Читать книгу Wenn ich denn laufe, dann laufe ich - Norbert Schläbitz - Страница 9
ОглавлениеMit einem Trick zum ersten Marathon
In Ostwestfalen-Lippe gibt es ein Städtchen mit Namen Bad Salzuflen. Eigentlich ein unscheinbarer Ort. Politisch korrekt dürfte man so was natürlich nicht sagen. Sicher hat Bad Salzuflen auch so seine Reize. Ich kenne sie nur nicht, und so erlaube ich mir zu sagen, ein eher unscheinbarer Ort. Dass er bekannt ist unter Läufern, liegt daran, dass dort laufsportlich recht früh in die Saison gestartet wird. Mitte/Ende Februar kann der ungeduldige Läufer seinen Bewegungsdrang kanalisieren, sich mit anderen in läuferischen Bahnen messen.
Eine schöne waldgeprägte Rundlaufstrecke fordert nicht nur die Auseinandersetzung mit anderen Mitläufern, sondern auch jene mit der Strecke. Schon bald nach dem Start von einer Straße aus ergießt sich der Strom von Läufern in den Wald und führt einen auf eine Rundstrecke von etwa 8 km Länge. Die Besonderheit jenes Laufes ist, dass er sich als Blockmarathon ausweist. Ich glaube, dass es sich um ein in Deutschland einzigartiges Lauf-Event handelt. Denn welche Gesamtstrecke man läuft, mit der man in die Wertung kommt, entscheidet sich erst beim Laufen. Nach jeder Runde kann Läufer wie Läuferin entscheiden, ob er oder sie zum Ziel hin abbiegen möchte oder ob er wie sie noch eine weitere Runde sich zutraut bis hin zum Marathon. Das ist einerseits sehr praktisch, denn man kann je nach eigener Form die Endlaufstrecke beeinflussen, andererseits aber auch gelegentlich belastend, denn der innere Schweinehund meldet sich jede Runde von neuem. Ihn gilt es stets neu zu überwinden.
Mich lockte im Jahr 2008 dieser Blockmarathon. Seit ca. einem halben Jahr trainierte ich mit Magda unter der Obhut von Ulrich, Rainer und mit ein paar anderen netten Leuten für den Marathon. Eigentlich stand der Start zum ersten Marathon erst im Mai an, und mancher Trainingskilometer wollte bis dahin noch gelaufen werden. Nach jenem halben Jahr Vorbereitung also mit Kilometer-Einheiten von maximal 10–15 km je Einheit wagten wir uns auch an die 20 km. Zu mehr hatte es noch nicht gereicht. Mit diesem Training schloss ich einen Marathon nicht grundsätzlich aus. Allein hier bewegte mich schon mein gedanklicher Übermut. Mit anderen Worten: Im Februar war ich für einen Marathon längst noch nicht fit, redete mir das noch zu Wenige aber schön. Es fehlten noch die ganz langen Läufe, die wir in unserer Laufgruppe LSD-Läufe nannten, was in der Übersetzung so viel heißt wie: „L“ong-„S“low-„D“istance-Lauf. Und doch war ich von Ungeduld erfüllt.
Und insgeheim übertölpelte ich mich trickreich selbst mit der Idee: Du musst ja gar nicht einen ganzen Marathon laufen, du kannst ja jederzeit abbiegen. Tief im Untergrund aber keimte doch der Glaube an den ganzen Marathon. Er wirkte ungemein. Nur sagen wollte ich es niemanden, mich mit der abbiegenden Einschränkung zugleich selbst nicht unter Druck setzen, um doch irgendwo mehr als nur mit dem ganzen Marathon im Hinterkopf zu spielen. Was immer vor solchen Läufen in einem freigesetzt wird, ich fühlte mich – allen mitgeführten Einwendungen zum Trotz – beflügelt. Die Aussicht auf einen ganzen Marathon. Das lockte sehr. Dass mein Training zum Marathon noch nicht taugte, schob ich, jener Einwendung vom vorzeitigen Zieleinlauf innerlich Geltung gebend, leichtfertig beiseite, aber doch zugleich wissend, dass mit jeder gelaufenen Runde der Wunsch nach einem ganzen Marathon stiege. Würde ich tatsächlich die Vernunft walten lassen nach gelaufenen 34 km? Es fehlten doch dann „nur noch“ 8 km. Wird schon irgendwie werden. Und das wurde es dann auch: Irgendwie.
