Читать книгу Hannes und Julius - Norbert Lingen - Страница 4
ОглавлениеHier leben Hannes und Julius
Hannes und Julius sind dicke Freunde. Sie sind immer zusammen, wie zwei Brüder. Hannes kann sich an keinen Tag erinnern, den er nicht mit Julius verbracht hätte. Sie besuchen die 3b der Katholischen Grundschule. Sie waren schon gemeinsam im Kindergarten. Hannes hat dunkle, aber nicht ganz schwarze, Haare. Seine braunen Augen glitzern meist lustig, die Nase ist vielleicht etwas zu dick. Auch die Ohren stehen ein wenig zu sehr ab. Alle sagen, dass er „auf Mama kommt“ oder „Du bist ganz die Mama“. Hannes spielt für sein Leben gerne Fußball, aber so richtig sportlich ist er nicht. Jedenfalls hat er es noch nie geschafft im Sportunterricht das Kletterseil hoch zu kraxeln oder weiter als fünf Meter zu springen. Dafür ist Hannes ein schlauer Kerl, aber faul. In der Schule hört er immer wieder, er könne doch eigentlich viel mehr als er zeige. Hannes liebt Bücher. Er liest viel und kennt alle wichtigen Abenteurer, Ritter und Piraten der Weltliteratur. Auch malt und bastelt er gerne. Alle sagen er habe Talent. Das gilt auch für Musik und singen. Im Winter trägt er eine lange Lederkniebundhose und im Sommer eine kurze Lederhose. Mama findet das praktisch, denn die Lederhosen müssen nicht gewaschen werden. Hannes ist es egal, denn sein eigenes Aussehen interessiert ihn nicht besonders.
Julius hat blonde Haare, ist drahtig, sportlich und ein guter Fußballspieler. Er hat Sommersprossen auf der Nase und seine blauen Augen blicken vergnügt in die Welt. Julius ist lebhaft und erfindungsreich. Er will Forscher werden und ist entsprechend neugierig. Allerdings ist er in der Schule auch nicht fleißiger als Hannes. Sonst hätten sie auch zu wenig gemeinsame Freizeit. Er ist ebenso wie Hannes gekleidet. So kann man wenigstens erkennen, dass sie dicke Freunde sind.
Die beiden sind Nachbarn. Hannes wohnt in der Dämmerstraße 164 und Julius links daneben im Haus mit der Nummer 162. Hinter den Häusern ist der gepflasterte Hof, der durch einen Maschendrahtzaun getrennt ist. Der Zaun verläuft auf einem Sockel, dem Mäuerchen. Auf ihm sitzen die beiden meist und können miteinander reden, spielen oder die täglichen Verabredungen treffen. Das ist ihr Treffpunkt. Hannes und seine Familie wohnen im ersten Stock. Unten im Erdgeschoss wohnen Oma und Opa. Oma ist immer zu Hause. Opa arbeitet in der Fabrik und danach ist werkelt er in seinem Garten, entweder hinter dem Haus oder in seinem Schrebergarten. Bei Julius ist es das gleiche. Er wohnt mit seinen Geschwistern und Eltern auch im ersten Stock und die Oma wohnt im Erdgeschoss. Julius‘ Opa ist schon tot.
Sie wohnen in Reihenhäusern, die in einem Hufeisen um einen großen Platz, dem Marktplatz, stehen. Die Häuser sind aus rotem Ziegel und haben schwarze Dachpfannen. Die Fenster sind mit rot grünen Fensterläden versehen. Am Badezimmerfenster über der Haustüre gibt es einen Fahnenständer. Die Fahne wird an hohen Feiertagen herausgehängt. Das ist zur Fronleichnamsprozession, weil die Prozession jedes Jahr am Marktplatz vorbeizieht und zur Kirmes. Der Marktplatz ist nicht bebaut. Dort findet zweimal im Jahr die Kirmes statt, im Frühjahr die Frühkirmes und im Herbst die Spätkirmes. Irgendwann später wird auf diesem Platz ein Park angelegt werden mit Wiesen, Bäumen, Büschen, Wegen und Bänken zum Sitzen. Im Grunde nur für Erwachsene, aber das stört die Kinder beim Spielen nicht weiter.
Neben Mama und Papa hat Hannes einen Bruder und eine Schwester. Mit seinem Bruder versteht er sich prächtig. Sie spielen oft zusammen. Er heißt Kalli und ist zwei Jahre jünger als Hannes. Kalli ist der kleine Liebling der Familie. Hannes hat das Gefühl, dass der kleine Süße vor allem bei Oma mit allem durchkommt. Opa sagt, Kalli sei verwöhnt. Das meinen Hannes und seine Schwester auch. Kalli bekommt immer Wutanfälle, wenn etwas nicht nach seinem Kopf geht. Sonst ist Kalli lebhaft und kaum zu bändigen. Mama nennt ihn deswegen Höppel.
