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Tschoulao liebte die Ordnung. Die Ordnung verlieh dem Leben Sinn. Ordnung bedeutete, zwischen gut und richtig, wahr und falsch zu unterscheiden. Ordnung war größer als der einzelne Mensch mit seinen kleinlichen Wünschen. Ihm stand es gut an, sich unterzuordnen, wenn er des großen Sinns teilhaftig werden wollte. Die Alten hatten dies gewusst, sonst hätte das Reich mit seiner langen Abfolge von Kaisern nicht Jahrtausende überdauert und wäre nicht aus jeder Krise in neuer Pracht wiederauferstanden. Und auch die Partei wusste es und duldete keine Widersacher neben sich, welche die Menschen hätten in Verwirrung stürzen und das kostbare Gebäude des Staates gefährden können. Indem sie ihre Macht eifersüchtig hütete, schützte sie das große Ganze. Die Partei war klüger als der Einzelne. Der hatte nur zwei Augen. Die Partei hatte viele.

Auch Tschoulao hatte sein Leben lang seinen Beitrag geleistet, und er tat es noch immer, als Nachbarschaftswächter. Im Hutong war das einfach gewesen. Die Hälfte des Lebens spielte sich auf den Gassen und in den kleinen Innenhöfen ab. Jeder kannte jeden, nichts blieb verborgen. Er war ein respektierter Mann gewesen, mit dem man gerne sprach und den man um Rat fragte, wenn es Probleme mit der Ausbildung der Kinder oder der Medikamentenrechnung gab. Seine »Drähte« – so nannte er die Kontaktleute, denen er zweiwöchentlich Bericht erstattete – waren kein Stigma gewesen, sondern Ansprechpartner, an die man sich wandte, wenn es irgendwo hakte. Sie waren ein Teil des Lebens gewesen, so wie er ein Teil des wimmelnden, stinkenden, verfallenden Hutongs gewesen war.

Jetzt wohnten sie in neuen, modernen Häusern. Sie sahen fern an der Wand, es stank nicht mehr nach Schimmel und Pisse, doch die Probleme waren nicht geringer geworden. Mal war das Leitungswasser rot von Rost, mal kam es in den obersten Stockwerken gar nicht erst an. Mal gab es einen Kurzschluss in der Wand, dann wieder war der Lift ausgefallen, oder jemand hatte das Treppenhaus verunreinigt. Geld hatten die Leute auch nicht mehr als früher, doch es schien so, als wären mit der Höhe ihrer Behausungen ihre Ansprüche ins Unermessliche gewachsen. Hatte er etwa die Kabel mit der brüchigen Isolierung in die Wand eingebaut? Konnte er etwas dafür, wenn der Wasserdruck in den Leitungen nicht ausreichte? Und weshalb verstellten sich andauernd ihre Fernsehwände? Mit allem Ärger, ob berechtigt oder nicht, kamen sie zu ihm, und ihm blieb nichts anderes übrig, als die Beschwerden an den Hausmeisterservice weiterzugeben, der allzu selten mit seinem schicken roten Lieferwagen vorfuhr und allzu schnell wieder weiterzog. Seine Drähte halfen auch nicht weiter, denn er hatte nichts mehr zu berichten, was sie mit Gefälligkeiten hätten erwidern mögen. Die Wohntürme der Glücklichen Familie waren für ihn undurchsichtig. Von dem Leben, das sich hinter den Wänden abspielte, war er ausgeschlossen. Die Menschen vertrauten ihm nicht mehr, sie erzählten ihm nichts. Kam er in ihre Nähe, wurden sie stumm wie Fische. Zu ihm kamen sie nur, wenn es etwas zu schimpfen gab. Ansonsten warfen sie ihm böse Blicke zu, als wäre er persönlich schuld an ihrer Umsiedlung. Dabei hätten sie dankbar sein sollen, dass die Partei sie aus dem stinkenden Schmutz herausgeholt hatte.