Das Lehrgeld beim Marathon ist oftmals Folge der eigenen Unerfahrenheit. Zumindest bei mir war es so. Die Maxime, nicht zu schnell anzugehen, ist mir wohl bewusst, allein der Übermut lässt manchmal diese Maxime schnell in den Hintergrund treten. Hier, auf vereistem Grunde, im Februar, hatte ich gemeldet im Hinterkopf die Option der 42 km mit dem vielleicht, vielleicht ... vielleicht ja schon heute.
Der Marathon in Bad Salzuflen ist nicht leicht zu laufen. Es ist ein stetiges Auf und Ab über schmale Waldwege mit manchen knappen steilen Anstiegen als auch langen sanft ansteigenden Streckenverläufen. Das Laufen bergab vollzieht sich in ähnlichen Konstellationen. Konstant zu laufen ist eigentlich eine Illusion. Permanent muss man das Tempo wechseln aufgrund des unterschiedlichen Profils. Der Winter im Jahr 2008 war zudem ein ziemlich kalter und die Strecke zum Teil tiefgefroren. Beim Laufen war so stets auch Vorsicht geboten. Zu leicht die Gefahr des Sturzes auf harten Grund. Und hier startete ich mit eben jenem Alibigedanken: Du kannst ja jederzeit abbiegen, aber vielleicht ...
Der Übermut trug mich auch im Lauf fort, und meine mehr gefühlte als tatsächliche Form trug mich weiter bei jenem Marathon über die erste Runde. An meiner Seite war Anton, ein erfahrener Marathonläufer aus meiner Lauftreffgruppe. Mein Übermut ließ mich meinen Schritt etwas schneller ziehen als gedacht und die vorab geplanten Rundenzeiten unterschreiten. Wiewohl ganz richtig ist das mit dem Übermut so nicht. Irgendwo lauerte das: Was wird mit meinem Körper, wie reagiert er darauf, wenn ich in der ersten Hälfte des Laufes schon so hurtig laufe? Mein Geist manipulierte aus dem im Grunde zu flotten Tempo ein „… das wird schon werden“. Dem Übermut stand aber ein leichtes Unbehagen gegenüber, und die Mahnung manch geübten Marathonläufers und Trainingpartners, es gerade zu Beginn nicht zu übertreiben, begleitete mich von Anfang an. Und doch ... und doch: Ich fühlte meinen Körper voller Kraft, und so zog ich den Schritt, überholte auf dem glatten unwegsamen Grund so manchen, wo ich mir nicht sicher war, ob es recht war, dies zu tun.
Erschwerend kommt in Bad Salzuflen noch hinzu, dass die Wege sehr schmal sind, sodass das Überholen – grade zu Beginn, wo sich eine große Menge in den schmalen Trichtergrund zum Waldweg hin ergießt und man erst noch seine Position finden muss – mit größerer Anstrengung verbunden ist. Dazu gilt es manchmal den Weg zu verlassen, herauszutreten auf vielleicht noch glatteren Grund oder über Wurzelgeflechte seinen Weg zu suchen. Wie man Kraft vergeudet, habe ich bei diesem Lauf ganz schnell gelernt. Links raustreten, rechts raustreten, sich vorbeidrücken, nur um in der endlosen Schlange von Läufern zwei, drei Positionen weiter vorne zu landen, dabei den nächsten schon ins Visier nehmend. Im Grunde idiotisch, aber dieser Idiotie war ich erlegen. Nur nicht zu viel Zeit gleich zu Beginn verlieren.
