Читать книгу KLEINER DRACHE - Norbert Stöbe - Страница 19

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Der Himmel über Lhasa war tiefblau, die Luft glasklar, und der Schnee auf den Bergen leuchtete so grell, dass es den Augen wehtat. Die Hänge, Grate und Gipfel wirkten überwirklich und so nah, als reichte eine kleine Willensanstrengung aus, um sich den Vögeln gleich emporzuschwingen und zu den friedlichen Buddhas, den lächelnden Bodhisattvas, den zornigen Dharmapalas und den grimmigen Himmelskönigen zu fliegen, die sich nicht ohne Grund diesen Ort zur Heimat gewählt hatten. Aber so überirdisch schön der Tag auch war, lag doch eine lastende Stille über der sonst so geschäftigen Stadt. Die Werkstätten und Läden der Tibeter hatten geschlossen, auch viele ansässige Chinesen waren ihrem Beispiel gefolgt. Der Verkehr war fast zum Erliegen gekommen. Auf den Gehsteigen, in den Gassen und auf den Plätzen waren kaum Menschen unterwegs, und die wenigen, die einander begegneten, nickten einander zu, als wären sie Freunde, die ein bedrückendes Geheimnis miteinander teilten.

Es war, als wäre die ganze Bevölkerung der Stadt am Platz vor dem Potala-Palast zusammengeströmt, über dem wie Raubvögel die Drohnenfänger mit ihren Netzkanonen kreisten. In Wahrheit waren es nur einige Hundert, mehr Menschen hatten die eilig errichteten Straßensperren nicht überwinden können. Doch sie wirkten vervielfältigt in ihrem trauernden Schweigen, denn sie waren Stellvertreter all derer, die in diesem bewegenden Moment nicht zugegen sein konnten und doch auf eine geheimnisvolle, übernatürliche Weise anwesend waren.

Die siebzehnte Gebetsmühle hatte am fünfzehnten Tag aufgehört, sich zu drehen.

Der Kleine Mönch war tot.

Fünfzehn Glaubensbrüder in ziegelroten Gewändern knieten an der Absperrung am Rand des Platzes, intonierten Mantras, die zugleich aus dem Bauch der Erde und dem Himmelsäther zu kommen schienen. Mit geschlossenen Augen, die Hände auf die Oberschenkel gelegt, wippten sie zeitlupenhaft verlangsamt mit den Oberkörpern. Recht und links von ihnen standen zwei chinesische Polizisten mit geschultertem Gewehr, aufrecht, mit starrem Blick und einem Glitzern in den Augen, das vielleicht vom Wind kam, der in Böen von den Bergen herunterwehte, vielleicht aber auch nicht.

Ein kleiner rot-weiß lackierter Kranwagen bog von der Straße zum Platz ein. Zwei Soldaten trugen das Absperrgitter weg, dann fuhr der Wagen durch die Lücke, beschrieb einen Bogen, hielt an und setzte zu der Gebetsmühle mit dem Kleinen Mönch zurück. Der Fahrer, bekleidet mit einem blauen Arbeitsoverall, stieg aus, in der Hand eine Fernbedienung. Der Kranausleger schwenkte über die Gebetsmühle und verlängerte sich. An seinem Ende befand sich kein Haken, sondern eine Art Tülle. Plötzlich schoss ein Netz heraus, das die tönerne Walze vollständig umschloss und dessen Öffnung lose auf dem Boden auflag. Zwischen den Netzfäden war eine dünne, undurchsichtige Folie zu erkennen. Der Kranwagenfahrer richtete die Fernbedienung auf das Netz, worauf es sich langsam zusammenzog. Dann hob der Kran die Gebetsmühle mitsamt dem Sockel an. Einen Moment lang schwankte sie am Ausleger hin und her, dann wurde sie herumgeschwenkt und auf die Ladefläche abgesenkt.

Ein Aufstöhnen ging durch die Menge der Zuschauer. Als der Kranwagen abfuhr und hinter der Platzabsperrung auf die Straße einbog, wurde gerufen. Viele Menschen weinten. Bewegung entstand, zeitgleich an mehreren Orten – erst ein Wogen auf der Stelle, dann bekam es Richtung und entwickelte Kraft. Während die fünfzehn knienden Mönche unverdrossen weitersangen, drängte die Menge gegen die Absperrung vor. Die Polizisten und Soldaten lösten die Tränengasmasken vom Gürtel und setzten sie auf. Schüsse fielen. Sirenenlärm näherte sich.

