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ОглавлениеEs war später Abend, doch davon war in Kungs gruftartiger Behausung nichts zu merken. Hier herrschte ewiges Halbdunkel, in dem die Displays und Kontrollleuchten glommen wie das Cockpit eines Raumfahrzeugs. Es war, als habe sich das normale Leben auf einen anderen Planeten zurückgezogen, und die einzige Verbindung zwischen dieser zeitlosen Kapsel in der Leere des Raums und dem Alltag der Menschen seien schmale Funkbänder und flackernde Bilder, die umso unverständlicher erschienen, je länger man sie anschaute. Sie gehörten einer fremden Welt an, in der andere, undurchschaubare Regeln galten.
Xialong war es recht. Der schummrige Raum mit seinen bunten Punktlichtern übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus, ganz so, als wären mit den momentanen Sorgen auch die dahinter verborgenen Probleme verschwunden.
Kung wusste, dass dies ein Irrtum war.
»Gib mir mal dein Com«, sagte er.
»Das hab ich bei Onkel Wu gelassen, weil es nicht mehr richtig funktioniert hat. Ist übrigens das Gleiche wie deins.«
»Meins ist ein Plagiat.«
»Oh.«
»Jedenfalls müssen wir das holen.«
»Holen?« Hieß das, sie durfte nicht bei Onkel Wu bleiben? Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie gehofft hatte, er werde sie solange bei sich aufnehmen, bis sich alles geklärt hätte. Und dass es sich aufklären würde, glaubte sie noch immer. Die verstörenden Geschehnisse der letzten Stunden würden sich als böser, aber letztlich substanzloser Albtraum entpuppen, und sie würde wieder einschwenken auf die schnurgerade in die Zukunft weisende Bahn, der sie ihr Leben lang gefolgt war. Anders konnte es nicht sein. Es wäre ebenso absurd gewesen, als wenn auf einmal zwei Sonnen am Himmel gestanden hätten.
Kung seufzte. Sein Gesicht war ein heller Fleck, zusammengesetzt aus kleineren bunten Flecken. Er schwenkte den Teebecher in der Hand, ohne zu trinken.
»Also, wie ich das sehe, hat jemand deine Identität angenommen und deine Passwörter und Log-ins geändert. Du hast gemeint, dieser Sammo habe deine Anwesenheit im Geschäft bestätigt?«
»Das hat der Polizist gesagt. Ich habe nicht mit ihm gesprochen.«
»Dafür gibt es zweierlei Erklärungen: Entweder Sammo steckt mit dem Identitätsdieb unter einer Decke und hat der Polizei gegenüber gelogen, oder er wurde von ihm getäuscht.«
»Aber wie denn getäuscht? Dann müsste er ja so aussehen wie ich.«
»Und wenn er das tut?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ich mir auch nicht.« Kung stellte die Wasserflasche ab, seine Finger zuckten. Gierig starrte er den Noser an, der zwischen zerknautschten PB-Tüten und einer aufgeklappten Plastbox mit Speicherelementen lag, die wie metallisierte Käfer aussahen.
»Trotzdem«, sagte er. »Jemand hätte dich erkennen müssen. Die Angestellten waren im Geschäft. Sie hätten wissen müssen, dass du nicht in deinem Büro warst.«
»Der Polizist hat mit Sammo gesprochen, und dann wollten sie mich festnehmen.« Xialong sah ihn flehentlich an, dabei kannte sie ihn gar nicht. Dieser hagere, nervöse Bursche mit der bleichen, fadenscheinigen, welken Haut war ihr fremd und unheimlich, und trotzdem hatte sie das Gefühl, er sei der Einzige, der ihr helfen konnte. Offenbar war ihre Lage verzweifelter, als sie sich eingestehen mochte.