Hannes Schwester ist ein Jahr älter als er. Sie heißt Maxie und hat immer recht. Maxie führt das Kommando unter den Dreien. Sie ist ordentlich und hat ihr Zimmer immer aufgeräumt. Sie ist fleißig, hat immer Geld und sie weiß was sie will. Obwohl sie meistens nervt, bewundert Hannes sie auch. Sie traut sich was, wenn es um die Meinungsfreiheit in der Familie geht. Papa sagt immer:
„Wer seine Füße unter meinen Tisch stellt, der macht auch das was ich sage.“
Dieser Meinung war Maxie noch nie, denn Papa kann schließlich nicht immer Recht haben. Das gab manchmal Riesenärger mit Papa. Maxie sorgt auch dafür, dass Hannes und Kalli ihre kleinen täglichen Pflichten im Haushalt ordentlich erledigen. Dafür wird sie nicht gerade geliebt von den beiden. Aber Mama muss arbeiten und hat wenig Zeit für den Haushalt. Papa behauptet, zwei linke Hände zu haben und er sieht die Hausarbeit auch nicht als seine Aufgabe an. So ist es wohl richtig von Maxie, Mama unter die Arme zu greifen.
Die beiden Jungs Hannes und Kalli sind gerne unten bei Oma und Opa. Oma besitzt eine weiße, goldverzierte Blechdose mit Deckel. Dort bewahrt sie kleine Leckereien, wie Haribo-Konfekt, Gummibärchen oder Zuckerbonbons auf. Jeden Tag dürfen die Kinder herunterkommen und sich eine Süßigkeit aus der wertvollen Blechdose aussuchen. Sie steht bei Oma im Küchenschrank. „Wir holen Lakritz bei der Oma“ heißt es immer. Sie achten darauf, dass sie keinen Tag verpassen. Manchmal aber ist Kalli, der kleinste in der Familie, der schnellste und holt gleich für Hannes und Maxie die Süßigkeit mit, die er, bis er oben ist, schon aufgefuttert hat. Das hat für Kalli nie irgendwelche Folgen, weil ihm, dem kleinen süßen Jungen, eine solche Niedertracht von den Erwachsenen nicht zugetraut wird. Da können Hannes und Maxie meckern, schimpfen und weinen wie sie wollen. An solchen Tagen gibt es für sie keine Süßigkeit von unten.
Die liebste Beschäftigung der beiden Freunde Hannes und Julius ist Fußballspielen. Jeden Tag nach der Schule sind sie verabredet zum Fußballspiel. Zuerst die Hausaufgaben, dann auf die Fahrräder schwingen, den Fußball auf den Gepäckträger geklemmt und los geht’s zum Bolzplatz. Der ist nur einige hundert Meter weg.
„Heute spielen wir auf ein Tor“, ruft Julius und springt von seinem Fahrrad.
„Ok“, sagt Hannes „Ich greife zuerst an.“
Und Hannes legt sich den Ball am Anstoßpunkt in der Mitte des Bolzplatzes zurecht. Den Anstoßpunkt und alle anderen Linien muss man sich vorstellen, denn der Platz ist ein echter Acker, mit einigen Grasinseln, aber sonst nur die blanke Erde. Vor den Toren ist der Boden besonders stark beansprucht, so dass sich dort leichte Kuhlen gebildet haben, die sich nach einem Regenguss in große Pfützen verwandeln. Dann macht das Spielen besonderen Spaß. Speziell die Torwartparaden arten manchmal in eine wahre Schlammschlacht aus. Mama ist nicht begeistert über die zusätzliche Wäsche, was für die Jungs aber nichts ändert.
Abwechselnd wird angegriffen und verteidigt. Hannes greift als erster an. Er läuft los und Julius steht mit angewinkelten Knien verteidigungsbereit in seinem Tor. Julius ist ein guter Torwart und Hannes scheitert beim ersten Anlauf an Julius‘ guter Reaktion. Gewechselt wird immer erst wenn ein Tor gefallen ist.
Hannes greift wieder an und Julius springt in die rechte Ecke. Er erreicht den Ball noch mit den Fingerspitzen. Kein Tor, aber eine Ecke.
„Drei Ecken, Elfmeter“, ruft Hannes.
Geht der Ball dreimal über die Torauslinie gibt es einen Elfer. Beim nächsten Angriff verzichtet Hannes auf einen Fernschuss, sondern umdribbelt Julius und schießt sein Tor. Er jubelt ordentlich und stellt sich dann seinerseits ins Tor. So geht es den ganzen Nachmittag hin und her.
Oft kommen auch noch andere Jungs aus der Nachbarschaft. Dann können sie Mannschaften bilden und echte Fußballspiele ausrichten. Das macht am meisten Spaß. Hannes Bruder Kalli ist oft dabei, auch der Uli von nebenan und die beiden Brüder Harald und Roland, mit denen Hannes eigentlich nicht spielen darf, weil sie evangelisch sind. Aber wenn sie eine Mannschaft brauchen und nicht genügend Kinder da sind, setzen sie sich schon einmal über das Verbot hinweg, zumal Hannes es sowieso nicht versteht. Hannes ist Messdiener und hört in der Kirche immer, dass Jesus alle Menschen gleichbehandelt. Warum dann nicht auch die evangelischen? Außerdem ist der Bolzplatz so weit weg von zu Hause, dass es von den Erwachsenen niemand mitbekommt.