Der Einsatzleiter, ein dünner Mann in einer zu weiten Uniform, hatte einen Auftrag. Die Einsatzregeln waren eindeutig. Er hob das Com an den runden Gasmaskenfilter: »Die Situation gerät außer Kontrolle.«


Es roch nach Angst. Sie war in den fleckigen Betonwänden aufgespeichert, im dunkel gebeizten Schreibtisch und vor allem in dem Stuhl, auf dem er saß. Durch die harte Sitzfläche mit den schmerzhaften Wulsten am Rand sickerte sie in ihn ein und füllte ihn aus, bis er kaum mehr Luft bekam.

Vor ihm hatten schon viele hier gesessen wie er, hatten sich gefragt, weshalb sie hier waren und was sie erwartete. Er hatte sich doch nichts zuschulden kommen lassen. Er war ein alter Mann, an dem das Leben längst vorbeigezogen war. Er hatte sich abgefunden mit dem Tod seiner Frau und der Verpflanzung in die Glückliche Familie. Er hatte seinen Frieden gemacht mit der Welt – auch wenn ihn das nicht davon abhielt, sich Gedanken zu machen, denn wozu war der Kopf denn sonst da? Aber er behielt die Gedanken für sich, und das war das Entscheidende. Er redete nicht über Politik. Er tat niemandem etwas zuleide. Er war ein alter Mann, und er wusste nicht, weshalb man ihn zu dieser kleinen Nachbarschaftswache gebracht hatte. Er wusste nur, dass sie nicht für ihn zuständig war. Für das Viertel, in dem er wohnte, war die Wache in der Seepferdchenstraße zuständig. Das deutete vielleicht darauf hin, dass es sich um einen Irrtum handelte, dass man ihn mit jemand anderem verwechselt hatte. Dieser Gedanke machte ihm ein bisschen Hoffnung.

Hinter ihm ging die Tür auf, jemand trat ein. Die Tür wurde von außen geschlossen. Nach kurzem Innehalten trat ein Mann in einem dunklen Anzug um den Schreibtisch herum. Das Sakko spannte über seinem Bauch, sein rundes, pausbäckiges Gesicht schimmerte matt vor Gesundheit, unter seiner voluminösen AR-Brille funkelten kleine Äuglein hervor. Er legte einen kleinen Koffer auf den Schreibtisch und klappte ihn auf. An der Innenseite des Deckels befanden sich ein Display und mehrere Drehregler.

»Ich bin Chen Ren«, sagte er. »Und Sie nennt man Onkel Wu?«

Onkel Wu nickte.

»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte der Mann im Anzug. Er fühlte sich sichtlich unwohl im Verhörraum. Er war eindeutig kein Polizist, sondern wirkte eher wie ein Verkäufer oder wie ein billiger Anwalt. Onkel Wu beobachtete voll Argwohn, wie Chen Ren etwas aus dem Koffer nahm, das einer großen, labbrigen Badehaube glich. An der einen Seite hatte sie mehrere spitz zulaufende Fortsätze, wie eine stachlige Frucht.

»Keine Sorge«, sagte Chen Ren, der Onkel Wus Blick bemerkt hatte. »Das dient nur der Überprüfung Ihrer Angaben. Es tut nicht weh, Sie werden kaum etwas davon bemerken.« Er trat neben Onkel Wu und setzte ihm die Haube auf, mit den Stacheln nach innen. Onkel Wu, der sich unwillkürlich gegen den erwarteten Schmerz gewappnet hatte, stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Stacheln weich waren. Es waren … wie hieß das Wort noch gleich … Noppen. Es war beruhigend, dass ihm das Wort eingefallen war. Er hatte doch nichts getan. Er war doch unschuldig.

»So, wir können«, sagte Chen Ren, nachdem er sich eine Weile an der Innenseite des Kofferdeckels zu schaffen gemacht hatte. »Antworten Sie kurz und wahrheitsgemäß, dann sind wir bald fertig. Sie hatten Besuch von einer jungen Dame?«

»Ja«, antwortete Onkel Wu. »Von Xialong.«

»Antworten Sie nur auf meine Fragen«, sagte der Mann. »Was wollte die junge Dame von Ihnen?«

»Sie … sie wollte bei mir übernachten.«

»Weshalb wollte Sie bei Ihnen übernachten?«

»Weil … also, das habe ich nicht ganz verstanden. Sie hat gemeint, man habe sie nicht ins Geschäft gelassen.«

»Hat sie gesagt, weshalb man sie nicht eingelassen hat?«

»Ja … das heißt nein … oder vielmehr habe ich auch das nicht verstanden. Sie war durcheinander.«

»Durcheinander«, wiederholte Chen Ren. »Und am nächsten Tag?«

»Ist sie weggegangen.«

»Wohin?«

»Das … das weiß ich nicht.« Jetzt spürte er die Noppen. Sie waren immer noch weich und abgerundet, aber sie drückten gegen seinen Schädel, und das war unangenehm.