Manchmal kam er sich überflüssig vor.

Heute war es anders. Eine Frau war aus Onkel Wus Wohnung gekommen.

An der Wand des Wohnraums liefen, säuberlich aufgeteilt in acht Reihen, die Programme des staatlichen Fernsehens und die Bilder der Flurkameras aus dem Block, in dem er wohnte. Alle paar Minuten wurde automatisch auf eine andere Auswahl von Kameras umgeschaltet. Praktisch konnte er das Kommen und Gehen im ganzen Haus verfolgen. Dass er den Bildern vielleicht nicht immer genügend Aufmerksamkeit schenkte, lag daran, dass sie ihn verwirrten. Die moderne Technik war etwas für die Jungen, so war das nun mal. Im Grunde war sie doch nur eine teure, schick gemachte Krücke für all die Dinge, die sich früher von selbst ergeben hatten.

Dass er die Frau bemerkt hatte, lag daran, dass Onkel Wu so gut wie niemals Frauenbesuch bekam. Tschoulao hatte schon seit Jahren ein Auge auf ihn, denn er hatte den Eindruck, hinter der gelassenen Maske des alten Mannes verberge sich gefährlicher Hochmut und tief verwurzelte Verachtung für die Partei. Dass die Leute ihn mochten und dass die alten und auch jüngeren Männer zu ihm kamen, um Tee zu trinken und Go zu spielen, war unverständlich und auch ungerecht. Auch Tschoulao beherrschte das Spiel, obwohl es von den Japanern erfunden worden war. Auch er hätte gern hin und wieder eine Partie gespielt, doch bei ihm klopfte niemand an, und wenn er irgendwo vorstellig wurde, speiste man ihn mit billigen Ausflüchten ab.

Er vergrößerte das Bild der Frau. Sie war jung, schön und teuer gekleidet, machte aber einen nervösen, erschöpften Eindruck. Ihr Blick huschte unruhig umher – verdächtig. Er beobachtete, wie sie im Treppenhaus verschwand – der Lift funktionierte nicht, und sämtliche Kameras waren dort defekt, von kriminellen Elementen zerstört. Als die junge Frau auf die Straße trat, hatte sie eins dieser selbstfahrenden Räder bei sich. Offenbar hatte sie es vorschriftswidrig in einem unabgeschlossenen Putzmittelraum abgestellt. Sie stellte sich aufs Trittbrett, platzierte ihren kleinen Hintern auf dem Sitz und fuhr los.


Tschoulao packte eine Portion scharfen Bratreis ab, tat ihn zusammen mit einer Thermoskanne grünen Tee in seinen Rucksack und legte für den Fall, dass ihm die Zeit lang werden sollte, ein Buch dazu, »Über die Freuden der Pflicht« von Meister Chen, ein Klassiker aus dem siebzehnten Jahrhundert, der heute leider zu Unrecht nahezu vergessen war.

Vor dem kleinen Schrein neben der Tür hielt er einen Moment inne. Angestrahlt von der Ewigen Kerze hing links ein kleines Porträtfoto seiner früh verstorbenen Frau und rechts davon ein größeres Abbild des amtierenden Ministerpräsidenten, der in seinem dunklen Anzug streng auf ihn herabsah.

Er schob den Fotorahmen beiseite. Dahinter kam ein Foto Mao Zedongs zum Vorschein. Das gütige Lächeln des unsterblichen Großen Vorsitzenden wärmte ihm das Herz. Der Partei galt seine Treue, Mao seine Liebe. Sicher, der Große Vorsitzende hatte Fehler gemacht, aber wer handelte, machte sich nun mal die Hände schmutzig, so einfach war das. Und niemand hatte mehr getan für China als er.

