Читать книгу Qualifiziert und ausgemustert: Wie ich die DHfK erlebte - Norbert Rogalski - Страница 5

Flucht, Schulzeit und erste Lehr- und Arbeitsjahre
(1945 – 1954)

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Unzählige, übervolle Züge verließen im Januar/Februar 1945 die Stadt Breslau in westlicher Richtung nach Mitteldeutschland. Als sich ein solcher Zug am 22.01.1945 in Bewegung setzte, kannte keiner der Insassen, zu denen meine Mutter und ich gehörten, das Ziel. Wenige Tage vorher hatte ich Geburtstag und wurde erst 10 Jahre alt. Am 24.01.1945 nachts hielt er, und wir wurden aufgefordert auszusteigen. Niemand wusste, wo wir uns befanden. Durch die Dunkelheit auf dem Bahnsteig konnte man das Ortsschild nicht auf den ersten Blick erkennen. Die Anordnungen der staatlichen oder polizeilichen Behörden, alle öffentlichen Gebäude sowie sämtliche Häuser zu verdunkeln, Straßenbeleuchtung auszuschalten, um, so die Erklärungen, den feindlichen Luftangriffen keine Orientierung zu bieten, waren noch wirksam. Doch bald sprach sich herum, es war die Stadt Bautzen in der Lausitz. Der Zug benötigte also von Breslau nach Bautzen 3 Tage, unter normalen Umständen in 3 Stunden zu erreichen. Während der oft stundenlangen Haltepausen des Zuges reichten Helfer des Roten Kreuzes warme Getränke und etwas zu essen. Zum Jahreswechsel 1944/45 und vor allem in den ersten Januartagen 1945 war Schlesien zu einem Brennpunkt an der Ostfront des 2. Weltkrieges geworden. Die sowjetische Armee hatte Polen bereits überwiegend besetzt und näherte sich der deutschen Grenze. Breslau wurde zur Festung erklärt. Die Hauptstraßen füllten sich mit Flüchtlingstrecks, die vom Osten nach Westen zogen. In umgekehrte Richtung fuhren Kolonnen der Wehrmacht mit Panzern, Geschützen und Lastwagen. Bevor der militärische Ring um die Stadt geschlossen wurde, was Mitte Februar geschah, sollten Frauen mit Kindern und ältere Menschen ab 60 Jahren die Stadt laut Befehl des deutschen Stadtkommandanten zeitweise verlassen. Es gelang den damaligen Machthabern nicht mehr, eine Evakuierungsbewegung, wie man sie anfangs nannte, organisiert abzuwickeln. Die geschürte Angst der Nazi-Propaganda unter der Bevölkerung vor der heranrückenden Sowjetarmee veranlasste Zehntausende, die Stadt zu Fuß, mit Hand-und Kinderwagen, Pferdegespannen oder privaten Pkw spontan zu verlassen. Das Elend dieser Flüchtlingstrecks, das für zahlreiche Betroffene oftmals mit dem Tod endete, wurde später vielfach beschrieben und mit Filmen dokumentarisch belegt. Ich hatte das „Glück“, meiner Geburtsstadt Breslau noch etwas angenehmer mit der Bahn den Rücken zu kehren, meine Mutter als Beschützerin an meiner Seite. Für mich als Kind war es ein Schock, in wenigen Stunden die Wohnung und die Stadt nur mit Rucksack und Tragetaschen verlassen zu müssen, liebgewonnene Gegenstände, Spielzeug usw. nicht mitnehmen zu können. Es gab aber die Hoffnung, die von den Gesprächen der Erwachsenen genährt wurde, nach dem „Endsieg“, also mindestens nach der Befreiung der Stadt von den „Feinden“, wieder in die Heimat zurückkehren zu können. Auf dem Bahnhof in Bautzen empfingen uns Angehörige der Wehrmacht, Zivilisten mit Hakenkreuzarmbinden und wieder Helfer des Roten Kreuzes, die uns zu Lastkraftwagen begleiteten. Die Fahrt führte uns nach kurzer Zeit in eine Waggonfabrik. In mehreren halbgeräumten Werkhallen war der Fußboden mit Stroh bedeckt, reihenweise exakt ausgerichtet. An jeder vorgesehenen Schlafstelle lag auch eine Decke. Frauen, Männer und Kinder verbrachten nun die nächsten Tage, manche auch einige Wochen, in diesen Werkhallen auf dem Strohlager. Die Sanitäreinrichtungen entsprachen nicht den Erfordernissen. Die Verpflegung war den Verhältnissen angemessen, man brauchte nicht zu hungern. Langsam wurde dieses Sammellager aufgelöst. Familien und Einzelpersonen sind von Bautzener Bürgern abgeholt und zeitweise in ihren Privatwohnungen untergebracht worden. So geschah es auch mit meiner Mutter und mir in den ersten Februartagen 1945. Ein Ehepaar, der Mann war schwer verwundet und aus der Wehrmacht entlassen worden, erfüllte - entsprechend den damaligen Möglichkeiten - unsere bescheidenen Wünsche und stellte uns eines ihrer Zimmer zur Verfügung. Wir glaubten, dass uns der Weg bald wieder nach Breslau führen würde. Während der etwa vier Wochen Aufenthalt bei dieser Familie machte mich der Hausherr mit dem Schachspiel bekannt. Viele Stunden saß ich mit ihm vor dem Schachbrett, befolgte seine Erklärungen und erlernte in den Grundzügen dieses Spiel. In diesen perspektivlosen Tagen und Wochen ergab sich damit ein Nutzeffekt zur Förderung von logischem Denken, das für meine weitere Entwicklung sicher vorteilhaft gewesen ist. Ein Ereignis aus dieser Zeit hat sich in meinen Erinnerungen fest eingegraben. Bautzen ist ja bekanntlich von Dresden nur etwa 50 km entfernt. Erwachsene und Kinder, so auch ich, standen am 13.02.1945 in der Nacht auf der Straße, hörten den Motorenlärm der anglo-amerikanischen Kampfbomber, die im Anflug auf Dresden waren, schauten auf den von sogenannten Christbäumen erhellten Himmel und erschraken, als das Krachen und Dröhnen der abgeworfenen Bomben auf die Stadt Dresden bis nach Bautzen herüberhallte. Der Horizont färbte sich schnell von nächtlicher Dunkelheit in eine rosarote Wolke. Keiner erahnte so richtig in dieser Nacht, was eigentlich in diesen Stunden mit Dresden, besonders auch mit den Menschen, die in ihr lebten und wohnten, passierte. Später erfuhr man, dass unter den Zehntausenden von Opfern auch Tausende von Flüchtlingen aus Schlesien und den anderen östlichen Gebieten Deutschlands waren, die sich in diesen Tagen als Durchgangsstation auf der Flucht in Dresden, völlig ungeschützt aufhielten. Meine Mutter sagte mir Jahre danach: „ Wir hätten auch unter den Toten sein können, wenn der Flüchtlingszug am 24.01.1945 nicht in Bautzen sondern in Dresden gehalten hätte“. Es war ein Zufall, am 13.02.1945 nicht in Dresden gewesen zu sein. Aber Bautzen war für meine Mutter und mich nur ein zeitweiliger Aufenthalt von etwa vier Wochen. Nach der