»Sagen Sie die Wahrheit.«

»Ich … ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist.« Der Druck gegen die Schädeldecke steigerte sich jäh. Die Noppen waren auf einmal hart und spitz und bohrten sich in Haut und Knochen. Er schrie unterdrückt.

»Wohin ist sie gegangen?«, fragte Chen Ren, ohne die Stimme zu heben.

»Zu Kung«, plapperte Onkel Wu. »Das ist der junge Mann, der mir den Fernseher eingerichtet hat. Er ist immer so freundlich, ein netter Bursche, höflich und hilfsbereit. Er hilft mir, wenn etwas nicht funktioniert, weil der Hausmeister nicht kommt, wenn man ihn braucht. Ich habe Xialong gesagt, Kung könnte ihr vielleicht helfen.« Mit jedem seiner Worte hatte der Druck auf seinen Schädel ein wenig mehr nachgelassen, bis er nur noch die weiche Anwesenheit der Noppen spürte.

»Die Adresse«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch.

Onkel Wu nannte sie ihm.

»Danke«, sagte Chen Ren. »Sie waren mir eine große Hilfe.« Er erhob sich, kam um den Schreibtisch herum und nahm Onkel Wu die Haube ab. Es waren keine Blutstropfen an der Innenseite, nur die sauberen weichen Noppen. Er legte die Haube in den Koffer und klappte ihn zu.

»Bitte«, sagte Onkel Wu und wischte sich mit zitternder Hand den kalten Schweiß von der Stirn. »Wie … wie geht es jetzt weiter?«

»Vermutlich wird man Sie wegen staatsfeindlicher Propaganda anklagen, möglicherweise auch wegen Beihilfe zum Terrorismus. Aber das ist Sache des Staates. Was mich betrifft: Ich bin gar nicht hier. Ich war nie hier. Niemand hat mich gesehen – auch Sie nicht, Onkel Wu. Haben Sie das verstanden?«

Onkel Wu nickte benommen, dann ging der Mann hinaus.


Es war eine kleine und alte Wache, und die Zelle war noch kleiner und stammte anscheinend aus der Zeit der Kulturrevolution. Neben den zu einem fleckigen Braunton verblassten Parolen (Das Volk hat immer recht! Von Datschai lernen heißt siegen lernen!) waren verzweifelte Botschaften der früheren Insassen eingeritzt. Auf dem Metalltisch standen eine Wasserflasche und ein Pappbecher, auf der Pritsche lag eine zusammengefaltete braune Decke. Onkel Wu saß auf dem Stuhl, den Kopf an die Tür gelegt. Der Schließmechanismus der Türklappe war defekt, und durch die Öffnung konnte er auf den Flur und bis in den Bereitschaftsraum sehen, wo zwei Polizisten vor einer Videowand saßen. Es lief eine Magazinsendung des staatlichen Fernsehens. In einem hell ausgeleuchteten Labor wurde die Gebetsmühle vom Potala-Platz untersucht. Die rot verzierte lehmfarbene Walze hing an einem Haken von der Decke, den Leichnam des Kleinen Mönchs hatte man offenbar bereits weggebracht. An der Unterseite waren außen kleine Räder angebracht, weiter in der Mitte gab es ein kreisrundes Loch. Zwei Techniker in weißen Kitteln hoben eine Scheibe mit einem Zapfen vom Podest und zeigten auf das Loch. Dann zeigte die Kamera einen Elektromotor, der die Scheibe mit dem Zapfen über einen Keilriemen in Drehung versetzt hatte. Einer der Techniker sprach mit triumphierender Miene in die Kamera. Onkel Wu wandte sich ab, setzte sich auf die Pritsche und schlug die Hände um den Kopf.