Die immer wieder gehörte Mahnung erfahrener Marathonläufer, was man zu Beginn zu schnell angeht, verliert man am Ende doppelt und dreifach, wurde vom Ehrgeiz überdeckt. So ließ ich mich treiben die ersten drei Runden; schon in Runde zwei spürte ich einen leichten Kräfteverschleiß, den ich mir schönredete. Erst in Runde drei, so ab Kilometer 23 oder 24, konnte keine Schönfärberei mehr überdecken: Das Tempo konnte ich nicht halten. Es brauchte dann noch ein, zwei Kilometer und vor allen Dingen eine steile, vielleicht 20 m lange steile Anhöhe, um Anton zu signalisieren: Lauf weiter, ich suche mir ein eigenes Tempo. Zugleich keimte eine kleine Unlust in mir auf, zu spüren, dass Kopf und Beine sich nicht mehr recht synchronisiert zeigten. Die Beine konnten nicht, was der Kopf zuvor noch eingefordert hatte. Und so lief Anton fort, auch kein schönes Gefühl. Es wuchs das bange Gefühl: Wie wird das jetzt wohl werden? Mich beschlich damals eine leichte Unwucht, so möchte ich es nennen. Der Körper muss sich neu finden, sein Tempo angleichen, vermindern. Zugleich geht damit einher, dass andere Läufer beginnen, einen zu überholen. Die errungene Position in der langen Schlange geht verloren. Man wird, ich wurde sozusagen durchgereicht (das entmutigt zusätzlich), bis ich eine neue, meiner Geschwindigkeit angemessene Position gefunden hatte (um mich herum nunmehr Läufer, die meinem neuen Tempo gemäß waren). Das alles fühlte sich an wie eine Niederlage, geplagt war ich zudem von Selbstzweifeln. Diese wuchsen umso mehr, als ich spürte, dass auch diese neue Position eine wackelige wurde, denn auch dieses Tempo schien meiner Laufform nicht angemessen. Ob ich das würde halten können?
Ich hatte einen Großteil meiner Kraft auf der ersten Hälfte – wie ich erkannte – vergeudet. Ich spürte das neue Tempo in den müder werdenden Beinen. Aber wieder war es mir unmöglich, mir einzugestehen, dass ich immer noch zu schnell lief. Trotz der Befürchtung, noch weiter zurückgereicht zu werden, hielt ich das Tempo, so gut ich konnte. Ich redete mir das schön: Du kannst ja aufhören nach dieser 3. Runde, wissend, dass ich der ursprünglichen Planung nachhing und ihr Folge leisten wollte. Der Hinterkopf führte nach wie vor Regie. Wenigstens noch Runde 4, so redete ich mir sogleich zu. Ein listiger Gedanke, denn im Hinterkopf wusste ich um die Idee: Dann fehlt doch nur noch eine Runde, will ich dann wirklich so „kurz“ vor dem Ziel noch abkürzen?
Mein Übermut war mir spätestens zwischen den Kilometern 25–30 abhanden gekommen. Erfüllt war ich nun von dem Bemühen, meinen Körper irgendwie über die Runden zu bringen. Und das war beileibe kein leichtes Unterfangen. Dieser immer wieder mal verflucht rutschige Untergrund kostete zusätzlich Energie. Dann die steilen Anhöhen, oftmals gar nicht lang. Aber die hatten es in sich. Berge konnte ich noch nie laufen. Da spürte ich fast unmittelbar, wie die Kraft mir entzogen wurde, so als ob ein Ventil geöffnet würde. Noch schlimmer als die kurzen, knackigen Anstiege war aber eine langgezogene, leicht ansteigende und vielleicht zwei bis drei Kilometer lange mehrfach geschwungene Kurve. Sie schien kein Ende zu nehmen. Sie wurde mir von Runde zu Runde länger. Und am Ende dieses Anstieges stand alsbald die Entscheidung an: Nächste Runde oder Abbruch? Ich hätte ja auch „Zieleinlauf“ denken können. Mir stand dabei immer nur der weniger schöne Gedanke an „Abbruch“ im Sinn. Es hätte sich wie eine Niederlage angefühlt, abzubiegen jetzt zum Ziel. Und diese Entscheidung wartete nach diesem zwar sanften, aber langen, langen Anstieg. Gegen Ende des Anstiegs konnte ich die Beine kaum noch heben. Die Oberschenkel waren so müde. Nur mein Wille ließ sie voranbewegen.
Obendrein kam das, was ich bislang nur aus Erzählungen kannte: Krämpfe – erst in der linken Wade, dann in der rechten. Endlich auch mal in den Oberschenkeln. Die Krämpfe hießen mich jedes Mal stehen zu bleiben, um den Krampf zu lösen, zu spüren, dass dies nur unzulänglich gelang, um dann irgendwie doch weiterzulaufen.