Tschoulao beugte sich vor und küsste Mao auf die rosige Wange, auf der sich ein bräunlicher Fleck abzeichnete – kein Muttermal, sondern die Spur der Verehrung. Er ließ den gerahmten Ministerpräsidenten zurückgleiten, dann trat er auf den Flur und wandte sich zum Ausgang. Im Treppenhaus stank es nach gebratenem, eingelegtem und gekochtem Kohl und nach verbranntem Plastik. Draußen roch es anders, nach Staub und Hitze. Er stieg die Treppe der Überführung hoch, hielt Ausschau nach der jungen Frau, doch sie war natürlich nicht mehr zu sehen. An der Seite der Überführung war eines dieser neuartigen Banner angebracht. Er wusste, dass sie auf die unter ihnen vorbeifahrenden Autos reagierten und den Insassen genau das anzeigten, woran sie gerade dachten oder was sie sich insgeheim wünschten. Er hatte keine Ahnung, wie das funktionierte, aber eines war sicher: Unter dem Großen Vorsitzenden hätte es so was nicht gegeben.

Im Park setzte er sich auf eine Bank, von der aus er durch das Gebüsch und den Zaun hindurch den Eingang des vierten Turms der Glücklichen Familie im Auge behalten konnte, und packte den Reisball aus. Er stellte die Thermosflasche daneben und steckte sich den ersten Brocken in den Mund. Die Gewürzmischung hieß »Bunter Süden« und schmeckte nach salzigem Tang.

Es war Vormittag, und die Bäume an der Ostseite warfen ovale Schatten. Dort hatten sich auf den Bänken die Alten versammelt, wiegten die Köpfe und taten so, als ob sie sich über ihre Zikaden unterhielten. In Wirklichkeit lästerten sie über die Partei, ganz bestimmt. Nach einer Weile tauchte Onkel Wu auf. Köpfe nickten, Hände wurden grüßend gehoben, ein ausgemergelter Greis stemmte sich mühsam hoch und klopfte Onkel Wu auf die Schulter. Lächelnd ging er zu seiner Lieblingsbank, auf der immer ein Platz für ihn frei war, und hängte, bevor er sich setzte, seinen Zikadenkäfig mit einem Doppelhaken an einen tief herabhängenden Ast des Gingkobaums. Dann machte er die Beine lang und unterhielt sich mit seinem Banknachbarn.

Tschoulao packte den halb verzehrten Reisball zusammen mit der Thermosflasche in den Rucksack. Niemand hatte sich zu ihm gesetzt, niemand hatte ihn angesprochen. Heute war ihm das egal. Er verließ den Park durch den stadtzugewandten Ausgang und ging außen herum zur Glücklichen Familie zurück. Niemand wusste, dass er einen Generalschlüssel besaß, der ihm Zugang zu allen Wohnungen verschaffte. Damit sein kleines Geheimnis nicht bekannt wurde, machte er nur selten von seinem Vorrecht Gebrauch. Heute war das anders. Nachdem er den Rucksack in seiner Wohnung abgelegt hatte, stieg er langsam die Treppe hoch. Wu wohnte in der dritten Etage. Als er schnaufend vor dessen Wohnungstür stand, drückte er den Schlüssel auf das Identfeld an der Wand. Die Tür sprang auf. Er trat rasch ein und schloss hinter sich die Tür. Der Schnitt der Wohnung war der gleiche wie bei allen Einpersonenunterkünften. In der kleinen Küche Spuren der milden Verwahrlosung, der alleinlebende alte Männer nicht entgehen konnten (wie Tschoulao aus eigener Erfahrung wusste). Das Bett im schmucklosen Schlafraum hingegen ordentlich gemacht. Im Wohnzimmer ein paar Andenken ans Hutong – hier ein Holzschemel, dort ein Foto, das ein älteres Paar vor einem Gemüseladen zeigte, der Mann mit spitzem Hut, die Mutter verschämt lächelnd, vielleicht Wus Eltern. Ein größeres Viddy mit den herumtollenden ersten chinesischen Mondastronauten, im Hintergrund die funkelnde Landefähre und die blaue Erdkugel. Abgegriffene Bücher, ein Tab mit gesprungenem Display. Kein Foto des Ministerpräsidenten, dafür ein Koffer neben dem Sofa. Er klappte ihn auf: Damenunterwäsche, Strümpfe, zwei Blusen, eine Hose, Strümpfe, eine dunkelrote Ledertasche, darin Toilettenartikel, Frauenkram. Und unter einem Pullover eine kleine, rotbraune Schlange. Er starrte sie an, wartete auf eine Bewegung, doch sie regte sich nicht. Die Schlange war wie tot. Was hatte sie im Koffer verloren? Vorsichtig streckte er die Hand aus, tippte sie in der Körpermitte an. Die Schlange färbte sich smaragdgrün. Blitzschnell spannte sie sich wie eine Feder, schnellte hoch, legte sich um sein Handgelenk und zog sich zusammen.