War wirklich alles nur ein billiger Trick der Mönche gewesen? Hatten sich die Menschen verführen lassen und an einer Lüge gewärmt? Er wusste nicht, was er glauben sollte. Das Schauspiel auf dem Potala-Platz hatte ihn nach und nach in Beschlag genommen, mit jedem Tag ein bisschen mehr. Erst hatte er Anteil genommen, dann war er gebannt gewesen, bis er das Gefühl gehabt hatte, als werde die Gebetsmühle nicht vom Kleinen Mönch allein bewegt, sondern als sei er durchs Zuschauen ganz unmittelbar an dieser stillen, unerklärlichen und deshalb umso machtvolleren Handlung beteiligt, so wie Tausende oder Millionen andere Menschen vor ihren Fernsehwänden auch. Als manifestiere sich in der monotonen Bewegung ihrer aller Wille, rein, zweckfrei und unschuldig. Als könnten sie etwas bewirken, wenn sie denn nur wollten.

Jetzt schien es so, als habe ein versteckter Elektromotor das Wunder widerlegt. Einerseits war das nur logisch und vernünftig. Ein Mensch, und sei er auch ein Mönch, konnte nicht fünfzehn Tage lang pausenlos im Kreis gehen, ohne Wasser oder Essen zu sich zu nehmen. Das war unmöglich, es konnte nicht sein. Dennoch hatte er es geglaubt. Und dem staatlichen Fernsehen traute er jede erdenkliche Täuschung zu. Es war nicht ausgeschlossen, dass die Enttarnung des versteckten Drehapparats nichts weiter als ein staatliches Manöver war, das die Menschen entmutigen sollte.

Er wusste nicht, was er denken sollte. Fest stand nur, dass etwas geendet hatte. Und auch sein eigenes kleines Leben war an einem Endpunkt angelangt. Etwas Neues würde beginnen, auf das er keinen Einfluss mehr hatte. Und er wünschte sich, er bräuchte es nicht zu erleben.

Onkel Wu weinte.


Ein paar Straßen weiter, in einem fensterlosen Raum, der zwar größer als eine Gefängniszelle war, aber nicht minder beengt, betrachtete Kung Litse, die splitternackt vor ihm stand. Im trüben Licht der Monitore und der Sofaleuchte war sie von einer jungen Frau Anfang zwanzig nicht zu unterscheiden. Jedes Detail – das seidige Haar, die gepflegten Fingernägel, die Brustwarzen, das zu einem schmalen Streifen getrimmte schwarze Schamhaar, die Zehen – wirkte echt. Xialong hatte im engen Rahmen der Möglichkeiten ein paar Anpassungen vorgenommen. Die Lippen waren nicht mehr so wulstig, und von den drei Brustgrößen hatte sie die kleinste ausgewählt. Litse sah jetzt normaler aus, wirkte aber nach wie vor attraktiv – für Xialongs Geschmack sogar attraktiver als zuvor. Sie hätte sie gern betastet und herausgefunden, wo die Grenzen der Imitation lagen, doch in Kungs Anwesenheit traute sie sich nicht. Sie wollte keinen falschen Eindruck bei ihm erwecken. In diesem Moment wirkte er jungenhaft, verlegen und verletzlich. Hatte er überhaupt schon mal eine nackte Frau gesehen?

»Hast du eine Freundin, Kung?«, fragte Xialong plötzlich.

»Was? Ja … ab und zu. Ja.« Sein Blick wanderte zu dem HeadGear, das auf dem Tisch lag.

»Verzeihung«, sagte Xialong. »Das geht mich nichts an. Können wir anfangen?«

»Kannst du ihr sagen, dass sie sich auf den Bauch legen soll?«

»Du kannst selbst mit ihr reden«, sagte Xialong. »Sie versteht dich, und sie wird tun, was du sagst, glaub mir. Probier’s einfach aus.«

»Leg dich bitte aufs Sofa«, sagte Kung. »Auf den Bauch.«

Litse gehorchte. Ihre Bewegungen wirkten durch und durch natürlich; nicht unterwürfig, sondern selbstbewusst, beinahe ein wenig herablassend, bemerkte Xialong nicht ohne professionellen Stolz. Kein Wunder, dass ein unerfahrener junger Mann sie einschüchternd fand.

»Regenpfeifer«, sagte sie. »Wartungsmodus.«

Litse versteifte sich. Zwischen ihren Schulterblättern zeichnete sich ein hautfarbenes Rechteck ab, mit einem runden, leicht erhöhten Kreis am oberen Rand. Xialong drückte darauf, dann sprang eine Klappe auf. Darunter kamen bunt markierte Ventile, Tastschalter und eine USB-Schnittstelle zum Vorschein. Die Wartungsöffnung am Rücken (es gab noch eine weitere, größere, am Bauch) erweckte den Eindruck von Einfachheit, doch Xialong wusste, dass dies der Komplexität des Bots nicht gerecht wurde. Kung steckte ein langes Kabel ein, dann nahm er auf seinem Cockpitsessel Platz und rief ein Programm auf.