nationalsozialistischen Propaganda noch im Februar/ März 1945 hieß es sinngemäß, alle Flüchtlinge könnten, nachdem Deutschland gesiegt hätte, wieder in die Heimat zurückkehren. Bevor jedoch die Alliierten den Krieg gegenüber Hitler-Deutschland endgültig beenden konnten, hatten sie die Grenzen Deutschlands zu den angrenzenden Staaten im Osten bereits neu festgelegt, was bedeutete, es gab für die Flüchtlinge kein Zurück in ihre Heimat mehr. So gelangte ich mit meiner Mutter auf Anordnung von staatlichen Behörden Ende Februar 1945 in das Dorf Lipprechterode (ca. 1.200 Einwohner) in den Kreis Nordhausen (Südharzgebiet) nach Thüringen. Mein Vater wurde ein Opfer des Krieges. Erst in den 60ziger Jahren erhielt meine Mutter vom Roten Kreuz der Sowjetunion schriftlichen Bescheid, dass er 1950 in einem Lager verstarb. Wir wohnten wieder bei einer Familie in einem Zimmer mit dürftigem, geborgtem Mobiliar. Die Familie war uns Flüchtlingen gegenüber hilfsbereit und versuchte auch insgesamt, uns das Leben in der Fremde, wie die Erwachsenen zu sagen pflegten, zu erleichtern. Einige Wochen vergingen ohne nennenswerte Veränderungen in unseren Lebensumständen. Meine Mutter war bemüht, unsere Verwandten zu finden, die auch aus Schlesien etwa zur gleichen Zeit auf unterschiedlichen Wegen geflüchtet waren, was ihr zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht gelang. Das verschlechterte ihren allgemeinen Gemütszustand. Ende April 1945 entwickelte sich eine gewisse Unruhe im Dorf . Der Rundfunk, soweit noch in Funktion, meldete nicht nur, dass die Sowjetarmee vor den Toren Berlins stand, sondern berichtete auch über den schnellen Vormarsch der US-Armee nach Thüringen ohne nennenswerten Widerstand der Wehrmacht. Die Dorfbevölkerung war verunsichert über ihr Schicksal beim Einmarsch eines der Kriegsgegner. Verstärkt wurde die Unruhe durch Bombenangriffe der Anglo-Amerikaner auf die Kreisstadt Nordhausen in der 2. Hälfte im April 1945. Die Stadt war danach zu 75% zerstört und hatte Tausende von Toten zu beklagen. Ähnliches erwartete man von den Bodentruppen, wenn ihre Geschosse in das Dorf einschlugen. Der Einmarsch der amerikanischen Armee vollzog sich aber dann ohne kriegerische Auseinandersetzungen. An einem sonnigen Apriltag standen plötzlich, aber nicht unerwartet, gegen Mittag amerikanische Panzer ca. 1km vor dem Dorf auf der Landstraße. Stundenlang passierte nichts. Es herrschte äußerste Spannung. Die Bevölkerung des Dorfes richtete sich in den Kellerräumen ihrer Häuser ein in der Erwartung, dass doch Kampfhandlungen stattfinden könnten. Wie wir später erfuhren, gingen einige ältere Männer mit weißen Fahnen auf die Panzer zu. Sie verständigten sich mit den amerikanischen Offizieren. Ihre Bedingung soll gewesen sein: Wenn kein Schuss von deutscher Seite fällt, wird das Dorf auch ohne Schuss ihrerseits eingenommen. Ich habe diese Männer nie kennen gelernt, ihre Namen wurden kaum propagiert, aus Gründen, die mir unverständlich blieben. Diese Tat nötigte mir später großen Respekt ab, als ich begriff, was sie für die Dorfbevölkerung bedeutete. Ihren Mut hätten sie auch mit dem Leben bezahlen können. Es befanden sich nämlich in diesen Tagen und Stunden noch versprengte Wehrmachts- und SS-Einheiten im Dorf, die den Marsch dieser Männer mit den weißen Fahnen zu den Amerikanern bemerkt hatten, aber nicht eingriffen. So rollten die amerikanischen Panzer in großer Anzahl und in ihrem Gefolge unzählige Lastkraftwagen mit Geschützen und anderem Kriegsmaterial in das Dorf ein. Dieser motorisierte Marsch oder auch Durchmarsch Richtung Nordhausen, Sangerhausen, Eisleben, Halle, Leipzig dauerte noch tagelang. Angst und Skepsis unter der Dorfbevölkerung legten sich aber bald, da keine Schüsse fielen. Die Erwachsenen und wir Kinder verließen die Keller und sahen den vorbeifahrenden US-Truppen zu. Eine gewisse Unsicherheit war aber doch noch vorhanden, weil niemand genau wusste, was nun eintreten würde. Der Krieg war zwar in Lipprechterode praktisch zu Ende, was sich jeder Einzelne auch darunter vorgestellt hat, aber die Kapitulation Hitler-Deutschlands war noch nicht vollzogen, was dann wenige Tage später am 8. Mai 1945 erfolgte. Nach einigen Tagen der amerikanischen Besatzung krochen wir Kinder auf die Lastkraftwagen der US-Armee, die unbewacht auf Feldwegen standen, entwendeten Schokolade, Brot und Konserven und schleppten diese Beute unbemerkt nach Hause. Meine Mutter freute sich einerseits über diese nicht erwarteten Lebensmittel, aber andererseits hatte sie Angst, dass ich erwischt werden würde und sprach ein Verbot für weitere Versuche dieser Art aus. Nach wenigen Tagen hatte sich die Dorfbevölkerung an das Leben unter militärischer Besatzung gewöhnt. In der Schule richtete sich die amerikanische Kommandantur ein, die an Stelle des bisherigen Bürgermeisters mit neuen Verordnungen und Richtlinien das Leben im Ort zunächst sicherstellte. Unterricht für uns Kinder fand deshalb nicht statt, darüber waren wir nicht böse. Öffentliche Verkehrsmittel waren noch außer Betrieb. Verschiedentlich wurden Plünderer und Diebe, die nach Lebensmitteln suchten, verjagt oder festgenommen. Lebenswichtige Einrichtungen für die Strom- und Wasserversorgung sind wieder in Funktion gewesen. Schnell sprach sich herum und über die Medien wurde es mitgeteilt, dass nach Festlegungen der Siegermächte Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt wird, die aber mit dem besetzten Territorium der vier Armeen zum Zeitpunkt der Kapitulation Deutschlands nicht identisch waren. Für den Kreis Nordhausen und damit auch für unser Dorf war die sowjetische Besatzung vorgesehen. Der Wechsel von der US-Armee an die Sowjetarmee fand Anfang August 1945 statt, den ich unmittelbar miterlebte. Für die Bürger des Ortes war es ein besonderes Ereignis. Auf einer Straßenkreuzung vor der Schule wurde das Dorf an die neuen Besatzer übergeben. Nachdem alle größeren amerikanischen Fahrzeuge Richtung Westen abgezogen waren, stand noch ein Jeep mit einem US-Offizier in Warteposition. Wenige Minuten später näherte sich ein Offizier der Sowjetarmee auf einem