Читать книгу Prag. Eine Stadt in Biographien - Norbert Schreiber - Страница 9
ОглавлениеJAN HUS
ca. 1369–1415
Heiliger oder Ketzer? Nationaler Held oder Verräter? Als Religionsreformator stirbt der tschechische Prediger für seine unverrückbare Glaubenswahrheit im Feuer des Scheiterhaufens.
Da steht er mit erhobenem Haupt, stolz, unbeirrbar, im weiten Gewand, auf riesigen Steinquadern und blickt aufden Altstädter Ring, auf Teynkirche und Nikolauskirche und das Altstädter Rathaus 2 ( ▶ G 4). Zu Füßen des Religionsreformers liegen in Stein gemeißelte Menschen, die zu ihm aufblicken. Im Fundament des Jan-Hus-Denkmals 17 ( ▶ G 4) ist sein »Glaubensbekenntnis« eingemeißelt: »Die Wahrheit wird siegen.«
1901 gewinnt der tschechische Bildhauer Ladislav Šaloun, der dem Symbolismus der tschechischen Jugendstilepoche zugerechnet wird, den Bildhauerwettbewerb und arbeitet 14 Jahre lang am Denkmal, das zum 500. Todestag von Jan Hus enthüllt wird. Das Wahrheitspostulat gehört heute zu den tschechischen Staatssymbolen, und die jungen Leute – Einheimische wie Touristen – sitzen im Sommer ungezwungen in der Nähe des Reformators und genießen ihre Freiheit, in einem demokratischen Land zu leben, was in Prag lange Zeit keine Selbstverständlichkeit war. Jeden 6. Juli begehen die Tschechen einen Feiertag, weil Jan Hus sich an diesem Tag, dem 6. Juli 1415, endgültig geweigert hatte, seine Glaubenslehre zu widerrufen.
In jener dunklen Zeit, zu Beginn des 15. Jahrhunderts, regierten zwei Päpste, einer in Rom, einer in Avignon, und geldgierige Ablasshändler gingen ihrem überaus irdischen Geschäft nach. Die Regenten stellten den weltlichen Machtanspruch der Kirche in Frage und lagen in kriegerischen Streitigkeiten untereinander. Schon lange festgefügte Glaubensbekenntnisse und Religionssätze wurden kontrovers diskutiert und von einfachen Menschen wie von Kirchenleuten und Wissenschaftlern zur Disposition gestellt.
Jan Hus hatte von dem englischen Bibelübersetzer John Wyclif und seinen reformerisch-revolutionären Ideen gehört. Warum musste die Kirche weltlichen Besitz ihr Eigen nennen? War das katholische Papsttum nicht unendlich korrupt geworden? Die Priester frönten dem verwerflichen Ablasshandel. Nein, allein das Gewissen des Gläubigen sei es doch, was vor Gott zählt. Nur die Bibel sei die religiös begründete Autorität und Christus, der Herr, das einzig legitime Oberhaupt der Kirche.
Das meinte auch Jan Hus und schrieb 1413 sein kirchenkritisches Werk »De Ecclesia« (Über die Kirche). Sie hat eine hierarchiefreie Gemeinschaft zu sein. Hus’ Glaubenssätze wirkten wie Sprengsätze, angebracht an den Fundamenten der katholischen Kirche, um sie schon 100 Jahre vor Luther aus Wittenberg für immer in den Grundfesten zu erschüttern. Wie der Begründer des Protestantismus Martin Luther später wollte auch Hus, dass das Volk die Bibel in der eigenen Muttersprache lesen konnte. Und seine fundamentale Kritik machte auch vor der Obrigkeit nicht Halt: Der Papst und die Kardinäle seien ihres Amtes nicht würdig. Mit ihrer üppigen Kleiderpracht, ihrer Prunksucht, der wuchernden Habgier seien sie nicht als Stellvertreter Christi anzusehen, sondern des Satans.