»Wow.«

Die Tuningsoftware von Jiqiren verfügte über eine neuartige WYSIWYG-Oberfläche. Litses Code wurde als Schichtgrafik angezeigt, die Ähnlichkeit mit einer exotischen Geburtstagstorte hatte. Die einzelnen Schichten – insgesamt waren es neun – waren unterschiedlich gefärbt, grün, blau, ocker, rot, und durch ein Gespinst goldener Fäden miteinander verbunden. Fuhr man mit der Maus darüber, nahm der Zeiger die Farbe der jeweiligen Schicht an, die sogleich vergrößert wurde und sich in eine Landschaft mit Mulden, Schluchten, Hügeln und Gebirgen verwandelte. In einem Fenster wurden Funktionen, Schnittstellen und Verlinkungen angezeigt. Die Visualisierung war die zweidimensionale Wiedergabe einer dreidimensionalen VR-Umgebung. Kung setzte das HeadGear auf und klappte das Visier herunter.

Nachdem er sich mit der Steuerung vertraut gemacht hatte, flog er die Schichten ab, bis er in der dunkelroten auf einen schwarzen, passwortgeschützten Bereich stieß. Das war das BIOS, in dem die Gesetze implementiert waren, die verhindern sollten, dass der Bot einem Menschen in irgendeiner Form Schaden zufügte. Natürlich war das Internet voll von raffiniert ausgeklügelten Szenarien, in denen gerade die Abwägungen regelgebundener Bots bestenfalls kurzschlussähnliche Patts und schlimmstenfalls einen schwerwiegenden Schaden herbeiführten, den sie von einer übergeordneten Warte aus betrachtet hätten vermeiden sollen und vermeiden können. In der Praxis allerdings hatten sie sich bewährt, und deshalb waren sie gegen Manipulationen besonders gut geschützt.

Kung öffnete in einem Fenster eine anonymisierte Datenverbindung zu einem Server in Singapur und lud den ShredMaster, ein geniales Werkzeug des legendären Muncher-Puncher, der schon vor Jahren einem Drohnenangriff erlegen war, dessen Werk aber von einem anonymen Nachfolger kongenial fortgeführt wurde.

In dieser Umgebung glich der ShredMaster einem grellbunten, mit schwarz-rot quer gestreiften Stacheln bewehrten Bakterium. Eine Weile drehte sich das Gebilde im virtuellen Raum, dann bildete es einen türkisfarbenen glänzenden Tentakel aus, der wie eine Windhose umherschwankte. Kung dockte die Fingerspitze an und führte den Schlauch zum BIOS-Bereich. Ein WYSIWYG-Eingriff glich einer computergestützten Gehirnoperation. Es kam darauf an, mit minimalem Aufwand den maximalen Nutzen zu erzielen. Der kleinste Fehler konnte verheerende Auswirkungen haben und im schlimmsten Fall zum Totalausfall des Systems führen.

Mit dem linken Zeigefinger tastete Kung das BIOS ab. Infofenster und fraktale Detailansichten ploppten auf. Die Versuchung, sich in eine dieser Ansichten hineinzustürzen und zur Ebene des nackten Codes vorzudringen, war beinahe übermächtig, doch Kung widerstand. Das war nicht der Moment für Abenteuer und Spielereien. Er tastete weiter, und als er fündig geworden war, führte er mit der rechten Zeigefingerspitze den Tentakel zu der Stelle und löste mit dem Daumen den Shreddermechanismus aus, der als grellweißer Laserstrahl visualisiert wurde. Die Lichtnadel drang in die schwarze Oberfläche ein, die auf einmal weich und verletzlich wirkte. Einen Moment lang sah es so aus, als könnte sie die zugeführte Energie folgenlos absorbieren. Dann begann der schwarze Bereich zu pulsieren, färbte sie sich an der Eintrittsstelle rötlich grau, schwoll an und platzte auf. Wie bei den Feuerwerksvulkanen, die man zu Neujahr auf die Straße stellt, schoss ein Strom silbriger Partikel aus dem Riss, fächerte sich auf, verblasste und verschwand.

Kung suchte weiter nach Rudimenten, identifizierte ein paar Subzentren samt Verbindungsbahnen, und neutralisierte sie mit chirurgischer Präzision. Als er den Eindruck hatte, dass bei weiteren Eingriffen das Risiko den zu erwartenden Nutzen übersteigen würde, schloss er den ShredMaster.