»Trink einen Schluck«, sagte Kung, der vergessen hatte, ihr Tee anzubieten. Er schob ihr seine Wasserflasche hin. »Ich verschwinde mal eben nach nebenan. Wenn ich zurückkomme, gehen wir zu Onkel Wu, holen deine Sachen und das Com, und dann probiere ich, in deine Accounts reinzukommen. Wird schon klappen.« Er sprang auf, schnappte sich den Noser vom Tisch und verschwand in der Vielzwecknische. Er zog das Fläschchen mit dem Neeze aus der Tasche, klappte den Toilettendeckel hoch, ließ die Hose herunter und setzte sich auf die Schüssel. Der Noser sah aus wie eine Miniaturbrille mit runden, dicken Gläsern. Er klappte ihn auf und träufelte je fünf Tropfen auf die luftdurchlässigen Schwämme, dann steckte er die Flasche ein, klappte den Noser zu und drückte ihn in die Nasenlöcher.
Und atmen – durch die Nase ein, durch den Mund aus.
Ein … und aus.
Ein … und … aus.
Das inwendige Zittern hörte auf. Irgendetwas entspannte sich im Unterleib, er pinkelte in die Schüssel, ein glockenhelles Rieseln, ein anstrengungsloser Zeugungs- und Schöpferakt. Köstliche Ruhe breitete sich in ihm aus. Er war bei sich. Er war ganz. Und doch schwang in diesem großen, leeren Raum, der er war, eine Art Sehnsucht, ein zarter Wunsch mit: sich anzuvertrauen, seine stille Ekstase zu teilen. Er streckte die Hand zum Waschbecken aus, doch das HeadGear war nicht da, er hatte es nicht mitgenommen, als er – vor wie langer Zeit? – hierhergekommen war.
»Kung?«
»Ja?«, antwortete er automatisch.
»Was machst du? Ich glaube, ich hab Angst.«
Die Frau nebenan, er hatte ihr etwas versprochen.
»Das brauchst du nicht«, sagte er. »Ich bin gleich fertig.« Er richtete sich auf, zog die Hose hoch, packte Neeze und Noser ein und spülte.
»So!«, sagte er zu laut, zu energisch, als er wieder ins große Zimmer trat. Am liebsten hätte er sich auf die Schenkel geklopft und einen kleinen Egotanz hingelegt, ahnte aber, dass er Xialong damit noch mehr beunruhigt hätte. »Auf zu Onkel Wu!«
Der Dschungel leuchtete. Diffuses grünliches Licht strahlte von den Fassaden der Glücklichen Familie aus. Sie schienen in einem Rhythmus zu atmen, der als Welle an den Gebäuden entlang floss, an der rechten Seite im Dunkel der Nacht verschwand und sich von links her erneuerte. Die Blattteppiche waren so dicht gestaffelt und die oberschenkeldicken Lianen so eng miteinander verwoben, dass man meinte, ins Innere eines hypertrophen Organismus zu blicken. Die Flaschenblüten mit ihrem roten Aufdruck glichen Symbionten, die sich über die Stängel von unsichtbaren Organen nährten.
Vor dieser morbiden vegetabilen Pracht wirkte der graue Wagen am Straßenrand unwirklich, und die kleinen Gestalten der Zuschauer, die sich vor dem Eingang des dritten Turms der Glücklichen Familie versammelt hatten, erschienen wie Zwergengeister, die sich jeden Moment verflüchtigen mochten. Doch es verhielt sich genau umgekehrt: Der Wagen war wirklich, und die beiden Anzugträger, die einen alten Mann auf den Rücksitz stießen, waren es auch, desgleichen der dürre Typ mit dem Strohhut, der ein wenig abseits der Gaffer stand und ein paar Worte mit dem rauchenden Fahrer wechselte, bevor der sich hinter das Steuer setzte und mit den Anzügen und dem Alten davonfuhr.
»Ich glaube, es ist schlimmer, als wir gedacht haben«, sagte Kung, dann bemerkte er, dass Xialong erstarrt war, ihr Gesicht eine verzerrte Fratze der Angst.
»Na komm«, sagte er leise. »Lass uns hinsetzen.« Er geleitete sie durchs Tor in den Park und setzte sich mit ihr auf eine dunkle Bank unter einem Gingkobaum. In einem vergessenen Holzkäfig zirpte laut eine Zikade, und der kleine Menschenauflauf, der durchs Gesträuch und den Zaun undeutlich zu erkennen war, verlief sich allmählich. Außer ihnen hielt sich kein Mensch im Park auf.