Pferd. Mit militärischen Grußerweisungen und wenigen Worten, die beide Offiziere wechselten, die anwesenden Bewohner jedoch nicht verstanden, wurde das Dorf an die Sowjetarmee übergeben. Der Jeep fuhr davon. Der Kreis Nordhausen und somit auch unser Dorf war damit in wenigen Minuten sowjetische Besatzungszone mit einer anderen politischen Grundorientierung als vorher unter der Besatzung der Amerikaner. Nur etwa 10 km von Lipprechterode entfernt in nord-westlicher Richtung befand sich die Demarkationslinie zwischen den Besatzungstruppen, die spätere Staatsgrenze der DDR zur BRD. Diese an sich geringe Entfernung trennten mich als Kind von der Tatsache, in der sowjetische Besatzungszone und in der DDR weiter aufgewachsen zu sein und nicht unter dem Einfluss der kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland. Meine politische und berufliche Entwicklung wäre wahrscheinlich in wesentlichen Teilen anders verlaufen, wenn der Flüchtlingstransport im Februar 1945 nicht im Kreis Nordhausen, sondern 10-15km weiter westwärts im Südharz in einer Ortschaft gehalten hätte, die zum Territorium für die Besetzung durch die westlichen Alliierten vorgesehen gewesen ist. Lebensweg sowie Denken und Handeln der Menschen sind immer von bestimmten Gegebenheiten, vom gesellschaftlichen und sozialen Umfeld weitgehend abhängig. Das ist die immer wieder diskutierte Problematik unterschiedlicher Biografien der Bürger der DDR und der BRD, die in entscheidendem Maße von den politischen Staatsformen und ihren Zielen geprägt worden sind. Doch werden die Biografien der ehemaligen DDR-Bürger in der erweiterten Deutschen Bundesrepublik seit 1990 von der politischen Führungsschicht der BRD nur in ihren offiziellen Reden zwar akzeptiert, aber es werden keine praktisch-politischen Konsequenzen aus dieser Tatsache gezogen. Ich habe es stets als glücklichen Zufall betrachtet, im Kreis Nordhausen, nur wenige Kilometer von der Grenze zur BRD auf dem Boden der späteren DDR wieder sesshaft geworden zu sein, weil ich gerade in der DDR optimale Voraussetzungen für berufliche Entwicklungsmöglichkeiten gefunden hatte. Die unmittelbaren Veränderungen im Dorf unter der sowjetischen Besatzungsmacht berührte uns Kinder zunächst kaum. Uns gefiel, dass die Schule noch nicht am 1.September öffnete, sondern uns erst Ende Oktober 1945 wieder zu einem einigermaßen geordneten Lernen zusammenführte. Als Lehrer erschienen einige neue Personen, wie mir und den anderen Flüchtlingskindern die einheimischen, neuen Klassenkameraden erzählten. Sogenannte Neulehrer übernahmen überwiegend den Unterricht. Wir machten es diesen im Beruf noch jungen Lehrern, die mit einer z.T. nur mehrwöchigen Ausbildung und aus anderen Berufen kommend diese bildungspolitische Aufgabe übernommen hatten, nicht schwer im schulischen Alltag. Sie bewältigten Ausbildung und Erziehung unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen in meiner Erinnerung in guter Qualität. Die bis Ende des Krieges verwendeten Lehrbücher wurden aussortiert, neue Exemplare waren noch nicht greifbar. Das Unterrichtsgeschehen entwickelte sich hauptsächlich auf der Grundlage der individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse der Lehrer sowie ihrer Improvisationen. Ein altes Realienbuch wurde als Nachschlagewerk zugelassen. Wer von den Schülern ein solches Exemplar besaß, hatte kleine Vorteile und konnte auch anderen Klassenkameraden Hilfe anbieten, manchmal für eine Gegenleistung. Ich wurde in die 5. Klasse in Lipprechterode aufgenommen. Grundlage dafür war das Alter, nicht die bisher absolvierten Schuljahre. Danach hätte ich in der 4. Klasse den Unterricht fortsetzen müssen. Im Oktober 1944 sind die Schulen in Breslau geschlossen worden, sie wurden als provisorische Kasernen und Lazarette für die Wehrmacht gebraucht. Ich konnte also ein Jahr lang die Schule nicht besuchen, denn erst im Oktober 1945 ging meine schulische Ausbildung weiter. Das 4. Schuljahr ist mir damit „erspart“ geblieben, so kann man es auch nennen, obwohl es ein Nachteil für mich gewesen ist. Große Lücken in mathematischen Grundoperationen und in der Rechtschreibung konnten erst in späteren Schuljahren geschlossen werden. Mit der Neueröffnung der Schule 1945 war auch für die Kinder des Dorfes eine völlig neue Situation eingetreten. Die Klassen setzten sich nun aus einheimischen Schülern, im Dorf aufgewachsen und den bisherigen Klassenstufen zugehörig, und uns Flüchtlingskindern zusammen, im Verhältnis von etwa 2 : 1. In den ersten Tagen und Wochen beschnupperten wir uns. Wir mussten uns auch an unterschiedliche Dialekte gewöhnen. Es dominierte natürlich die spezifische Aussprache der Thüringer im Kreis Nordhausen, aber auch ostpreußische, schlesische und sudetendeutsche Akzente beherrschten den Unterricht, die Pausen und die Freizeitgestaltung. Recht schnell wurden Gemeinsamkeiten entdeckt, besonders bei Spiel und Sport, Freundschaften wurden geschlossen, Ausgrenzungen von Schülern fanden nach meinen Erinnerungen nicht statt. Wenn Unterschiede zwischen den beiden Kindergruppen auftraten, dann ist es hauptsächlich in der Kleidung sichtbar geworden. Die Flüchtlingskinder waren anfangs im Nachteil gegenüber den Einheimischen, weil sie lange Zeit nur auf die Kleidung angewiesen waren, die im spärlichen Gepäck aus der alten Heimat mitgebracht werden konnte. Die Anforderungen in der Schule bewältigte ich schrittweise immer besser, obwohl mir ein gesamtes Schuljahr fehlte. Gern denke ich an die Pausengestaltung in der Schule zurück. Wir, die Jungen, konnten das Klingeln kaum erwarten, um auf den Schulhof zu strömen und mit einem Stoffball Fußball zu spielen. Gummibälle standen anfangs nicht zur Verfügung. Der Schüler, der einen Gummi- oder Fußball mitbringen konnte, stieg erheblich im Ansehen. Mein Verhältnis zum Fußballsport, einschließlich der aktiven Betätigung über viele Jahre hinweg, hatte in dieser Zeit seinen Ursprung. Das Bolzen auf dem Schulhof, mit dem sogenannten Straßenfußball gleichzusetzen, mit allen Arten von Bällen war der Beginn meiner engen Beziehung zu dieser Sportart. Dabei hat sicher erblich mein Vater auch etwas Pate gestanden, der in Breslau, vorrangig in Arbeitersportvereinen Fußball spielte, wie meine Mutter mir erzählte. Eingebettet in die gesellschaftliche Entwicklung des Dorfes unter den Verordnungen der sowjetischen Besatzungsmacht, wurde auch wieder an den Sport gedacht. Der bis 1945 im Ort bestandene Sportverein, musste auf der Grundlage der Direktive Nr. 23 vom 17. 