Garten verbunden. So können auch wir uns noch ein wenig im Park umsehen. Die Jahreszeit ist jetzt, am Ende des Sommers, allerdings etwas ungünstig. Nach der monatelangen Trockenheit und Sommerhitze finden sich kaum blühende Pflanzen im Garten. Aber die verschiedenen Vegetationsbereiche aus der ganzen Welt können mich dennoch begeistern. Andiswa hingegen marschiert relativ lustlos durch Fynbos, Silberbaumwald, Farnwald, Heide und die Palmfarne, die immerhin schon Millionen Jahre die Erde begrünen. Während ich die eindrucksvolle Landschaft fotografiere, versucht sie möglichst, nicht mit ins Bild zu kommen.
Höhepunkt unseres kurzen Rundgangs ist die Boomslang, ein aufgeständerter 130 Meter langer Holzsteg, der sich in zwölf Metern Höhe zwischen den Baumwipfeln hindurch schlängelt. Hier hellt sich Andiswas Miene auf. Es macht ihr sichtlich Spaß, den wackeligen Weg noch mehr in Schwingung zu versetzen, als sie merkt, dass ich nicht so wirklich höhenfest bin und mein Gesicht noch bleicher wird, als es im Vergleich zu ihrem eh schon ist.
„Hei, das ist lustig und schau – dieser fantastische Blick auf den Tafelberg! Komm, gib mir deine Kamera, ich mache ein Erinnerungsfoto für den deutschen Journalisten-Touristen!“
Ich halte mich gut am Geländer fest und versuche, beim Lächeln möglichst nicht gequält auszusehen. Sie schießt eine ganze Fotoserie von mir auf der Baumschlange – bis sie endlich mit dem Ergebnis zufrieden ist und mir die Kamera hinhält, damit auch ich die Fotos begutachten kann.
„Prima – und jetzt du!“
Ich nehme die Kamera hoch, aber sofort dreht sie mir den Rücken zu.
„Nein! Ich bin die Frau hinter der Kamera, kein Model, das vor der Kamera steht. Von mir macht niemand Fotos – außer vielleicht ein anderer Profi oder ich selbst mit Selbstauslöser. Ich wäre mit Fotos, die du von mir machst, nie zufrieden. Also bitte versuch es gar nicht erst!“
Sie sagt das mit einer derartigen Bestimmtheit, dass ich meine Kamera sogleich wieder herunter nehme und in meiner Tasche verstaue. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie ihre Kamera gar nicht dabei zu haben scheint. Ob das wohl daran liegt, dass sie einen klaren Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit macht? Das heißt, sie trifft sich mit mir ohne Kamera und in diesem schicken Kleid – wie bei einem Date! Meine innerliche Freude lässt mich schmunzeln, was sie hoffentlich nicht fehl interpretiert.
„Hab verstanden. Du hast deine Kamera heute ja gar nicht mitgebracht. Möchtest du keine Bilder beim Konzert machen?“
„Die kann ich auch mit dem Handy machen. Es erschien mir zu gefährlich, die Kamera am Sonntag mit ins Taxi zu nehmen. Normalerweise verstecke ich die Kamera immer in meinem alten Rucksack. Aber der hätte nicht zu meinem Outfit gepasst.“
Wie zum Beweis tanzt sie auf der Baumschlange vor mir herum und schwingt dabei ihr Kleid rhythmisch in einem imaginären Takt hin und her. Dabei schwingt natürlich auch der Holzsteg wieder fleißig mit und nicht nur der Anblick meiner Begleiterin raubt mir jetzt gerade den Atem.
Glücklicherweise rückt der Konzertbeginn näher und wir müssen uns vom Steg in Richtung Eingang der Konzertwiese begeben. Hier zeigt sich, dass ein Tipp meiner Wohngemeinschaft mal wieder Gold wert ist: „Stell dich nicht um vier Uhr in die lange Warteschlange, sondern komme etwa 45 Minuten später, dann bist du direkt drin!“ Und die zweite Einschätzung stimmt auch: „Die Leute sitzen nicht gerne am Wiesenrand vor der Bühne, weil auf dem Weg direkt vor der Bühne immer getanzt wird und man dann nichts sieht. Aber echte Fans tanzen doch sowieso mit, oder?“ Zumindest Andiswa ist ja ein echter Fan und wir ergattern ein schönes Plätzchen auf der Wiese, keine zehn Meter von der Bühne entfernt, und machen es uns auf Clarence’ Picknickdecke gemütlich.
Wir haben vor Konzertbeginn noch genügend Zeit, die Leckereien aus meiner Kühlbox zu genießen. Andiswa ist auch extrem hungrig. Mit dem Wein kann ich ihr allerdings keine Freude machen, also teilen wir uns den Appletiser.