Als Kung der jungen Frau an seiner Seite behutsam den Rücken streichelte, löste sich ihre Erstarrung, und sie begann, heftig zu zittern. »Das ist meine Schuld«, schluchzte sie und schlug sich die Hand vor den Mund. »Sie sind hinter mir her, und jetzt haben sie Onkel Wu …«
»Sie?«, sagte Kung. »Wer sind ›sie‹?«
»Ich weiß es nicht!«, jammerte Xialong. »Ich weiß es doch nicht! Ich weiß gar nichts!«
»Trotzdem müssen wir überlegen, wie es jetzt weitergeht«, sagte Kung. Ihr Weinen machte ihn verlegen, und jetzt, da die Wirkung des Neeze nachließ, beschlich ihn kalte Angst. Auf einmal erschien es ihm durchaus möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass auch er die unsichtbare Grenze zwischen Unbeteiligtem und Mittäter längst überschritten hatte, auch wenn nach wie vor unklar war, worum es überhaupt ging. »Du musst irgendwo untertauchen«, sagte er. »Erst einmal zur Ruhe kommen. Bei einem Freund.«
»Ich habe keine Freunde«, schniefte sie.
»Das glaube ich nicht. Jeder hat doch Freunde – ich meine, jeder außer mir. Zumindest irgendwelche Bekannte, die er um einen Gefallen bitten kann.«
Xialong schüttelte den Kopf und überlegte angestrengt. Ihr Lover Choum? Sie hatte mit ihm geschlafen, doch sie kannte ihn nicht, und er kannte sie nicht. Er wollte morgen nach Honkong zurückfliegen. Würde er bereit sein, die Rückreise zu verschieben, wenn sie ihn um Hilfe bäte? Und was könnte er überhaupt für sie tun, außer sie mit verlegenen Allgemeinplätzen beschwichtigen? Er war hier ein Fremder, kannte sich nicht aus.
Dann vielleicht Tse Ma, ihre Nachbarin aus dem Wohnturm, deren Ameisen sie manchmal fütterte, wenn sie verreist war? Außer ein paar Bemerkungen über das erstaunlich komplexe System der Plexiglasröhren, die ihre ganze Wohnung durchzogen, hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Zhang Sammo hatte sie noch nie privat getroffen, die Angestellten kannte sie nur aus dem Geschäft. Sa Sun, die Tochter ihres Englischlehrers, mit der sie einige Male ausgegangen war, hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen, nicht einmal übers Com. Und ihre Mutter … ihre Mutter war vorerst nicht zu erreichen. Abgesehen davon wusste sie ihre Comadresse nicht, kannte nicht einmal ihre Mailadresse auswendig, das hatte alles Ken für sie arrangiert, und das, was von ihm noch übrig war, war auf ihrem Com gespeichert, das sie bei Onkel Wu liegen gelassen hatte und das jetzt vermutlich in den Händen der Leute war, die ihn entführt oder verhaftet hatten. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, am Tor des Kleinen Himmels zu klingeln und darauf zu hoffen, in der Wohnung ihrer Mutter jemanden anzutreffen, der ihr helfen konnte. So wie die Dinge standen, wäre das zu gefährlich gewesen. Und sonst … sonst gab es niemanden. Sie hatte keine Freunde. Sie war reich, erfolgreich, zu Großem bestimmt – und doch mangelte es ihr am Grundlegendsten, Einfachsten, Allgegenwärtigsten des Lebens – an Freundschaft. Sie war allein. Das war merkwürdig, und noch merkwürdiger war, dass es ihr all die Jahre über nichts ausgemacht hatte, ja, dass es ihr nicht einmal aufgefallen war. Sie hatte in einem wohltuenden, betäubenden Nebel gelebt. Jetzt lichtete sich der Nebel, und zum Vorschein kam eine neue Welt, auf die sie nicht vorbereitet war.
