Читать книгу Prag. Eine Stadt in Biographien - Norbert Schreiber - Страница 10
ОглавлениеJUDAH LÖW
ca. 1512–1609
Der Prager Rabbi Judah Löw gilt als der Schöpfer einer weltberühmten Figur – des Golems. Diese Fantasiegeschichte hat durchaus einen ernsthaften Hintergrund. Eine Spurensuche in Prag.
Gelehrter oder faustischer Zauberlehrling? Als jüdischer Frankenstein hat der Rabbi den »Golem« aus Lehm erschaffen. Und das ist nicht einmal eine wahre Geschichte … Dabei ist es der Gelehrte selber, der die Quellenforschung über alles stellt und als Geistesgröße seiner Zeit sehr viel mehr in der Aufklärung und Pädagogik bewirkt hat, als die Öffentlichkeit heute annimmt. Seine Forschungen blieben eher im Verborgenen, doch die Legende um den Golem ist so hartnäckig mit seinem Namen verbunden, dass heute kaum jemand wahrnehmen will, dass er eigentlich mit dieser Monstergeschichte nicht viel, manche sagen sogar gar nichts zu tun hatte.
Wer den Starý židovský hřbitov (Alter Jüdischer Friedhof) 1 ( ▶ F 3) besucht, findet seinen Grabstein unter den 12 000 anderen Ruhestätten und fast seinen gesamten Lebenslauf in Stein gemeißelt. Da wird seine Barmherzigkeit gelobt, die offenbar keine Grenzen kannte. Mit Leib und Seele war er wohltätig, baute ein Heiligtum, Tempel, Bäder und Spitäler, ließ Straßen pflastern und legte einen Friedhof an und lehrte Zehntausenden die Heilige Schrift. Mit anderen Worten beschreibt der Erzähler Wilhelm Raabe diesen mystischen Ort: »Ich sah die unzähligen aneinander geschichteten Steintafeln und die uralten Holunder, welche ihre knorrigen Äste drum schlingen und drüber breiten … Dann saß ich nieder auf einem schwarzen Steine aus dem vierzehntem Jahrhundert, und der Schauer des Ortes kam in vollstem Maße über mich.«
Es ist noch heute eine lebendige Legende und Gespenstergeschichte, die den Rabbi weltweit berühmt gemacht hat: die Geschichte vom Golem. Gerade hat das 16. Jahrhundert begonnen, die Straßenmusikanten, Gaukler und Wasserträger, die ehrbaren Kaufleute, frommen Männer und Frauen, auch die unfrommen, sie alle leben gemeinsam im jüdischen Ghetto. Kaiser Otto I., genannt der Große, hat sie bereits im 10. Jahrhundert nach Prag geschickt, weil dort ein Markt vorhanden ist, um fleißig Handel zu betreiben.
Chronisten berichten, dass die Juden den Christen im Kampf gegen die Heiden beigestanden haben und deshalb in Prag Ansiedlungen gründen durften: auf der Kleinseite 22 ( ▶ C 4), am Vyšehrad und etwas später in der Umgebung der Altneusynagoge (Staranová synagoga). Die Juden lebten rund um die Pinkas-Gasse, die Breite Gasse sowie in einer Hälfte der Rabbiner Gasse und in drei kleinen, zum jüdischen Friedhof führenden Sträßchen. Sechs Pforten begrenzten das Viertel, das später Josefov (Josefsstadt) heißen wird, weil Österreichs Kaiser Joseph II. im Ghetto eine tolerantere Politik gegenüber den Juden zuließ. Die aus dem Westen zugewanderten Juden fanden Heimstatt rund um die Altneusynagoge, die aus dem Byzantinischen Reich Ankommenden in der Nähe der heutigen Španělská synagoga (Spanischen Synagoge) 31 ( ▶ G 3).
Zentren der jüdischen Gelehrsamkeit in Prag waren die utraquistisch orientierte Universität (die utraquistischen Anhänger der Reformbewegung plädierten für die Feier des Abendmahls mit Brot und Wein), die neue Jesuitenschule in St. Klemens und die Jeschiwot (Talmudschulen) in der Judenstadt. Ihr wichtiger Repräsentant neben Mordechai Maisel war Judah Löw, Rabbi Löw genannt, oder mit vollem Namen: Rabbi Jehuda Liva ben Becalel. Weder sein Geburtsort noch seine Geburtsdaten sind sicher bekannt, doch das verhinderte nicht, dass der Talmudlehrer heute – im Wortlaut von Peter Demetz – als »originellster und schärfster Denker der Judenstadt« gilt. Er wirkte als Administrator und Rechtsexperte, arbeitete an Steuerreformen und an der Umgestaltung des jüdischen Rituals in den Gottesdiensten.