12 1945 des Alliierten Kontrollrates aufgelöst werden. Demokratische Sportorganisationen und Sportverkehr auf territorialer Ebene wurde gestattet. Es gab vielfältige Bemühungen von sportbegeisterten Bürgern des Dorfes, vor allem von jenen, die bis 1933 in Arbeitersportvereinen aktiv waren, um ein organisiertes Sporttreiben in einer Sportgemeinschaft wieder ins Leben zu rufen. In den ersten Jahren nach Kriegsende, in denen die Freie Deutsche Jugend (FDJ) und die Gewerkschaft die Träger des Sports gewesen sind, kam aus unterschiedlichen Gründen die Bildung einer Sportgemeinschaft in unserem Dorf nicht zustande. Erst 1955 führten weitere Aktivitäten zum Erfolg und zur Gründung der Sportgemeinschaft „Blau-Weiß“, die sich wenige Jahre später in die Betriebssportgemeinschaft „Traktor“ umwandelte, die LPG des Dorfes als Trägerbetrieb. So kam es bis 1955 nur zu spontanen, nicht kontinuierlichen sportlichen Betätigungen im Fußball, Tischtennis und Gerätturnen. Für Turnen und Tischtennis stand der Dorfgasthofsaal zur Verfügung. Fußball wurde auf einem Rasenplatz gespielt, der damals in einem schlechten Zustand gewesen ist und keine Umkleideräume und Sanitäreinrichtungen besaß. In diesen Jahren schlossen sich deshalb zahlreiche Kinder, Jugendliche und Erwachsene von Lipprechterode der Betriebssportgemeinschaft (BSG) „Aktivist“ in Bleicherode an, nur ca. 3 km entfernt, das Kalibergwerk war die Basis. Diese BSG bot den Sportlern relativ gute Bedingungen für Training und Wettkampf. Nachdem ich einige Jahre auch der unregelmäßigen sportlichen Betätigung in unserem Dorf im Fußball und Gerätturnen nachgegangen bin, wurde ich mit 15 Jahren ebenfalls Mitglied der Sektion Fußball der BSG in Bleicherode. Ich wuchs heran mit den schulischen Verpflichtungen und immer intensiver werdendem Bezug zum Sport. Doch es blieb noch ausreichend Zeit, um Tätigkeiten nachzugehen, die wohl für die Mehrzahl der Jungen in diesem Alter typisch sind. Wir tobten in den Wäldern herum, in denen wir manchmal noch Munition der Wehrmacht fanden, bauten aus Holz und Pappe sogenannte Buden, spielten Krieg zwischen Gruppen des Ober- und Unterdorfes, „klauten“ Feld- und Gartenfrüchte, um die Lebensmittel, die noch mit Marken rationiert waren, aufzubessern und besuchten auch ein 3 km entferntes Kino, das 1946 wieder öffnete. Zur gleichen Zeit fühlte ich mich auch zu einem Kleinbauern hingezogen, der Pferde, Kühe, Schweine, Ziegen, Hühner, usw. sowie etwa 15 ha Ackerland besaß. Unzählige Nachmittage erfüllte ich bestimmte landwirtschaftliche Tätigkeiten in den Ställen oder bei der Feldarbeit und war stolz, wenn ich das Pferdegespann kutschieren durfte. Da ich das freiwillig und an sich mit Freude tat, empfand ich die Arbeit nicht als Belastung und bekam als Anerkennung für die Leistung am Wochenende Milch, Brot, Eier u.ä., manchmal auch zusätzlich Geld. Meine Mutter freute sich darüber, da sie als Schneiderin den Lebensunterhalt für sich und mich mit Näharbeiten bei mehreren Familien der einheimischen Bevölkerung verdiente. Das Entgeld dafür war sehr gering. Sie besaß in diesen Jahren noch keine eigene Nähmaschine und war deshalb gezwungen, die Arbeiten tagsüber in den Wohnungen der Kunden auszuführen. Auf meinen Tagesablauf nahm meine Mutter selten Einfluss, es war auch kaum erforderlich, größere Probleme bereitete ich ihr nicht, wie sie mir später erzählte. Die einheimische Bevölkerung, soweit religiös gebunden, war ausschließlich protestantisch, damit auch ihre Kinder. Es gab eine evangelische Kirche und einen Gemeindepfarrer. Erst durch die Flüchtlinge kamen Familien mit katholischer Konfession hinzu. Die Kinder der Katholiken suchten mit Hilfe ihrer Eltern die kirchliche Bindung außerhalb des Dorfes. Alle Schüler evangelischen Glaubens, zu denen auch ich gehörte, besuchten während des 8. Schuljahres den Religionsunterricht in Vorbereitung auf die Konfirmation, die im April 1949 für unseren Jahrgang stattfand. Der Religionsunterricht war nicht Bestandteil des Stundenplanes der Schule, die Trennung von Staat und Kirche war bekanntlich Verfassungsgrundsatz in der DDR und vor der Gründung der DDR bereits vollzogen. Da ich getauft wurde, musste ich auch konfirmiert werden. Es war allgemeine Praxis, dass die Grundschulzeit (damals 8 Schuljahre) mit der Konfirmation für alle Schüler abschloss, auch wenn Eltern und Kinder keine aktiven Christen waren und nur formal der evangelischen Kirche angehörten. Ich wurde im Jahre 1949 konfirmiert und damit in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen, wie es von der Kanzel und den Eltern immer wieder betont wurde, ohne zu verstehen, was diese Feststellung eigentlich bedeuten sollte. Meine Konfirmationsfeier nach dem kirchlichen Akt war den Möglichkeiten, die meine Mutter damals besaß, angemessen. Ich habe sie als sehr schön im Gedächtnis behalten und war meiner Mutter stets dankbar für das, was sie für meine Kleidung sowie für Speisen und Getränke zu diesem Anlass herangeschafft hatte. Zu den Gästen zählten auch einige Verwandte, die wir inzwischen über Suchdienste aufspürten, die ebenfalls Schlesien im Januar/Februar 1945 verlassen mussten. So war die Familie erstmals nach Jahren wieder zusammen, bis auf jene Familienangehörige, die den Krieg nicht überlebt hatten, in Gefangenschaft waren oder noch nicht gefunden werden konnten. Eine weitere bedeutsame Phase meiner Entwicklung begann nach der Grundschulzeit. Obwohl mir die Lehrer vorschlugen, die Oberschule zum Erwerb des Abiturs zu besuchen, da ich die Grundschule mit der Note „gut“ abgeschlossen hatte, lehnte ich diese weiterführende Ausbildung ab. Meine Mutter akzeptierte meine Auffassung auch unter dem Gesichtspunkt, dass noch weitere 