In diesem Moment tauchte rechts oben in seinem Blickfeld ein weißer Kubus auf. Er pulsierte schwach, und jedes Mal, wenn er sich ausdehnte, als ob er atmete, leuchtete er auf. Natürlich, das Versenkungssymbol der Drei Wahrheiten. Er hatte eine Weile nicht mehr daran gedacht, doch jetzt, in diesem Moment, empfand er Sehnsucht nach dem stillen Raum und nach Mei, seiner Vertrauten.

Widerwillig nahm er das HeadGear ab, loggte sich auf dem Rechner im Entwicklungszentrum von Jiqiren aus, wischte sich den Schweiß von der Stirn und drehte sich auf dem Stuhl herum.

Xialong saß angespannt auf dem Stuhl, offenbar hatte sie ihn die ganze Zeit beobachtet. »Bist du fertig?«, fragte sie.

Er nickte.

»Dann kann ich sie wieder einschalten?«

»Ja, schon … aber es könnte sein, dass sie ein unerwartetes Verhalten zeigt.«

»Zum Beispiel?«

»Na ja, ich weiß nicht. So wie jemand nach einer Gehirn-OP. Manchen Leuten bekommt so was nicht gut. Die sind hinterher ein anderer Mensch.« Er schnitt eine Grimasse und streckte die Zunge heraus. »Die verhalten sich seltsam.«

»Hör auf damit, das ist widerlich«, sagte Xialong. »Also, ist sie jetzt gefährlich oder nicht?«

»Tut mir leid«, sagte Kung. »Also, ich schätze, sie ist immer noch auf dich geprägt. Aber sie ist jetzt frei. Sie ist ein freier Bot. Solche wie sie werden von der Regierung gejagt und stillgelegt.« Er stand auf und zog das Kabel aus der Wartungsöffnung im Rücken des Bots.

»Okay«, sagte Xialong. »Regenpfeifer. Wartungsmodus beendet. Steh auf.«

Litse spannte sich an, stemmte sich hoch und richtete sich kraftvoll auf. Sie wendete den Kopf nach rechts und nach links, nach oben und nach unten. Täuschte sich Xialong, oder war ihr Blick jetzt wacher als zuvor? Lag vielleicht sogar so etwas wie Erstaunen darin? Hatte die Prägung tatsächlich Bestand, wie Kung es behauptet hatte? Oder würde Litse nach wie vor so harmlos und vorhersagbar sein wie einer dieser mechanischen Trottel, die einem beim Shoppen wie ein Hündchen auf den Fersen folgten? Doch es hatte keinen Sinn, Fragen zu stellen, die sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantworten ließen. Litse war nur ein weiteres Fragezeichen unter vielen. Sie wusste nicht einmal, wo sie morgen sein und wo sie heute Nacht schlafen würde.

Seufzend packte Xialong die Klamotten aus, die sie kurz zuvor in einem Minikaufhaus mit Kungs Geld gekauft hatte: billige schwarze Unterwäsche, zwei bambusfarbene T-Shirts, eine Jeans, ein dunkelgraues Sweatshirt und eine schwarze Nylonjacke mit vielen Taschen.

»Zieh das an«, sagte sie und reichte Litse die Kleidungsstücke. Kung beobachtete einen Moment lang mit offenem Mund, wie sie den Slip anzog, dann sagte er unvermittelt: »Hast du dir schon mal überlegt, dass deine Doppelgängerin ein Bot sein könnte?«

»Meine Doppelgängerin?«

»Die Person auf dem Video, die deine Stelle in der Firma und vermutlich auch anderswo eingenommen hat.«

Xialong hatte sie beinahe vergessen. Es war, als gäbe es eine verborgene Kraft, die sie immer dann, wenn sie ermüdete oder sich ablenken ließ, in den Geisteszustand vor der Abfolge von Katastrophen zurückschnappen ließ, die ihr Leben in den Grundfesten erschüttert hatte, in die Zeit, die ihr bereits unendlich fern erschien und in der alles einfach und übersichtlich gewesen war.