»Wir müssen ins Geschäft«, sagte sie unvermittelt.
»Was?«
»Wir müssen ins Geschäft«, wiederholte sie. »Jetzt gleich.«
Das Himmlische Geschöpfe hatte drei Eingänge: das Kundenportal an der Straßenecke mit dem kleinen Platz davor, das Lieferantentor, das zum Innenhof hinausging, und den unauffälligen Beschäftigteneingang neben dem Schaufenster, der in ein schmales Treppenhaus führte. Exakt drei Personen hatten zu jeder Tages- und Nachtzeit Zugang zu Himmlische Geschöpfe: Zhang Sammo, der stellvertretende Geschäftsführer, Tsema, der Lagerchef (für den Fall, dass eine dringende Lieferung außerhalb der Geschäftsstunden eintraf), und Xialong. Normalerweise identifizierten sie sich mit der ID-App des Coms, doch darauf konnte sie nicht mehr zugreifen, da sie das Com in Onkel Wus Wohnung zurückgelassen hatte, und es hätte wohl auch nicht mehr funktioniert. Der Annäherungssensor, der ihre Anwesenheit bemerkt hatte, verlangte bereits zum dritten Mal mit metallisch schnarrender Stimme: »Bitte identifizieren Sie sich!« Xialong wusste, dass nach der sechsten Aufforderung bei der zuständigen Überwachungsfirma ein automatischer Alarm ausgelöst werden würde. Dann würde es keine zehn Minuten dauern, bis ein Wagen hier eintreffen würde.
»Und jetzt?«, flüsterte Kung, nervös von einem Bein aufs andere tretend. Sie standen dicht beieinander, und er bekam mit, dass sie mindestens zwei Tage lang nicht geduscht hatte. Er war in dieser Beziehung unempfindlich – gegen sich selbst und andere.
»Es gibt ein Failsafe«, sagte Xialong.
»Ach ja? Und wie funktioniert das?«
»Kombinierte Stimm- und Gesichtserkennung.«
»Nicht gerade der neueste Standard.«
Xialong grinste. »Override«, sagte sie. Das Sensorfeld färbte sich dunkelgrün, und einen Moment lang spiegelte es ihr Gesicht, dann klickte das Schloss, und die Tür sprang auf. Sie zwängten sich in den schmalen Flur. Xialong zog die Tür hinter sich zu.
Kung holte die Kopfleuchte aus seinem Rucksack, setzte sie auf und schaltete sie ein. Auch für Xialong hatte er eine Kopfleuchte eingepackt. »Und wenn jemand das Passwort geändert hätte?«, sagte er, als er ihr das elastische Band über den Kopf streifte.
»Das war kein Passwort, sondern ein Systembefehl.«
Kopfschüttelnd stapfte er hinter ihr über die schmale Fluchttreppe zur ersten Etage hoch. Vom Geländer der Empore aus blickte er in den dunklen Geschäftsraum hinunter. Die Bots ruhten unter ihren grauen Staubhüllen, schlafende Maschinen, von den draußen vorbeifahrenden Autos und der Straßenbeleuchtung in ein unstetes Halblicht gehüllt. Xialong hatte inzwischen die Tür zu ihrem Büro geöffnet, ebenfalls mittels Gesichtsidentifizierung. Sie kicherte leise; die Heimlichtuerei machte ihr offenbar Spaß.
Kung hingegen war beklommen zumute. Er kam sich vor wie ein Einbrecher, und auch wenn dieses Gewerbe eine gewisse Verwandtschaft zum Hacken aufwies, war das hier doch etwas grundlegend anderes. Es war die Realität, und wenn man erwischt wurde, reichte es nicht aus, die Datenleitung zu kappen.
Xialong hatte inzwischen hinter dem Schreibtisch auf ihrem Sessel Platz genommen. Ein Display fuhr hoch und beleuchtete fahl ihr Gesicht. Auf einmal sah sie aus wie eine Schauspielerin – wie eine Agentin in einem Thriller. Ihre Finger flogen über die Tastatur.
»Du kannst zehn Finger?«, fragte Kung.