WER ODER WAS IST DER GOLEM?
Das seltsam klingende Wort »Golem« kommt aus dem Hebräischen und bedeutet Ungeformtes oder Embryo. Ein Golem ist also auch etwas nicht Vollendetes. Luther übersetzt das Wort mit unbereitet. Der Begriff wird auch gebraucht für unvollkommene Materie oder verwendet für eine Frau, die noch nicht geboren hat. Legenden um den Golem sind schon aus dem 12. Jahrhundert bekannt, als Mystiker in ihren Traktaten davon sprechen, man könne durch Zahlen und Buchstaben Menschen Leben einhauchen. Unter der Kabbala wird die mystische Tradition des Judentums verstanden.
Bei den entsprechenden Fähigkeiten war es eben dann auch Rabbi Löw, der das Monster geschaffen haben soll: »Ich beanspruche Eure Mitarbeit deshalb, weil zu dieser Schöpfung vier Elemente nötig sind: Du, Jizchak, bist das Element Feuer, Du, Jakob, das Wasser, ich selbst bin Luft, wir werden miteinander aus dem vierten Element Erde den Golem schaffen.«
Nicht die 13 wissenschaftlichen Abhandlungen interessieren also heute die Touristen bei der Besichtigung des jüdischen Viertels Josefov, sondern die weit verbreitete Golemsage. Sie kaufen sich die Lehmfiguren in den Tourismusshops, jenen Golem, der von Gustav Meyrink zur Hauptfigur im mystischen Roman wird und der bis heute Stoff für Erzählungen in vielen Variationen für Autoren und Filmemacher abgibt.
Durch die Jahrhunderte wird diese künstliche Figur mythologisiert: Der Golem sei die Belebung eines toten Körpers. Es wird eine Art Ungeheuer geschaffen, eine gefühllose Materie, die weder einen menschlichen Willen noch die Fähigkeit zur Sprache hat. In anderen Varianten wird der Golem als Roboter dargestellt, als maschinelles Modell oder als Pazifist und Retter der jüdischen Gemeinde, sozusagen als menschliches Instrument im Kampf gegen die Judenverfolgung. Bei Gustav Meyrink, dem Klassiker der fantastischen Literatur, heißt es: »Wissen Sie schon, der Golem geht wieder um? … Und wieder hat es, wie immer, mit einem Mord begonnen – ich horchte erstaunt auf: Ein Mord?«
Es ist die Zeit der Judenverfolgungen: Bodenbesitz, Landwirtschaft, Handwerk waren verboten, nur der Finanzhandel erlaubt, die Juden wurden in abgetrennte Viertel (Ghettos) gedrängt und mussten – ähnlich wie bei der späteren generell verordneten Stigmatisierung durch Hitlers Judenstern – schon im Mittelalter einen gelben Ring auf der Brust tragen. Die Juden wurden des Ritualmordes, der Brunnenvergiftung und der Hostienschändung beschuldigt. Immer wieder kam es zu Gewaltexzessen. Ein besonders blutiges Judenpogrom ereignete sich bereits unter der Regierung Wenzel IV. Häuser und Gräber wurden geplündert, mehr als 3000 Tote waren zu beklagen.
Auch in der Abwehr der Gewalt gegenüber Juden lag also ein Motiv, den Golem zu schaffen. Er ist auch als eine Projektionsfläche zu verstehen, die aus Träumen und dem Unbewussten heraus entsteht, eine Traumfigur also, die auf Befehl töten kann und gehorsam Befehle ausführt. Die Golemfigur entsteht durch Worte, durch Kabbala, also durch Zahlen- und Buchstaben-Kombinationen, durch astrologische oder chemisch-alchemistische Fähigkeiten seines Schöpfers: »Und er blies ihm den lebendigen Odem in seine Nase, und also ward der Mensch ein lebendiges Wesen«, so steht es in der Golemerzählung von Gustav Meyrink.