4 Jahre Schulzeit zwar nicht allzu viel Geld für sie kosteten, aber doch ein eigener Verdienst durch mich über mehrere Jahre ausgeschlossen wäre. Mein Wunsch war es, Tischler zu lernen. Mit der Freude auf diesen Beruf war auch der Gedanke verbunden, schon während und besonders nach der Lehrzeit Möbel für unsere Wohnung selbst herstellen zu können, was auch in der Tat nach dem 3. Lehrjahr Wirklichkeit wurde. Bis dahin verfügten wir nur über geliehene oder geschenkte Möbelstücke von der einheimischen Bevölkerung. In den ersten Jahren nach dem Krieg konnte man nur in Ausnahmefällen neue Möbel kaufen. Ich bekam eine Lehrstelle als Möbeltischler im Herbst 1949 bei der privaten Tischlerfirma Bernhard Krüger in Bleicherode, die 5 Gesellen und 4 bis 5 Lehrlinge beschäftigte. Es war eine Kleinstadt mit etwa 8000 Einwohnern, durch meine Mitgliedschaft in der BSG „Aktivist“ im gleichen Ort bereits gut bekannt. Öffentliche Verkehrsmittel gab es noch nicht, die Arbeitsstelle musste mit dem Fahrrad erreicht werden. Die Lehrzeit war ausgefüllt mit einer qualitativ guten handwerklichen Ausbildung und parallel dazu mit dem Besuch der Berufsschule. Meister und Gesellen stellten gegenüber den Lehrlingen hohe Forderungen, achteten auf Arbeitsdisziplin, waren aber gleichzeitig auch sehr tolerant. Es bestand eine gute Arbeitsatmosphäre. Sowohl der Meister als auch die Gesellen hatten eine von den Kriegserlebnissen geprägte Lebenserfahrung, alle waren Soldaten der Wehrmacht gewesen und kehrten aus unterschiedlicher Kriegsgefangenschaft in das zivile Leben zurück, so schnell konnte sie nichts erschüttern. In den Frühstücks- und Mittagspausen erlebte ich das erste Mal ernsthafte politische Diskussionen zwischen den Gesellen über den Sinn des Krieges, über den verlorenen Krieg Deutschlands und wer daran Schuld war, sowie über die Entwicklungen in der sowjetischen Besatzungszone und nach der Gründung der DDR. In Erinnerung sind mir sehr kontroverse Auffassungen geblieben, vor allem solche Streitgespräche, wenn der Meister daran teilnahm, der Mitglied der LDPD war und im Kreistag eine Funktion ausübte. Nach der 3-jähriger Lehrzeit, die mit einer theoretischen und praktischen Facharbeiterprüfung – sprich Gesellenprüfung – und mit „gut bestanden“ endete, bekam ich vom Meister das Angebot, weiter in seiner Firma als Geselle zu arbeiten, was ich mit Freude annahm. Als Stundenlohn, und das war Tarif zu dieser Zeit, standen 0,99 Mark der DDR im Arbeitsvertrag. Das war schon erheblich mehr als 10 bis 13 Mark Lehrlingsentgelt wöchentlich in den vergangenen 3 Jahren. Mit etwa 160 Mark Netto im Monat konnte ich damit zum gemeinsamen Haushalt mit meiner Mutter schon besser beitragen oder an den Kauf von Kleidungsstücken vom eigenen Verdienst denken. Ich hatte mich gedanklich darauf eingestellt, in und mit diesem Beruf meine Perspektive zu sehen und den zukünftigen Lebensunterhalt damit zu verdienen. Doch im Jahre 1952 kam plötzlich eine entscheidende Wende. Wie an anderer Stelle bereits betont, hatte ich eine enge Beziehung zum Fußballsport und zum Sport überhaupt, die sich von Jahr zu Jahr festigte. Ich spielte während meiner Lehrzeit bereits in der A-Jugendmannschaft Fußball in der BSG „Aktivist“, später „Glück auf“ Bleicherode, die der Sonderliga-Staffel des Landes Thüringen angehörte. Die Mehrheit der Spieler waren Schüler der hiesigen Oberschule. Wir hatten ein ansprechendes spielerisches Niveau und stellten langfristig den Nachwuchs für die Männermannschaften. In der Sektion Fußball dieser BSG war zu dieser Zeit ein hauptamtlicher Fußballtrainer tätig, der vom Volkseigenen Kaliwerk bezahlt wurde. Er hieß Martin Schwendler. In den 60er Jahren trainierte er die Fußballoberligamannschaften von „Rotation“ Leipzig und „Turbine“ Erfurt. In Bleicherode leitete er das Training der 1. und 2. Männermannschaft sowie der A – Jugend und betreute diese Mannschaften bei den wöchentlichen Wettspielen. Martin Schwendler war mein erster offizieller Trainer. Zweimal wöchentlich nach der Arbeit oder anderen Verpflichtungen wurde trainiert. Ich wurde das erste Mal mit einem systematischen Training konfrontiert, mit den Problemen von Belastung und Erholung, mit taktischer Wettkampfvorbereitung, mit sportlicher Disziplin und Kollektivität in einer Mannschaftssportart. Erst Jahre später, als ich selbst eine sportwissenschaftliche Ausbildung absolviert hatte, konnte ich beurteilen, welch starke Motivation der Trainer durch seine pädagogische Tätigkeit bei mir auslöste, die mit dazu führte, selbst eine solche berufliche Entwicklung ins Auge zu fassen. Neben der Arbeit in der Tischlerei konzentrierte ich mich besonders auf das Fußballspiel. Die Woche konnte nicht schnell genug vergehen, um wieder die Sporttasche zu packen und einem Punkt - oder Freundschaftsspiel am Wochenende entgegen zu sehen. Unannehmlichkeiten, die das Leben Anfang der 50er Jahre noch mit sich brachte, wurden durch die Freude am sportlichen Geschehen überdeckt und somit kaum wahrgenommen. Der Trainer wurde auf mich und einige andere Sportfreunde besonders aufmerksam. Unsere Leistungen im Training und Wettkampf mussten wohl etwas über dem Durchschnitt gelegen haben. Kurz vor Vollendung des 18. Lebensjahres wurden zwei weitere Sportfreunde und ich aus der A–Jugend in den Kreis der Männermannschaften aufgenommen. Wir trainierten mit den Spielern der 1. und 2. Mannschaft unter kritischer Beobachtung des Trainers. Gelegentlich wurden wir auch schon in diesen Mannschaften eingesetzt und nahmen an Trainingslagern teil. Ich glaubte, an eine erfolgreiche weitere Entwicklung als Fußballspieler. Diese Gedanken gingen sicher auch in eine etwas überhebliche Richtung. Die Entscheidung des Trainers, praktisch schon zu den Männermannschaften zu gehören, war mit der berechtigten Forderung verbunden, mindestens dreimal wöchentlich ab 14.00 Uhr am Training teilnehmen zu können. Das konnte ich aber nicht erfüllen, da die Arbeitszeit in der Tischlerei erst um 16.30 Uhr beendet war. Obwohl der Besitzer der Firma eine starke Bindung zu den Fußballmannschaften in Bleicherode hatte, den Heimspielen