Tschoulao schrie. Er schlenkerte voll Abscheu die Hand, doch die Schlange löste sich nicht. Schließlich packte er sie mit der Linken. In dem Moment, da er sie berührte, wich die Spannung aus der Schlange, und er konnte sie mühelos entfernen. Sie hing zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein toter Wurm, wieder gelbbraun wie zuvor. Er wollte sie gegen die Wand schleudern, hielt aber plötzlich inne und besah sich den Schlangenwurm in seiner Hand. Allmählich begriff er, dass es sich um Schmuck handelte – um einen Armreif. Und es war gar keine Schlange, sondern ein sehr schlanker Drachen mit reliefartig angedeuteten Pranken und Flügeln. Fluchend ließ er ihn auf den Tisch fallen.

In diesem Moment schaltete sich die Fernseherwand ein. Er nahm die Lichtveränderung aus den Augenwinkeln wahr und drehte sich um. Von schräg oben blickte er auf einen Platz mit grauem Pflaster, auf dem mehrere erdfarbene Zylinder standen. Bis auf einen standen alle still. Tag zwölf wurde rechts unten angezeigt. Im Hintergrund waren schneebedeckte Berggipfel zu sehen, dann kam ein weißes, mehrstöckiges Gebäude mit dunkelrotem Aufbau und zahlreichen Fenstern in Sicht. Das war der Palast des Dalai Lama, den die Rote Garde seinerzeit aus unerfindlichen Gründen verschont hatte. Und in dem sich drehenden Zylinder zog angeblich der Kleine Mönch seine Runden und wiegelte die Leichtgläubigen zu staatsfeindlichem Denken auf, dem irgendwann terroristische Taten folgen würden.

Ha! Onkel Wu, der harmlose, freundliche Alte mit der Zikade, war ein Volksverräter! Der verbotene Fernsehsender und der Besuch der jungen Frau deuteten sogar darauf hin, dass er einer Widerstandsgruppe angehörte und aktiv gegen den Staat arbeitete. Tschoulao hatte es geahnt, und jetzt war seine Vermutung Gewissheit geworden. Der nachklingende kalte Schock verwandelte sich in glühenden Hass. Er stürzte in die Kochnische, wühlte mit zitternder Hand ein Messer aus einer Schublade, eilte in den Wohnraum zurück und begann die Wand zu zerkratzten. Die Kratzer verbreiterten sich in der Displayschicht zu schwarzen Kanälen, was aussah, als werde Tibet von einem Erdbeben heimgesucht, das den Palast der Volksverdummer mitsamt den lächerlichen Gebetsmühlen und den verblendeten Gaffern verschlingen würde.

Es knisterte, dann wurde die Wand erst schwarz, dann grau.

Tschoulao stemmte die Hände in die Seite und betrachtete sein Werk voll Genugtuung, dann steckte er das Drachenarmband in die Tasche und ließ sich per Sprachwahl mit seinem Vertrauensoffizier verbinden.

»Ich möchte Anzeige erstatten«, sagte er, als die Automatenstimme sich meldete. »Es geht um einen Nachbarn.«

KLEINER DRACHE

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