Hus bezweifelte auch, dass der Papst als das absolute Oberhaupt der Kirche anzusehen ist; zum Heile und Gedeihen der Kirche sei das Amt gar nicht notwendig. Nicht das Amt mache den Priester, sondern der Priester das Amt. Im offiziellen päpstlichen Auftrag wurde in Prag ein groß angelegter Ablasshandel betrieben, im St.-Veits-Dom ( ▶ B 3), in der Teynkirche und in der Kirche St. Jakob standen große Eisenbehälter, Händler zogen mit Pfeifen und Trommeln durch die Stadt, um für das kirchliche Angebot zu werben, sich von allen erdenklichen Sünden einfach freikaufen zu können. »Wird durch eine solche Lehre nicht die Gerechtigkeit Gottes ganz und gar aufgehoben, wenn Jeder, der Geld gibt und sich den Ablaß kauft, ohne alle Scherereien sofort nach dem Tode in den Himmel kommt?«, predigte Hus an einem Osterdienstag.
JAN HUS UND DER KOMMUNISMUS
Es war dem Reformator und Kirchenkritiker nicht in die Wiege gelegt, zum rebellierenden Protestanten und wirkungsmächtigen Aufrührer gegen das Papsttum zu werden. Jan Hus wird um 1369 in Husinec geboren, besucht die Lateinschule, beginnt an der Universität in Prag das Studium der Theologie. 1402 wird er zum Prediger der Betlémská kaple (Bethlehemskapelle) 5 ( ▶ F 5) berufen. Sie wird zwischen 1950 und 1954 von den Kommunisten rekonstruiert – die alte Kapelle war im 18. Jahrhundert zerstört worden. Mit schlauer Dialektik reklamierten die Kommunisten Hus für sich. Seine Protestbewegung gegen die katholische Kirche zeige eben den Widerstand der einfachen Volksmassen gegen die Feudalgesellschaft des Spätmittelalters. Der damalige Ministerpräsident Klement Gottwald begründete den Wiederaufbau mit den Worten: »Schon vor einem halben Jahrtausend kämpften Prager für den Kommunismus.«
Neben den Grundmauern stammt von der ursprünglichen Bethlehemskapelle des Mittelalters nur noch die Tür, durch die Jan Hus die Kirche betrat. Mit ihrem rechteckigen Grundriss, der Balkendecke aus Holz, einer Predigtkanzel und den hohen Bogenfenstern war sie Vorbild einer Kirche, in der nicht der Altar, sondern die Kanzel im Mittelpunkt steht. Das Gebäude gehört heute der Tschechischen Technischen Universität Prag.
Die Spuren von Jan Hus in Prag sind aber nicht nur in der Bethlehemskapelle zu finden. Auf ihn geht eine Glaubensrichtung zurück: Die Hussitische Kirche gilt als spezielle nationale tschechische Glaubensrichtung und ist zwischen Protestantismus und Katholizismus einzuordnen. Die Hauptkirche der modernen Hussiten in Prag ist die Kostel svatého Mikuláše (St.-Niklas-Kirche) 33 ( ▶ B 3) am Altstädter Ring. In der Martinská steht die Kirche Kostel svatého Martina ve zdi (St. Martin in der Mauer). Das kleine Gotteshaus heißt so, weil es baulich in die Befestigungsmauer der Altstadt integriert war. Heute ist St. Martin im Besitz der deutschsprachigen evangelischen Kirchengemeinde, die übrigens auch Hus-Spaziergänge anbietet.
Ein weiterer Haltepunkt auf einem solchen Weg durch die Stadt ist die Chrám Panny Marie Sněčné (Kirche Maria Schnee) nahe dem Wenzelsplatz 36 ( ▶ J 7). Sie war das Zentrum der radikalen Hussiten. Die gotische Teynkirche (Kostel Panny Marie před Týnem) dagegen war die Zentrale der Utraquisten, der gemäßigten Hussiten. Weil sie die Kommunion mit Brot und Wein, also reformiert feierten, war ihr Zeichen ein großer goldener Kelch, der zwischen den Türmen befestigt war. In der Gegenreformation wurde dieser wieder entfernt und durch eine Marienstatue ersetzt.
Aufgrund seiner Thesen und seiner steigenden Anhängerschaft wird Jan Hus zur Zielscheibe zahlreicher Beschwerden beim Bischof. Mit Erfolg, fortan darf er sein Priesteramt nicht mehr ausüben und verliert auch sein Amt als Professor an der Karls-Universität (Univerzita Karlova v Praze). Er wird aus Prag verbannt, worauf Unruhen ausbrechen. Der Gegenpapst Alexander V. ordnet nun die Verbrennung der Schriften von John Wyclif und die Verfolgung seiner Anhänger an. König Sigismund möchte die Einheit der katholischen Kirche retten und regt für 1414 das Konstanzer Konzil an. Sigismund und Gegenpapst Johannes XXIII. hatten Hus in einem Geleitbrief Schutz und Sicherheit angeboten, doch er wird nach seiner Ankunft in Konstanz bald verhaftet.