als Zuschauer beiwohnte, konnte und wollte er mich für das Training am Nachmittag von der Arbeit nicht freistellen. Vom Trainer kam der Vorschlag, die Arbeit als Tischler aufzugeben und eine Beschäftigung im Trägerbetrieb der BSG, im Kaliwerk, zu beginnen, da mit diesem Wechsel der Arbeitstelle die Trainingsteilnahme ab 14,00 Uhr geregelt werden konnte, ohne finanzielle Nachteile meinerseits. Bereits Anfang der 50er Jahre in der DDR wurde die Entwicklung zur Unterstützung und Förderung der aktiven sportlichen Betätigung eingeleitet und begonnen, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten schrittweise zur völligen oder teilweisen Freistellung von der beruflichen Tätigkeit bei vollem Lohnausgleich führte, wenn Training und Wettkämpfe im Sinne des Leistungssports auf der Grundlage von zentralen Beschlüssen der Sportorganisation und des jeweiligen Sportverbandes erfolgten. Die Verantwortlichen der Sektion Fußball der BSG boten mir eine Tätigkeit im Kaliwerk als Grubenzimmermann an, eine Arbeit 700m unter der Erde, außerhalb der direkten Kaliförderung. Den Wechsel der Arbeitstelle hatte ich mir aber so nicht vorgestellt. Ich dachte eher an eine Arbeit, die über Tage und in enger Beziehung zu meinem bisherigen Beruf als Tischler stehen sollte. Ich stimmte letztlich zu. Der Bezahlung als Grubenzimmermann lag der Bergmannstarif zugrunde. Damit konnte ich auch für die damaligen Verhältnisse erheblich mehr verdienen als in der Tischlerei. Meine Wünsche, im Fußball gut voranzukommen, verbanden sich nun mit der Tatsache, berechtigten Wünschen als Jugendlicher schneller entsprechen zu können, die nun mit größeren finanziellen Möglichkeiten zu realisieren waren. Die Tätigkeit im Kaliwerk in einer Brigade, deren Mitglieder wesentlich älter waren als ich und ihre Lebenserfahrung wiederum überwiegend durch Kriegserlebnisse und Kriegsgefangenschaft beeinflusst waren, fiel mir anfangs nicht leicht. Die Arbeitskollegen hatten aber Verständnis für meine Entscheidung, die berufliche Tätigkeit zu wechseln, und erleichterten mir die Einarbeitung insofern, dass sie ihre bergmännischen Kenntnisse und Fertigkeiten nicht ausspielten und mich nicht wie einen Lehrling behandelten. Sie akzeptierten auch, dass ich dreimal in der Woche vorzeitig die Arbeitsstelle verließ, aus der Grube ausfuhr, um pünktlich zum Training zu erscheinen. Ich war am Ziel meiner Bestrebungen, aufgenommen in den Kreis der Männermannschaften und eine bedeutend bessere finanzielle Entlohnung zu bekommen, um den Preis, den erlernten Beruf als Tischler nicht mehr ausüben zu können. Nach einigen Monaten kamen mir aber Zweifel, ob meine Entscheidung, die Arbeitstelle im Kaliwerk angenommen zu haben, nicht doch kurzsichtig war und ich meine Fähigkeiten als Fußballspieler überschätzte hatte. Zu diesem Zeitpunkt, es war im Sommer 1953, fand ich eine Annonce von der Deutschen Hochschule für Körperkultur aus Leipzig in der Zeitung. Darin wurde mitgeteilt, sich für ein Sportstudium bewerben zu können mit dem Ziel, das Studium mit dem Berufsabschluss „Diplomsportlehrer“ zu beenden, um hauptamtlich im Bereich des Sports später tätig zu sein. Voraussetzung dafür war aber das Abitur, die Hochschulreife zu besitzen. Das war bei mir nicht der Fall. Ich sprach mit meinem Freund darüber, der mir meine Enttäuschung ansah, aber mich auf eine Möglichkeit aufmerksam machte, von der ich bis zu diesem Zeitpunkt nichts wusste. Er hatte sich, um ebenfalls das Abitur nachzuholen, an der ABF in Jena beworben und studierte anschließend Forstwirtschaft. Es gab also doch ein Perspektive für mich. Ich schrieb an die DHfK mit der Bitte, mir in Leipzig Möglichkeiten aufzuzeigen, die Hochschulreife noch erwerben zu können, um mich anschließend für das Studium zu bewerben. Schon nach wenigen Tagen bekam ich eine Antwort. Zu meiner Freude wurde mir mitgeteilt, dass an der DHfK eine eigene ABF angegliedert war, die auch speziell auf dass Sportstudium vorbereitet. Zu den übermittelten Bewerbungsformularen gehörten auch die Bedingungen, um an der ABF aufgenommen zu werden. Ich sah zunächst wenig Chancen, die Aufnahmeprüfung erfolgreich zu bestehen. Sie bestand aus theoretischen und sportpraktischen Teilen. Meine Voraussetzungen nach nur sieben Jahren Grundschulzeit mit wenig Erweiterungen durch die Berufsschule schätzte ich nicht sehr günstig ein. Eine weitere Bedingung zur Aufnahme an der ABF waren eine Beurteilung und ein Delegierungsschreiben vom Betrieb, in dem ich arbeitete. Ich wandte mich an die Betriebs - und Betriebsgewerkschaftsleitung mit der Bitte, eine solche Delegierung für mich auszusprechen. Das war für das Kaliwerk damit verbunden, eine Arbeitskraft zu verlieren. Der Mangel an Arbeitskräften war bereits in den ersten Jahren der DDR der Normalfall. Eine Ablehnung meines Wunsches konnte ich also nicht ausschließen. Die Reaktion fiel zu meinen Gunsten aus: Keine Ablehnung für meinen beabsichtigten Schritt, im Gegenteil, er wurde begrüßt und unterstützt. In diesen Jahren hatte die Regierung der DDR eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, um Kinder von Arbeitern und Bauern schrittweise für akademische Berufe zu qualifizieren. Das Kaliwerk hatte – wie andere Betriebe ebenfalls – eine zahlenmäßige Auflage, junge Menschen für ein Studium an der ABF zu gewinnen. Mein Wunsch und die Aufgaben des Betriebes waren somit deckungsgleich. Mit einem Glückwunsch für den beabsichtigten Schritt erhielt ich die Delegierungsurkunde, die noch damit verbunden gewesen ist, mir jedes Studienjahr 250 Mark Büchergeld zu überweisen. Meine Mutter legte mir ebenfalls nichts in den Weg, gab aber zu bedenken, wie das mit meinem Lebensunterhalt weitergehen sollte. Daran hatte ich bisher, diesen Schritt vor Augen, kaum gedacht. Von ihr konnte ich keine finanzielle Unterstützung erwarten. Nicht, weil sie es nicht wollte, sondern weil sie dafür keine Voraussetzung mit ihrem Verdienst als Näherin bei den Dorfbewohnern hatte. An das monatliche, recht gute Entgeld im Kalibergbau war ich bereits gewöhnt. Ich musste mir bewusst werden, sollte eine Zusage zum Studium