Eine der ersten gedruckten Versionen der Golemlegende erscheint ursprünglich 1841 in der deutschsprachigen Prager Zeitschrift »Panorama des Universums«. Der Filmregisseur Paul Wegener drehte drei Stummfilme, die das Thema Golem aufgreifen. Auch in einer Kafka-Erzählung entsteht der Golem aus Buchstabenkombinationen. Und Egon Erwin Kisch suchte die lehmig-sterblichen Überreste des Golems auf dem Dachboden der Synagoge.
Mirjam Pressler schrieb in ihrem Buch »Golem stiller Bruder« über Onkel Rabbi Löw. Aber wie immer bei gefährlichen Schöpfungsakten durch den Menschen war wieder einmal ein Irrtum, ein Fehler, im Legendenspiel. Löw hatte vergessen, dem Golem das Sabbat-Amulett aus dem Mund zu nehmen, dieses war sozusagen die Chipkarte zur Belebung oder Ruhigstellung des Robotermenschen. Der Golem lief tobend durch die Judenstadt und wollte alles niederreißen. Rabbi Löw holte den Golem heim, rief den Diener, und sie lasen dann beide die Worte aus dem »Buch der Schöpfung« rückwärts. Da ward das Ungeheuer wieder zum Lehmkloß. »Der erstarrte Golem wurde nachher mit alten Gebetmänteln und Resten von Büchern, die nach jüdischer Gepflogenheit auf dem Synagogen-Dachboden aufbewahrt werden, zugedeckt.«
Die Verfolgung der Juden durch die Jahrhunderte, auch die Zeit der Judenvernichtung durch die Nazis, hat die meisten Spuren jüdischen Lebens in Prag ausgelöscht. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden insgesamt über 80 000 Juden aus Böhmen und Mähren ermordet, die meisten in Theresienstadt. Zuvor hatten eine Feuersbrunst sowie die Pest gewütet, und zerstörend wirkte sich auch die Stadtsanierung wegen der miserablen hygienischen Verhältnisse aus, die nur ein paar Gebäude verschonte: das Rathaus, einige Synagogen und den Alten Jüdischen Friedhof.
EIN GANZES VIERTEL ALS MUSEUM
Mit einem Zeremoniensaal und einem Bildungs- und Kulturzentrum ist der gesamte Komplex heute als Jüdisches Museum 19 ( ▶ F 3) organisatorisch zusammengefasst. Es zeigt eine der größten Judaica-Sammlungen der Welt. Neben der Maisel- und der Pinkas-Synagoge sind die Altneusynagoge und die Spanische Synagoge die bedeutendsten. Die Altneusynagoge, auch Altneuschul oder Staranová synagoga, wurde im 13. Jahrhundert gebaut, vermutlich auf den Fundamenten einer älteren. Sie ist die älteste erhaltene Synagoge in Europa, einer der frühesten gotischen Bauten Prags und bis heute das Zentrum jüdischen Lebens in Prag. Die Spanische Synagoge wurde 1868 errichtet; sie trägt ihren Namen, weil sie im maurisch orientalisierenden Stil aufgebaut wurde. Und im Hof des Jüdischen Museums steht eine abstrakte Golem-Bronzeplastik von der amerikanischen Bildhauerin Pearl Amsel.
Für Rabbi Löw schuf der Dichter Friedrich Adolf Axel Freiherr von Liliencron ein lyrisches Wort-Denkmal:
»Nicht noch einmal hat der Rabbi
Einen Golem sich geschnitzelt,
Jede Lust war ihm vergangen:
Allzu klug ist manchmal dumm«.
(Spanische Synagoge)
Vězeňská 1, Josefov
▶ Metro: Staroměstská, Tram: Právnická fakulta oder Staroměstská
STARÝ ŽIDOVSKÝ HŘBITOV, GRAB JUDAH LÖWS 1 ▶ F 3
(Alter Jüdischer Friedhof)
U starého hřbitova 243/3 a, Josefov
▶ Metro: Staroměstská, Tram: Staroměstská
ŽIDOVSKÉ MUZEUM V PRAZE 19 ▶ F 3
(Jüdisches Museum)
U Staré školy, Červená 250/2, Josefov
▶ Metro: Staroměstská, Tram: Staroměstská oder Právnická fakulta