»Ein Bot?«, sagte sie. »Nein, ausgeschlossen. Das hätte ich gemerkt.«

»Auf dem Video? Bist du sicher?«

»Ja«, sagte sie beinahe trotzig. »Schließlich stellen wir die Dinger her. Es gibt Unterschiede in der Mimik und im Bewegungsablauf, die fallen nur Experten auf. Aber sie sind vorhanden.«

»Aber wer ist sie dann?«

Xialong zögerte. Die Erkenntnis setzte langsam ein, dann traf sie sie mit Wucht. Bis jetzt hatte sie es nicht gewusst, doch auf einmal kam es ihr unwiderlegbar logisch vor. Die Folgerung, die sich daraus ergab, zertrümmerte das Gefüge ihres Lebens. Der Boden wankte, die Fundamente barsten, zerfielen zu Staub. Es war, als habe sie sich und die Welt bis jetzt durch eine verzerrende Brille betrachtet, und nun, da die Brille zersplittert war, erkannte sie das Vertraute nicht mehr wieder. Es gab keinen Sinn mehr, keinen Halt, nirgends. Sie schwankte, ließ sich in einen Sessel fallen und schlug die Hände vors Gesicht.

»Xialong?«

Sie atmete schnaufend in ihre Hände, sie wollte nicht weinen. »Sie ist ein Klon«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Die Person, die mich verdrängt hat und mir nachstellt, ist meine …«

»Deine …«

»Meine Schwester!«

»Du hast eine Zwillingsschwester?«

»Nein. Sie ist meine Klonschwester. Es gibt nur diese Erklärung. Und wenn sie ein Klon ist, bin ich auch einer. Ja, ich bin ein Klon. Ein Klon!« Sie schluchzte.

Kung hockte sich unbeholfen neben sie und streichelte ihr Haar. »Klone sind verboten«, sagte er hilflos. »Es gibt bestimmt eine andere Erklärung.«

Ein ersticktes Auflachen hinter den Händen vor, dann hob sie ruckartig den Kopf. »Verboten!«, sagte sie mit schriller Stimme. »Ist das hier etwa nicht verboten?« Sie schwenkte den Arm durch sein dunkles Hackerverlies. »Ist es etwa nicht verboten, jemanden mit einer Drohne auszuschalten? Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, dass Klone verboten sind und stillgelegt werden, wenn man sie erwischt? Was soll ich denn jetzt machen? Wo soll ich denn jetzt hin?«

Er wusste nicht, was er sagen sollte.

»Kommt der Ausschnitt vorne oder hinten hin?«

Xialong hob den Kopf und starrte Litse an, die das T-Shirt in Händen hielt und es hilflos hin und her wendete.

»Nach vorn«, sagte Kung, als er sich von seiner Verblüffung erholt hatte. »Wohin denn sonst?«

Als Litse das T-Shirt überstreifte, mit dem Ausschnitt an der richtigen Körperseite, neigte Xialong den Kopf an Kungs Ohr und flüsterte: »Ist das jetzt ein Zeichen von Entscheidungsfreiheit oder von eingeschränkter Intelligenz?«

Er lachte, froh darüber, dass sie noch scherzen konnte.

»Okay«, sagte er. »Ich glaube, du solltest das jetzt erst mal verarbeiten. Ich geh nach nebenan und versuche, ein bisschen Geld von deinem Konto abzuziehen, einverstanden?«

Xialong nickte, und Kung verschwand mit dem HeadGear hinter dem Vorhang, der seinen Arbeits- vom Privatbereich trennte. Er brauchte nicht lange, um sich in Xialongs von ihrer Doppelgängerin usurpiertes Konto einzuloggen und fünfundvierzigtausend Yuan auf ein Konto bei einer virtuellen Bank zu überweisen. Xialong hatte ihn gebeten, das Geld in Bitcoin zu konvertieren, doch er hatte einen besseren Vorschlag.

»Nimm X-Coin«, sagte er. »Bitcoin ist tot, glaub mir.«

»Von X-Coin habe ich noch nie gehört.«

»Weil es neu ist: besserer Algorithmus, ressourcenschonenderes Mining. In einem halben Jahr spricht die ganze Welt davon.«

»Bist du sicher? Ganz sicher?«

Er hob die Schultern. »Was ist schon sicher auf dieser Scheißwelt? Aber wenn ich Geld hätte, würde ich’s in X-Coin tauschen.«

Xialong hatte keine Ahnung, weshalb sie Kung vertraute. Aber vielleicht ging es auch gar nicht um Vertrauen, sondern um Mut und die Bereitschaft, alle Gewissheiten hinter sich zu lassen und daran zu glauben, dass etwas Neues möglich war.