kommen, dass ich dann mit 180 Mark Stipendium auszukommen hatte und das mehrere Jahre lang. Ich sprach auch mit dem Trainer, der zwar nicht begeistert auf meine Vorstellung reagierte, aber sofort bereit war, mir eine Beurteilung über meine sportliche Leistungsfähigkeit und mein Verhalten im Sportlerkollektiv zu schreiben. Die Bewerbung zum Studium an der ABF konnte abgeschickt werden. Auf die Antwort wartete ich mit Spannung. Meinen Lebensweg von 1945 bis zur Bewerbung und der Zulassung zum Studium an der ABF begleiteten auch Ereignisse von politischer Tragweite. Schrittweise wurde mein Denken davon beeinflusst, besonders unter der Fragestellung, wie die sich gebildeten zwei deutschen Staaten nach dem 2. Weltkrieg, den ich als Kind in seinem Ausgang noch kennen gelernt hatte, weiterentwickeln würden. Überlegungen über die Konsequenzen einer gegensätzlichen politischen Entwicklung beider Staaten , die sich schon in den 50er Jahren andeutete, waren damals für mich als Jugendlicher noch kein ernsthaftes Thema von Erörterungen. Viele Diskussionen der Erwachsenen, der Arbeitskollegen oder älterer Sportfreunde endeten sinngemäß mit der Meinung: Nach wenigen Jahren der Übergangszeit und des Bestehens von zwei deutschen Staaten wird die Einheit Deutschlands wieder hergestellt sein. Politiker beider Staaten unterstützten zumindest in ihren Reden solche Auffassungen. Unvergessen ist mir ein Erlebnis vom Juni 1948 geblieben. Unsere Schulklasse war zum Sammeln von Kartoffelkäfern eingesetzt, die wie ein Teppich zu Hunderttausenden die Kartoffelfelder überdeckten und die Pflanzen zerfraßen. Die allgemeine Erklärung für dieses Ereignis war, die Amerikaner hätten dieses Ungeziefer über der sowjetischen Besatzungszone abgeworfen, um ihr zu schaden. Der Beweis dafür wurde wohl nie richtig erbracht. Als wir am gleichen Tag gegen Mittag von dieser ungewöhnlichen Sammelaktion in die Schule zurückkehrten, wurden wir Kinder, damals 13 Jahre alt, durch die Lehrer über die Tatsache informiert, dass in den westlichen Besatzungszonen eine andere Währung, die D-Mark, eingeführt wurde. Für die erwachsene Bevölkerung der Region – nur etwa 10 km von den Westzonen entfernt – war diese überraschende Maßnahme von einschneidender Bedeutung. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte man ziemlich ungehindert die Demarkationslinie, die spätere Staatsgrenze, in Richtung Westen überschreiten. Das wurde besonders dazu genutzt, bestimmte Waren in den Westzonen einzukaufen, die es in der sowjetischen Zone z. T. noch nicht gab. Die bisherige gleiche Währung machte es möglich. Auch konnten unmittelbare Kontakte mit Verwandten und Bekannten über die Zonengrenze hinweg, zwar mit einigen Erschwernissen, aber doch beibehalten werden. Das Überschreiten der Grenze in beide Richtungen war noch problemlos und durch die relativ kurze Entfernung von unserem Ort ohne Verkehrsmittel zu Fuß zu bewältigen. Üblich war bis zum Zeitpunkt der Einführung einer anderen Währung in den Westzonen, dass mit Pferdegespannen aus unterschiedlichen Gründen in die westliche Zone gefahren wurde, um vor allem die gekauften Produkte in größeren Mengen zu transportieren. Die Gespannführer, die Bauern, kannten die Wege durch Wald und Flur. Straßen wurden gemieden, man wollte Kontrollen entgehen. Einige Großbauern verließen in diesen Jahren ihren Hof und kehrten von solchen Fahrten nicht mehr zurück. Nach Gründen wurde in der Regel nicht gefragt, uns Kinder interessierte es auch nicht. Die westlichen Besatzungsmächte leiteten mit der Einführung der D-Mark in ihren Verwaltungsbereichen mit aktiver Hilfe von westdeutschen Politikern die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten bereits 1948 vorsätzlich ein. Ich hatte diesen Vorgang somit als Schulkind unmittelbar miterlebt, aber in seinen prinzipiellen Auswirkungen für die weiteren politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen beider deutschen Staaten erst Jahre später einordnen und bewerten können. Während der Jahre als Tischlerlehrling war ich unmittelbar beteiligt an einer Maßnahme, die von den Regierungsstellen oder auch der Besatzungsmacht angeordnet wurde: Die Demarkationslinie zwischen Ost- und Westzone sollte genauer gekennzeichnet werden. Unser Tischlermeister sowie andere Betriebe und Firmen hatten eine bestimmte Anzahl von Personen für diese Arbeiten bereitzustellen. Ich wurde dazu ausgewählt, auf Lehrlinge konnte man in der Produktion besser verzichten. Mit Lastkraftwagen erreichten wir, mehrere Hundert dieser Arbeitskräfte, meistens Jugendliche, ein Waldgebiet im Harz. Mit Hacke, Schaufel und Spaten, ohne technische Geräte, rodeten wir auf Anweisung kleinere Bäume und Sträucher. Die Demarkationslinie war in einen ca. 30 m breiten Streifen mit glattem Erdreich herzurichten. In bestimmten Abständen wurden dann noch Pfähle als genaue Kennzeichnung eingeschlagen. So erlebte ich die erste Markierung der späteren Grenze zwischen der DDR und der BRD. Die Beteiligten an diesem Einsatz lehnten diese Art von Grenzziehung nicht ab, es wurde als normal angesehen, dass die beiden selbständigen deutschen Staaten , die nun auch eine unterschiedliche Währung besaßen, den Verlauf ihrer Trennlinie genauer kennzeichnen. Die Arbeit wurde bereitwillig verrichtet. Die verantwortlichen Personen trugen zivile Kleidung, sie verhielten sich sehr kollegial, Waffen waren bei ihnen nicht sichtbar. Verschiedentlich kamen westdeutsche Polizisten vorbei, mit denen wir uns ganz ungezwungen unterhielten, die keinen Anstoß an unseren Arbeiten nahmen. Am zweiten Tag wurde der Vorschlag gemacht, die Mittagspause im etwa 500 m entfernt gelegenen Dorf auf westdeutscher Seite in einer Gaststätte zu verbringen. Von den Verantwortlichen gab es gegen dieses Vorhaben keine Einwände. Schon im Anmarsch wurde uns bewusst, dass wir mit unserem Geld in dem westdeutschen Dorf nicht bezahlen konnten. Wir betraten trotzdem die Gaststätte und verzehrten unser mitgebrachtes Frühstück. Der Wirt spendierte uns je eine Limonade, wünschte uns alles Gute und wir kehrten an unsere Arbeitstelle zurück. Zu diesem Zeitpunkt