»Du nicht?«
Nein, konnte er nicht. Das chinesische Schreibsystem mit Umschrifteingabe und Auswahl des Zeichens aus der Ergebnisliste hatte er nie gemocht. Er verwendete eine amerikanische Tastatur im Zweifingersystem mit zusätzlicher Spracheingabe.
Während Xialong auf den Bildschirm starrte und hin und wieder eine Handgeste für die Kamera vollführte, behielt er den Verkaufsraum und die Straße im Auge. Der Autoverkehr war stark, doch es waren relativ wenige Fußgänger unterwegs. Zwischen ihnen bewegten sich die kleineren Bots, die keinen Unterschied kannten zwischen Tag und Nacht und für ihre Besitzer Aufträge ausführten, während diese schliefen. Sie kauften ein, holten Pakete ab, entsorgten Müll und führten Hunde aus. Fast konnte man meinen, sie seien die eigentlichen Bewohner dieser Stadt, die ihren vermeintlichen Herren nur dann einen kurzen Auftritt gestatteten, wenn die Sonne die Staubglocke erhellte.
Ein erstickter Aufschrei kam vom Schreibtisch. Er ging hinüber. Xialong fixierte das Display, die Hand vor den Mund geschlagen.
»Was hast du?«, fragte er und legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. Er spürte, wie sich etwas in ihr verflüssigte. Auf dem Display liefen die Bilder von vier Überwachungskameras. Xialong zeigte auf einen Punkt der Zeitschiene. Das Bild sprang um.
»Da!«, sagte Xialong. »Siehst du?«
Im linken oberen Fenster war der Eingang des Geschäfts zu sehen. Eine schwarze Schwebelimousine hielt auf dem Vorplatz, zwei Männer in dunklen Anzügen sprangen heraus. Hinten stieg eine Frau aus: Xialong, bekleidet mit einem hellen, eng geschnittenen Kostüm. Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn, schaute ein wenig verwirrt oder abgelenkt zur Seite, dann trat sie durch die Glastür in den Präsentationsraum. Im zweiten Kamerafenster durchquerte sie den Raum, nickte nach rechts und links Angestellten zu. Kurze Zeit später tauchte sie auf der Empore auf.
»Das bist du«, sagte Kung.
»Nein«, widersprach Xialong und deutete auf die Zeitliste. »Das war vorgestern um siebzehn Uhr zwölf. Ich habe das Geschäft am Vormittag verlassen und bin nicht wiedergekommen. Um die Zeit habe ich draußen ein Stück weiter auf einer Bank gesessen. Ich habe gesehen, wie der Wagen vorgefahren ist. Ich habe gesehen, wie diese Frau ins Geschäft gegangen ist.«
»Und dann?«
»Bin ich zu mir nach Hause gefahren und wurde von der Mottendrohne angegriffen.«
»Ich verstehe«, sagte Kung, obwohl er nichts verstand. Xialong ließ die Videoaufzeichnungen noch einmal ablaufen: Ankunft des Wagens, Betreten des Geschäfts, Durchquerung des Präsentationsraums, Empore. Beim dritten Mal zoomte sie auf das Gesicht der Frau. Ein Irrtum war ausgeschlossen: Das war sie und war es auch wieder nicht.
»Hast du mal einen Stick?«
Xialong wühlte in einer Schublade, dann reichte sie ihm einen USB-Stick. Er beugte sich vor, schob ihn in die Tischbuchse, bewegte die Hand und überspielte den Videoausschnitt. Dann zog er den Stick heraus und hielt ihn an die Beule, die sich auf seiner Schulter unter dem T-Shirt abzeichnete.
»Was machst du da?«, fragte Xialong.
Kung legte den Stick auf den Tisch und zog sich das Sweatshirt über den Kopf. Die Beule war kreisrund wie der angeschwollene Stich eines Rieseninsekts.