Wenn es Abend wird, nehmen Julius und Hannes den Ball, steigen auf ihre Fahrräder und fahren nach Hause.
Morgens ist Mama arbeiten. Dann kümmert sich Oma darum, dass Hannes und Kalli in die Schule kommen. Kalli ist Erstklässler. Das erkennt man an dem kleinen Schwämmchen, das aus seinem Lederranzen an einer Schnur heraushängt. Er braucht es, um die Schiefertafel, auf der Erst- und Zweitklässler schreiben und rechnen üben, sauber zu machen. Die eine Seite der Tafel ist mit karierten Linien zum Rechnen versehen, die andere Seite mit Linien zum Schreiben.
Hannes ist froh, dass er als Drittklässler nun Hefte und einen Füller benutzen kann. Da kommt man sich nicht mehr so klein vor. Außerdem zerbrechen die Schiefertafeln ab und zu. Hannes ist das ein oder zweimal auf dem Schulweg passiert.
Zur Schule müssen alle Kinder an einem Haus vorbei, in dem eine asoziale Familie wohnt. Das erkennt man daran, sagt Papa, dass die Familie sechs Jungs hat, die alle in der Schule schon sitzen geblieben sind. Die sechs Jungs sind eine gefühlte Gefahr für die Schulkinder, die jeden Tag hoffen, ohne Androhung von Prügel oder Beschimpfung an diesem Haus vorbei zu kommen. Hannes und Julius sind keine Schläger, so dass sie jeden Mittag etwas ängstlich versuchen, möglichst unbeschadet an diesem Haus vorbei zu kommen. Wenn sich jemand von den Rabauken blicken lässt, siegt der Fluchtinstinkt, so dass die Schiefertafel auf der Flucht ein oder zweimal zu Bruch gegangen ist.
Hannes versteht nicht genau, was mit asozial gemeint ist, außer, dass man Angst vor Prügel haben muss. Einer der sechs Jungs ist in Hannes’ und Julius‘ Klasse. Er heißt Friedel. Er kommt immer zu spät, hat nie seine Hausaufgaben gemacht und fehlt oft. Aber er hat den beiden noch nie Prügel angedroht und ist eigentlich ganz nett, wenn man mit ihm spricht. Hannes und Friedel freunden sich ein wenig an. Später geht es soweit, dass Hannes und Julius durch Friedel einen Schutzstatus bekommen, so dass sie immer ungehindert an diesem gefährlichen Haus vorbei gehen können.
Hannes und Julius wohnen in Neuwerk. Neuwerk gehört zu einer Großstadt am Niederrhein, ist aber in Wirklichkeit ein Dorf mit einer alten Klosterkirche mit Kloster und Krankenhaus, einer neuen Pfarrkirche, einem Friedhof und vielen Wohnhäusern. Rund um den Marktplatz gibt es einige Geschäfte, wo Hannes häufiger einkaufen muss. Neben dem Milchladen Meisen und dem Bäcker Gülden kauft Hannes im kleinen Lebensmittelgeschäft von Frau Siemes, das immer Bismarckheringe und Matjes in der Auslage anbietet. Gegenüber ist der Metzger Van de Kraan, wo Hannes meistens am Samstag Panhas holt. Schauten ist eines der Lieblingsgeschäfte der Schulkinder, weil dort Schulhefte und Stifte, aber vor allem Süßigkeiten verkauft werden. Zur Fastnachtszeit gibt es dort künstliche Schnurrbärte und Masken. Schwarze Zylinder liegen ganz oben im Regal und die gibt es seltsamerweise während des ganzen Jahres dort. Die sind wohl nicht zum Verkleiden. Eine Straße weiter befindet sich der beste Laden, der Spielzeugladen Adrians. Dort kaufen Hannes und Julius zu Fastnacht immer die Munition für ihre Flänchen- und Schreckschusspistolen. Sonst geben sie ihr Taschengeld für Matchbox Autos und für ihre Fahrräder aus. Beide haben schon Fuchsschwänze, die an einer langen Stange seitlich hinter dem Sattel befestigt sind, bunte Nabenputzer aus Filz sowie Speziallenkergriffe aus Leder mit bunten Plastikbändern an den äußeren Enden. Einen Tacho und einen Kilometerzähler haben beide ebenfalls. Der große Traum für Hannes und Julius ist ein Bananensattel, wie die Bonanzaräder einen haben. Aber dafür reicht bisher das Geld nicht. Hannes hat versucht, sich bei seiner Schwester Maxie Geld zu leihen, worauf sie sich aber - wie immer - nicht eingelassen hat.
Hannes und Julius verstehen sich blind. Sie sind eben beste Freunde. Es ist immer ein besonderer Moment, wenn Hannes und Julius eine neue Idee aushecken. Dann ruft einer der beiden immer:
„Was sind wir?“
„Ein tolles Team“, antworten beide mit voller Begeisterung und klatschen ihre beiden rechten Handflächen ab. Das ist der Moment wo alle Welt sicher sein kann, dass bald etwas passieren wird.
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