Die Sitzungen des Konzils finden im Kirchenschiff des Konstanzer Münsters statt. Die Kirche erwartet den Widerruf des Reformators, Hus weigert sich aber trotz mehrerer Verhöre hartnäckig: »Ich kann auch die vielen Menschen nicht enttäuschen, denen ich gepredigt habe. Ich will nicht widerrufen! … Ich schrieb diesen Brief im Kerker und in Ketten mein Todesurtheil morgen erwartend in der vollen Hoffnung zu Gott, daß ich von der Wahrheit nicht weichen und die Irrthümer, welche mir falsche Zeugen aufgebürdet haben, nicht abschwören werde.«
Damit hatte die letzte irdische Stunde des Jan Hus geschlagen. Der Abgeurteilte wird dem Henker zur Vollstreckung übergeben. Alle seine Schriften in lateinischer wie tschechischer Sprache sind mit dem der Religionsrebellen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Die Henker nehmen ihm die Messgewänder ab, während sie Flüche gegen ihn ausstoßen. Sie setzen ihm eine Papiermütze auf, um ihn als Häretiker, der von der offiziellen Glaubenslehre abweicht, zu brandmarken, und setzen den Scheiterhaufen in Brand. Später zermalmen sie seine Knochen und zertrümmern mit Knüppeln den Schädel, als hätten sie den Leichnam des Reformators noch nachträglich inquisitorisch zu quälen und zu foltern. So brutal sind die Sitten im Mittelalter.
DAS GRAUSAME MITTELALTER
Im Torture Museum 13 ( ▶ E 4), im mittelalterlichen Foltermuseum, werden die Methoden auf drei Etagen ausgestellt: der Inquisitionsstuhl mit Nägeln, der »spanische Kitzler«, um die Haut herunterzureißen, Metallkäfige und Streckbänke, Pranger und Hexenstühle, Spieße zum Pfählen. Waren bei Hus noch irgendwo Reste seiner Glaubenssätze vorhanden, wenn nicht im Geiste so doch im Herzen, so spießten sie es sicherheitshalber auf und brieten es in den lodernden Flammen, bis davon nicht mehr als Asche übrig geblieben war.
Die Hinrichtung zu Konstanz kann jedoch der Wirkmächtigkeit des Reformators Jan Hus nichts anhaben. Seine Anhänger, die Hussiten, führen Religionskriege mit ausufernder Gewalt, zum Beispiel die Prager radikalen Kräfte. Die Stadt zieht die abtrünnigen europäischen Religionsgruppen geradezu an. In Massenversammlungen hören sie alle die neuen Religionslehren, sie demonstrieren, greifen zu den Waffen, verjagen die Priester, gehen mit Knüppeln, Schwertern und Messern vor, sie brechen in Kirchen ein, zerreißen Heiligenbilder, plündern und vertreiben die Mönche aus ihren Klöstern. Im mittelalterlichen Rotlichtviertel der Prager Altstadt treiben sie die Mädchen aus den Bordellen und zerstören das Viertel.
Von 1419 bis 1434 wird Prag und das Königreich Böhmen zu einem riesigen Schauplatz der Gewalt, denn die mächtigen Habsburger und das kirchliche Rom haben sich verbündet, um den tschechischen Reformatoren ein für alle Mal den Todesstoß zu versetzen. Der Historiker Leopold von Ranke, ein Verwandter des bekannten englischen Schriftstellers Robert von Ranke-Graves, schrieb im 19. Jahrhundert treffend: »Erst, da Hus tot war, wurden seine Gedanken eigentlich lebendig.«
(Bethlehemskapelle)
Betlémské náměstí 255/4, Staré Město
▶ Metro: Národní třída oder Můstek, Tram: Národní třída
Staroměstské náměstí (Altstädter Ring), Staré Městoa
▶ Metro: Staroměstská oder Můstek, Tram: Staroměstská
(Foltermuseum)
Křížovnické náměstí 194/1, Staré Město
▶ Metro: Staroměstská, Tram: Karlovy lázně