»Was ist das?«
»Das ist die Zukunft.«
»Die Zukunft?«
»Ein Implantat«, erklärte Kung. »Irgendwann werden diese Dinger Bewusstseinserweiterungen sein, unsere Berater, Gefährten, Freunde. Im Moment sind sie praktische Datenspeicher, die man nicht verlegen kann. Und die einem so leicht niemand wegnimmt.« Er verschwieg, dass das Ding zusätzlich mit ein paar schlecht funktionierenden Sensoren ausgestattet war. »Ich glaube, wir haben genug gesehen«, sagte er. »Gehen wir?«
»Noch nicht«, sagte Xialong.
Ein Sauger eierte über den Boden, vorbei an den Kisten, die vor dem geschlossenen Tor gestapelt waren und darauf warteten, am nächsten Tag von Tsema ausgepackt zu werden. Das Gerät gab ein unangenehmes Geräusch von sich, ein leises Scharren, Kratzen, Wimmern wie von etwas Eingesperrtem.
Xialong zog den Staubschutz ab. Der Bot stand reglos da, mit baumelnden Armen und hängendem Kopf. Ein Kabel führte zur Wand, wo im Regal grün die Kontrollleuchte der Strombuchse glomm. Nicht nur aufgrund ihrer Größe wirkte die Maschine irgendwie bedrohlich. Die schwarze Latexmaske, der rote, im Schein der Kopfleuchten kalt glänzende Mund und das Lederkorsett erzeugten die Wirkung eines Aliens, der jeden Moment zum Angriffsmodus übergehen mochte. Sie wirkte Respekt einflößend.
»Ich habe vielleicht keine Freunde«, sagte Xialong entschlossen, »aber ich will auch nicht allein sein.«
»Aber das da?«, sagte Kung.
»Ist das neueste, leistungsfähigste humanoide Modell des Jiqiren-Konzerns, mit vollkommen natürlicher, hochflexibler Stimmmodulation und nur noch ganz aus der Nähe von einem Menschen zu unterscheiden. Natürlich muss sie etwas anderes anziehen.«
»Sie?«
»Dali, die Herrin. Und einen anderen Namen braucht sie auch.« Xialong zog den Stecker aus der Strombuchse und ließ es in die Achselgrube einschnappen. Nach kurzem Zögern schaltete sie den Bot ein. Ein kaum wahrnehmbarer Ruck ging durch die Maschine, dann hob sie den Kopf. In den Löchern der Gesichtsmaske hoben sich täuschend echte Lider. Dunkelbraune Augen schauten hervor, blickten nach rechts und nach links und richteten sich dann auf Xialong.
»Null-null-null-null«, sagte die Xialong. »Kalibrierung.«
»Bestätige: Kalibrierung.«
»Neuer Name: Litse.«
»Bestätige: Neuer Name Litse.«
»Neues Passwort: Regenpfeifer.«
»Bitte wiederholen Sie das neue Passwort.«
»Regenpfeifer.«
»Bestätige: Neues Passwort Regenpfeifer.«
»Und sag bitte du zu mir, Litse.«
»Bestätige: Ich sage du zu Ihnen.«
»Zu dir.«
»Bestätige: Zu dir.«
»Kalibrierung beendet.« Xialong nickt zufrieden und wandte sich zu Kung herum, der die Prozedur wortlos beobachtet hatte. »Na?«, sagte sie nicht ohne Stolz.
»Was, na?«
»Litse kann sogar Humor.«
»Oh«, machte Kung. »Jetzt, wo du's sagst …«
Xialong schaltete den Rechner aus. Das Display erlosch und verschwand in der Tischplatte. Sie gingen den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren, doch diesmal waren sie zu dritt. Im Verkaufsraum winkte Xialong in einem Anflug von Übermut in die Überwachungskamera. Sie spürte Litse hinter sich wie eine alte Freundin, die sie immer schon begleitet hatte, und ganz falsch war das nicht, denn Litse war jetzt auf sie geprägt und würde sie niemals im Stich lassen. Sie war nicht mehr allein. Und in diesem von Ungewissheit zitternden Moment hoffte sie, dass auch sie eine Zukunft haben möge. Sie versuchte, sie sich vorzustellen, doch es gelang ihr nicht.