»Dann tu’s.«

Er tätigte die Transaktion und überspielte das Digitalgeld auf einen USB-Stick. Jetzt hätte er zu Xialong zurückgehen, ihr den Stick übergeben und sie verabschieden können, was für seine eigene Sicherheit vielleicht am besten gewesen wäre. Doch die doppelte Versuchung – der Noser und das Neeze auf dem Nachttisch und der in seinem Kopf unablässig weiterblinkende weiße Block – waren einfach zu groß. Er gönnte sich eine mittelkleine Dosis, und als er leicht geworden war und sein Schlafverlies weit und prachtvoll, loggte er sich in den Tempel der Drei Wahrheiten ein und wählte das Vertrauen, den Raum, in dem Mei ihn erwartete, immerzu und auch jetzt wieder. Er hatte ihr so viel zu erzählen.


Als Kung hinter dem Vorhang hervorkam, hatte er eine Reisetasche dabei. Xialong, die in der Zwischenzeit ein wenig geschlafen hatte, blickte ihm fragend entgegen.

»Ich komme mit«, sagte er.

»Das kannst du nicht machen«, sagte sie schnell.

»Ich hab nachgedacht da drinnen«, entgegnete er. »Wenn sie bei Onkel Wu waren, werden sie über kurz oder lang auch bei mir anklopfen. Und glaub mir, hier gibt es einiges zu finden.« Er stellte die Tasche ab, setzte sich vor die Bildschirmwand, holte den Stick mit den X-Coins aus der Schublade und steckte ihn in die Buchse. Er überspielte etwas, dann hielt er den Stick an sein Schulterimplantat. Den Stick warf er auf den Boden und trampelte darauf herum. Dann steckte er einen zweiten Stick ein. Ein an- und abschwellendes Winseln kam aus den Lautsprechern, auf den Displays wurden die aus dem ganzen Land zusammengetragenen Trauerfeiern für den Kleinen Mönch von einem roten Symbol mit blinkendem Eingabefeld ersetzt. Kung machte eine Tastatureingabe, und Xialong bemerkte, dass seine Hände zitterten.

»Du willst alles löschen«, sagte sie.

»Keine Spuren hinterlassen«, sagte er gepresst. »Nichts zurücklassen. Einfach abtauchen und verschwinden.«

»So plötzlich?«

»Vielleicht habe ich mir das sogar immer gewünscht, weißt du? Aber es ist nicht leicht, das kannst du mir glauben. Für dich ist das hier bestimmt armselig. Aber ich habe Jahre gebraucht, um es mir aufzubauen. Um der zu sein, der ich bin. Jetzt muss ich ein anderer werden.«

Xialong fand seine Entscheidung ein wenig vorschnell, und für ihren Geschmack klang das alles auch ein bisschen zu pathetisch. Reichte es nicht aus, dass ihr Leben in Trümmern lag? Aus Angst, ihn zu verletzen, enthielt sie sich einer Bemerkung. Sie wollte ihm nicht unter die Nase reiben, dass sie älter war als er und möglicherweise trotz all ihrer Beschränkungen auf einen weiteren Erfahrungsschatz zurückgreifen konnte. Und außerdem war es in diesem Moment für sie ein Trost, dass sie in Begleitung eines Menschen ins Unbekannte aufbrechen würde und nicht bloß in Gesellschaft eines Bots, der ihr, das gestand sie sich nüchtern ein, unheimlich war.

Codezeilen jagten über die Bildschirme, das Alarmwinseln hatte aufgehört. Kung stand auf, hockte sich vor die Schlafpritsche, langte darunter und zog den Arm wieder zurück. Staubmäuse mit eingebackenen Fußnägeln klebten an seinem Ärmel, in der Hand hielt er ein altmodisches Tastenhandy. Erstaunlicherweise war der Akku geladen. Er tippte eine Nummer ein. Er wartete, bis die Verbindung hergestellt war, dann sagte er langsam und deutlich: »Der kleine Racker möchte Gassi gehen. Kommst du mit?« Er unterbrach die Verbindung.

»Was war denn das?«, fragte Xialong verblüfft.

»Das war ein Code. Jetzt weiß Nikita, was sie tun soll.«

»Und was soll sie tun?«

»Sich um mein digitales Vermächtnis kümmern!«, fauchte Kung. »Ach, Scheiße.« Er wischte sich über die Stirn. »Es gibt da ein, zwei Accounts, zu denen sie das Passwort hat. Da wird sie sich drum kümmern, solange ich die Füße stillhalten muss.«

Kung richtete sich auf. »Wir können«, sagte er betont forsch. »Hast du schon einen Plan?«

Xialong lächelte zaghaft. »Wie wär’s, wenn wir erst mal etwas essen?«

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