„Trinkst du gar keinen Alkohol?“
„Nein. Ich habe gesehen, was Alkohol mit Menschen macht und dann für mich entschieden lieber gar nichts anzurühren. Das hat keine religiösen Gründe oder so.“
„Dann brauche ich die Weinflasche ja gar nicht zu öffnen, denn wenn ich fahre, dann trinke ich normalerweise auch nichts. Ich hätte jetzt höchstens ein Gläschen zum Essen getrunken, da es noch ein paar Stunden dauert, ehe ich wieder hinterm Steuer sitze.“
Das bleibt die einzige Konversation während unserer Wartezeit. Es spricht sich ja bekanntlich auch schlecht mit vollem Mund. Aber während des Picknicks kann ich meinen Blick doch hin und wieder von Andiswa losreißen und die anderen Konzertbesucher beobachten. Und da stelle ich als Erstes fest, dass Andiswa mit ihrer Einschätzung, Schwarze würden weiße Musik mögen und umgekehrt, in Bezug auf dieses Konzert wohl Unrecht hat. Die Konzertbesucher sind zu 90-95 % Weiße und die schwarzen und farbigen Menschen, die ich ausmachen kann, sind zumeist in weißer Begleitung – wie Andiswa. Ich glaube auch, bei ihr ein gewisses Unwohlsein inmitten dieser Fangemeinde hier in Kirstenbosch zu spüren, denn auch sie schaut sich natürlich beim Essen ein wenig um. Ihr Blick strahlt nicht gerade unbändige Freude auf das bevorstehende Konzert ihrer südafrikanischen Lieblingsband aus.
Das Wetter passt sich unserer merkwürdigen Stimmung auch immer mehr an. Hatte bei unserem Rundgang durch den Park noch die Sonne geschienen, schieben sich nun dunkle Wolken mehr und mehr vor den Tafelberg und verhindern den eigentlich wundeschönen Ausblick auf die Naturszenerie hinter der Bühne.
Dann gehen endlich die Scheinwerfer an und das Konzert beginnt. Mit dem grellen Licht hellt sich auch Andiswas Miene wieder auf, und als Khan das Mikrofon ergreift und fragt, ob wir alle gut drauf sind, hallt es aus 5000 Kehlen: „Ja!“
Andiswa singt die ersten Lieder alle mit und es dauert auch nicht lange, da fasst sie mich bei der Hand und zieht mich die paar Meter nach vorn auf den Weg vor die Bühne und wir beginnen zu tanzen. Bei mir würde ich das eher im Rhythmus bewegen nennen, denn mit Andiswas Hüftschwüngen kann ich keinesfalls mithalten. Ausgerechnet beim Lied Lazy Sunny Days öffnet der Himmel seine Schleusen und wir sind im Nu völlig durchnässt. Das tut der Stimmung aber überhaupt keinen Abbruch, im Gegenteil die Tanzbewegungen der meisten Fans werden nur noch wilder. Und ich? Meine Augen starren unentwegt auf diese sich unglaublich grazil bewegende junge Frau vor mir, deren nasses schwarzes Kleid an ihrem Körper klebt und ihre perfekte Figur so erscheinen lässt, dass sicher nicht nur ich davon in höchstem Maße sexuell erregt bin! Aber während die anderen Männer sie nur anstarren, hält sie beim Tanzen immer noch meine Hand. Ich fühle mich vollkommen berauscht, obwohl ich doch gar keinen Alkohol getrunken habe.
Aber innerhalb von Sekunden ist dieser Rausch vorbei! Die Band stimmt mit ihren Fans ein Lied auf Afrikaans an, und Andiswa steht plötzlich wie versteinert da. Die weißen Menschen um uns herum hingegen sind ganz aus dem Häuschen, als Khan Lisa se Klavier intoniert.
Soweit ich den Text auf Afrikaans verstehe – ich hatte in meiner Schulzeit zwei Jahre Niederländisch-Unterricht – ist es quasi ein Liebeslied, eine Hymne auf Lisa und ihr Klavierspiel und wie sie alle Männer aus Kapstadt damit in ihren Bann zieht. Der Text des Liedes kann Andiswas Reaktion also nicht hervorgerufen haben, es muss ganz einfach die Sprache der Buren sein, die etwas in ihr auslöst, das die gute Stimmung zunichte macht.
Den Rest des Konzertes sitzen wir wieder auf unserer Picknickdecke, die ich glücklicherweise mit der Regenplane abgedeckt hatte, unter der wir uns nun vor dem Regen zu schützen versuchen, obwohl wir doch eh schon ganz nass sind. Ich spreche Andiswa lieber nicht auf ihren plötzlichen Stimmungswechsel an, es ist auch viel zu laut, zehn Meter von der Bühne entfernt, um sich zu unterhalten. Immerhin drückt sie sich zitternd an mich heran, um etwas Körperwärme von mir abzuzweigen.
Punkt sieben Uhr ist das Konzert beendet. Beim Abschlusslied Sleepwalker, dem aktuellen Hit der Band, hatte sich in Andiswa dann doch wieder etwas Begeisterung geregt und wir standen nochmals auf, um im Takt mitzuschwingen.
Wird sie mir auf dem Weg nach Khayelitsha ihre Reaktion erklären? Soll ich sie überhaupt fragen? Ich bin auf jeden Fall auf die Autofahrt gespannt. Erfreut stelle ich fest, dass sie auf dem Weg zum Parkplatz jedenfalls meine Hand ergreift. Ein Dankeschön für die Einladung? Oder für meine Art, mit ihrer Reaktion während des Konzerts umzugehen? Oder echte Zuneigung? Ich hoffe auf Letzteres und nur ein bisschen Dankbarkeit.