im Jahre 1950 ahnte niemand aus unseren Reihen, dass diese an sich belanglose Markierung zu einer fast unüberwindlichen Staatsgrenze mit militärischer und polizeilicher Bewachung ausgebaut wurde. Während des „Kalten Krieges“ kam es zu einer Grenze, die nicht nur zwei deutsche Staaten, die vielmehr zwei entgegengesetzte militärische Machblöcke trennte und zahlreiche Opfer, auch Tote auf beiden Seiten zu beklagen hatte. Als diese Grenze im Zusammenhang mit dem Anschluss der DDR an die BRD beseitigt wurde, sind Schuldige für dieses Grenzregime und für die Toten gesucht worden. Es wurden „Schuldige“ gefunden und in Gerichtsprozessen mit Strafen, auch zum Teil mit Haftstrafen, verurteilt. Die Schuldfrage wurde von Gerichten der BRD nur an führende Politiker der ehemaligen DDR und ihre Vertreter in den bewaffneten Organen gestellt. Die tatsächlichen Ursachen, wie es zu dieser Grenze gekommen ist, sind kaum berücksichtigt worden und spielten in den Prozessen und bei den Urteilen keine Rolle. Damit konnten sich Politiker des westlichen Bündnisses und der damaligen anderen sozialistischen Staaten ihrer Verantwortung entziehen. Eine objektive geschichtliche Aufarbeitung wird zu einem bestimmten Zeitpunkt die wahren Gründe der Schaffung dieser Grenze noch beschreiben. In der Nachkriegsgeschichte wurde oft auch auf ein Datum hingewiesen, das im Sport, besonders im Fußball, eine wichtige Rolle spielte. Es war der 4. Juli 1954, der Tag, an dem die Fußball-Nationalmannschaft der BRD das erste Mal Weltmeister wurde. Ich erlebte diesen Tag während meiner Tätigkeit im Kaliwerk, aber nicht unter Tage und in Arbeitskleidung, sondern in dem besten Anzug, den ich damals besaß. Es war ein Sonntag, der „Tag des Bergmanns“ wurde gefeiert. Nach Festlegung der Regierung der DDR war der jeweils erste Sonntag im Juli der Ehrentag der Bergleute. Die zentrale Festveranstaltung der DDR-Regierung zum Tag des Bergmanns fand in diesem Jahr in Bleicherode statt. Für die gesamte Region war das eine große Aufwertung. Der damalige Ministerpräsident Otto Grotewohl sprach während des Festaktes im Kulturhaus und war auch am Nachmittag auf dem Festplatz unter den Bergleuten und der Bevölkerung zu finden. Es war insgesamt eine gute Stimmung auf Straßen und Plätzen. Orchester, Spielmannszüge und Fanfarengruppen sorgten für die musikalische Umrahmung. Die Angehörigen des Kaliwerkes, weitere Bürger des Ortes und der Umgebung freuten sich über den hohen Gast der Regierung aus Berlin und feierten unter dem Motto, wie es im Volksmund heißt: „Ich bin Bergmann, wer ist mehr!“. Man hatte den Eindruck, die Teilnehmer und Besucher der Feierlichkeiten, die sich auf dem Festplatz versammelt hatten, identifizierten sich mit der Politik der DDR. Es ging, wie man landläufig sagte, wirtschaftlich und auf zahlreichen anderen Gebieten aufwärts in den 50er Jahren in der DDR. Auffallend war am Nachmittag, dass besonders die Männer in zahlreichen Gruppen zusammenstanden und sich an mitgebrachten Radioapparaten versuchten, Gehör zu verschaffen. Ich drängte mich ebenfalls in eine solche Gruppe. Das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 1954 zwischen der BRD und Ungarn wurde übertragen. Die Möglichkeit, dieses Spiel am Fernsehgerät zu verfolgen, war außerordentlich gering, da nur eine sehr beschränkte Anzahl von Fernsehgeräten zur damaligen Zeit in privatem Besitz gewesen ist. Auf dem Festplatz stand nur die akustische Übertragung zur Verfügung. Als die Mannschaft der BRD nach einem 0:2 Rückstand noch überraschend 3:2 gewann und Weltmeister wurde, riefen die Besucher des Bergmannfestes lautstark: „Wir sind Weltmeister!“. Die Gebrüder Walter, Turek, Eckel, Morlock, Posipal, Rahn und Trainer Herberger waren von nun an in aller Munde. Man empfand einen gewissen Stolz auf diese deutsche Mannschaft und auf die Spieler, obwohl sie die Vertreter des anderen deutschen Staates waren. Gefeiert wurden also an einem Tag von dem gleichen Personenkreis von Bleicherode und Umgebung zwei Begebenheiten: Einmal der politisch angelegte und ausgestaltete „Tag des Bergmanns“ der DDR und zum anderen der Sieg der Nationalmannschaft im Fußball der BRD bei der Weltmeisterschaft. Politiker und Medien der Bundesrepublik haben den Weltmeistertitel im Fußball 1954 für nationalistische Ziele in der Aufbauphase ihres Staates nach dem 2. Weltkrieg bewusst benutzt und missbraucht. Der Bevölkerung wurde suggeriert: „Wir sind wieder wer!“. Die Spieler wurden zu Helden hochstilisiert, obwohl sie es selbst nicht wollten. Ich glaube, dass die Beschreibung der damaligen Denkweisen der Menschen in der DDR über unterschiedliche gesellschaftliche Ereignisse, die an einem Tag stattgefunden hatten, die Situation im Wesentlichen objektiv widerspiegeln. Eine Differenzierung und genauere Bewertung der Politik der beiden deutschen Staaten fanden unter der Bevölkerung nur in Ansätzen statt. Diskussionen haben damals meistens mit der Auffassung geendet: „Wir sind doch alle Deutsche.“ Doch stand man, so glaube ich, der Politik der DDR aufgeschlossener gegenüber, obwohl eine gespaltene deutsche Nation in zwei selbständige souveräne Staaten über nicht absehbare Zeiträume hinweg kritisch betrachtet wurde. Politiker beider Staaten hatten diese Sichtweise auch gefördert. Die Regierung der DDR unterbreitete z. B. mehrfach Vorschläge für eine Wiedervereinigung auf demokratischer, gleichberechtigter Grundlage. Es kam bekanntlich nicht dazu. Auch im Sport war die Zusammenarbeit noch nicht völlig zum Erliegen gekommen. In einigen Sportarten gab es gesamtdeutsche Meisterschaften noch bis Mitte der 50er Jahre. Insofern entsprach nach meiner Auffassung die Reaktion der Bergleute und der anderen Besucher des Bergmannfestes am 4. 7. 1954 der weit verbreiteten politischen Meinung der DDR-Bürger dieser Jahre: „Das Bestehen von zwei deutschen Staaten ist nur eine Übergangsperiode.“ Die politische Realität in den anschließenden Jahren korrigierte bald diese Annahmen unter der Bevölkerung.

Qualifiziert und ausgemustert: Wie ich die DHfK erlebte

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