In jeder Runde läuft man zwei Verpflegungsstellen an: Zu Beginn habe ich mich im Modus Laufen mit Tee oder Wasser versorgt. Ab Runde drei sehnte ich diese Verpflegungsstellen herbei. Sie gaben mir das Alibi, stehen bleiben zu dürfen. Ich humpelte sie an, so gut ich konnte, schlürfte dort meinen Tee, genoss jede Sekunde, wissend, dass es ja noch weiterging. Eine nette Dame, die mir in Runde vier einen Becher reichte, fragte mich, dem Irrtum erlegen, ich wäre schon in der letzten Runde: „Na, aber jetzt geht es doch wohl ins Ziel? Es ist ja nicht mehr weit.“ Meine Antwort, dass ich noch eine weitere Runde müsste, entlockte ihr den ehrlichen und bestürzend echt klingenden Ausruf: „Um Gottes willen!!!“ Ich musste wohl so aussehen, wie ich mich fühlte. Aufbauend war dieser Ruf gleichwohl nicht. Er spiegelte meine innere Verfassung nur allzu deutlich wider. Du musst unglaublich Scheiße aussehen. Das traf es wohl am genauesten.
Von dieser Wasserstelle an baute ich auch Gehpausen zwischen denselben ein. Zunächst erlaubte ich mir nach jedem gelaufenen Kilometer eine Gehpause von etwa 100 m. Dann aber, endlich in Runde fünf, vielleicht noch fünf Kilometer vom Ziel entfernt, verkürzte ich dieses Intervall rapide: 200 m gehen folgten 200 m – nennen wir es – schlurfen, denn laufen war es längst nicht mehr. Unter großen Mühen und mit jeweiligem Bedauern verließ ich jedes Mal den Gehmodus, um die Simulation eines irgendwie Laufens herbeizuführen. Manchmal bekam ich aufmunternde Rufe von Vorbeilaufenden: „Komm, wir laufen zusammen.“ Jeder Versuch, einer solch freundlichen Aufforderung nachzukommen, scheiterte sehr schnell. Alsbald gab ich es auf, einem solchen Angebot auch nur wenige Meter Folge zu leisten.
Ich war mit mir nicht ganz einig, ob mich solche Angebote aufmunterten und mir halfen oder ob sie mir den letzten Rest gaben, spätestens dann, wenn ich mir eingestehen musste, das macht überhaupt keinen Sinn, es auch nur zu versuchen. Was mich wunderte, war, dass ich nicht längst ans Ende des Feldes gerutscht war. Immer wieder mal wurde ich wieder und dann wieder überholt. Letzter war ich – wie ich später feststellte – noch lange nicht. Das schien mir wie ein Wunder, bei dem Tempo (wobei die Begrifflichkeit „Tempo“ einem Euphemismus gleicht), das ich anschlug.
Anfänglich hatte ich noch öfter auf die Uhr geschaut und frohlockt, wenn ich sah, dass ich unter der geplanten Zeit lief. Irgendwann ließ ich das bleiben. Statt einer Endzeit stand nur noch ein einziger Gedanke im Raum entlang der Strecke: Einfach nur ankommen. Es schien mir, als ob an jedem Baum dieses kleine Motto nur für mich und wenige andere unsichtbar geschrieben stand. Und das tat ich dann auch: ankommen. Irgendwann wusste ich, nach Passieren endloser imaginärer Schilder mit jenem unscheinbaren Motto, dass ich tatsächlich ankommen würde. Das gab zwar keine neue Kraft, aber immerhin doch eine alle Unpässlichkeiten weiter ertragende Motivation.
Der Zieleinlauf selbst geht abwärts, was mir half, meinen Körper zu richten, eine halbwegs gescheite Laufhaltung einzunehmen. Es half mir, so was wie eine Art Endspurt hinzulegen, um dann endlich stehen bleiben zu dürfen, nach genau 42,195 km. Im Untergrund schlummerte sogleich eine erste glimmende Freude, aber der zu lange strapazierte Körper überlagerte dieses Gefühl noch. Zwei, drei Positionen vor mir war ein Läufer ins Ziel getrudelt, der zusammen mit seinem weißen Husky die Strecke bewältigt hatte. Auch an dem Hund war die Strecke nicht unbeeindruckt vorübergegangen. Nach dem Zieleinlauf legte jenes schöne Tier sich erschöpft zur Seite und war von nichts zu bewegen, seine vier Pfoten nochmals in Bewegung zu setzen. Mein Wunsch, mich daneben zu legen, war riesengroß. Und doch bei aller Erschöpfung, die Freude glimmte im Stillen weiter, bis sie ein flackernd-kleines Feuer wurde: Ich war ein Marathoni nun.