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Ein Urteil

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Es ist am Abend des Alarms in Munegard. Connor hat alle Zauberer des Mondes zusammengerufen. Dean berichtet von seiner vergeblichen Suche nach dem Entflohenen. Unruhe liegt in der Luft und Stühle werden hin und her gerückt. Einige der Anwesenden stellen Fragen und geben unverblümt ihrem Unmut Ausdruck.

»Warum wurde dieser junge Mann gefangengenommen? Ziehen wir mit derartigen Aktionen nicht unnötig die Aufmerksamkeit unserer Gegner auf uns?«

»Ist der Entflohene nun ein Mensch oder ein Elf?«

»Das ist doch wohl egal, jedenfalls muss er zaubern können.«

»Das stimmt nicht, der Gefängniswärter kann ihm ja geholfen haben.«

»Wer ist für diese Schlamperei verantwortlich? Wenn wir derart nachlässig agieren, werden wir niemals die Herrschaft übernehmen.«

»Weshalb lagen die Kleidungsstücke des Geflohenen in der Zelle? Kann das wenigstens jemand erklären? Er wird nicht nackt geflohen sein, oder?«

»Gibt es hier noch mehr Gefangene und werden die besser bewacht?«

»Warum werden wir erst jetzt über die Vorgänge informiert?«

»Sind wir keine gleichberechtigten Zauberer?« Völlig gelassen und ohne sich einzumischen, lauscht Connor bisher den Äußerungen. Doch allmählich wird es ihm zu bunt.

»Alle mal herhören«, erklingt seine gefährlich leise Stimme. Sofort verstummen die anderen. Es ist so, als ob der Magier Eiswasser über sie gegossen hätte. Sie frösteln auf einmal und Schauer laufen ihnen den Rücken hinab. Der unumstrittene Anführer nickt einem Diener zu, der wartend an der einzigen Tür des Versammlungsortes steht. Daraufhin verlässt dieser kurz den Raum und bringt dann den Gefängniswärter herein. Der Mann ist mehrere Stunden von Dean verhört worden, wobei der Zauberer in dessen Geist eindrang, da er ja nicht zu reden vermag. Entsprechend jämmerlich sieht der Wärter aus. Die Hände sind ihm mit einem groben Seil auf dem Rücken zusammengebunden. Er hält den Kopf gesenkt und zittert. Ob er ahnt, was ihm droht? Er folgt der Aufforderung des Dieners, der ihm einen Stoß versetzt und mit ausgestrecktem Arm in die Mitte der Versammlung deutet. Der Diener kehrt um und stellt sich breitbeinig vor die Tür. Die Augen des Wärters huschen durch den Raum. Was erwartet ihn hier? Eine Fluchtmöglichkeit gibt es für ihn nicht, also rafft er sich zusammen, bewegt sich schlurfend vorwärts und steht dann starr und verängstigt in der Mitte. Ringsumher herrscht Schweigen, nicht einmal ein Hüsteln ist zu vernehmen.

»Das ist der Mann, dem der Gefangene entkommen konnte!« Die Stimme Connors ist eisig. »Schaut ihn euch genau an. Könnt ihr euch vorstellen, dass er einem seiner Obhut übergebenen Gefangenen zur Flucht verhelfen würde, wenn er weiß, welche Strafe ihm droht?« Der gefesselte Mann wagt es, einen Blick in die Runde zu werfen. Steht er hier vor Gericht? Wie kann er sich verteidigen? Seine Lippen bewegen sich, doch außer einigen unartikulierten Lauten vermag er nichts hervorzubringen.

»Ob vorstellbar oder nicht«, ist eine erste Stimme zu hören, »warum versucht er nicht, sich zu verteidigen?«

»Der sieht für mich schuldig aus«, wird die nächste Meinung geäußert.

»Warum hat er ausgerechnet diesem Gefangenen zur Flucht verholfen?«, fragt jetzt Dean. »Es gibt noch zwei weitere Gefangene, die in ihren Zellen angekettet sind. Wenn dieser Elende mit der Befreiung eines ihm Anvertrauten sein Leben verwirkt, warum sollte er den anderen nicht auch helfen?«

»Wer sind die anderen? Wurden sie gemeinsam gefangen und eingesperrt?«

»Ist der Flüchtige möglicherweise ein Bekannter des Wächters? Könnte das ein Grund sein?« Der Zauberer, der das sagt, strahlt über das ganze Gesicht. Er ist sicher, eine gute Idee geäußert zu haben.

»Hältst du uns für blöd?«, begehrt Dean sofort auf, wird aber von Connor mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht, bevor er fortfahren kann.

»Das ist wirklich mal ein kluger Einfall, mein Freund Grimur. Du hast mit deinem Scharfsinn blitzschnell erkannt, worauf es bei der Bewachung eines Gefangenen ankommt.« Der oberste Dubharan blickt sich um. Bemerken die anderen Magier seine Ironie? Er ist sicher, einige werden es. »Da du diesen Geistesblitz nicht nur hattest, sondern uns auch daran teilhaben lassen hast, übertrage ich dir ein sehr wichtiges Amt. Kannst du dir vorstellen, welches das ist?« Connor schaut den Zauberer auffordernd an. Er weiß, Grimur hat den Entflohenen ursprünglich von den Häschern übernommen und hergebracht. Selbst bei derartigen Aufgaben, deren Erledigung keine große Intelligenz erfordert, war dieser Zauberer oft derart dumm vorgegangen, dass die ihm Anvertrauten schon des Öfteren entkommen konnten. Das hat Connor nicht vergessen. Jetzt strahlt Grimur erwartungsvoll. »Du übernimmst ab sofort die wichtige Aufgabe des Gefängnisaufsehers. Uns darf keinesfalls einer der verbliebenen Gefangenen entkommen. Ich hoffe, du hast mich verstanden!« Den letzten Satz hat Connor mit erhobener Stimme und besonderer Betonung gesprochen. Der vermeintlich beförderte Grimur steht einen Moment still. Es ist zu erkennen, dass er angestrengt nachdenkt. Das scheint ihm schwerzufallen, da er ein verbissenes Gesicht macht. Dann äußert er sich:

»Danke. Ich nehme das Amt des obersten Gefängniswärters an. Bekomme ich dann auch eine Amtswohnung hier in der Festung?«

»Selbstverständlich«, antwortet Connor mit unbeweglichem Gesicht. »Dem Amt entsprechend bekommst du nicht nur das, sondern auch kostenlose Verpflegung.«

»Das ist gut. Das gefällt mir. Aber … Was passiert mit dem bisherigen Wärter? Wird er für seine Unaufmerksamkeit bestraft? Ich würde diese Aufgabe auch gerne übernehmen.« Erwartungsvoll schaut er in die Runde und dann wieder zu Connor. Der in der Mitte der Versammlung stehende Mann hat mit gesenktem Kopf die kurze Zeit genossen, die er nicht im Mittelpunkt des Interesses stand. Sein Blick ruht jetzt erschrocken auf Grimur. Er kennt den sadistischen Zauberer. Schließlich ist er bei der Übergabe der Gefangenen immer wieder mit ihm zusammengetroffen.

»Das steht noch nicht fest. Wir müssen noch entscheiden, ob er schuldig ist oder nicht.« Der oberste Dubharan schaut dem erneut zitternden Mann ins Gesicht. Ohne dass dieser das bemerkt, dringt er in dessen Geist ein, forscht in seinem Gedächtnis. Es dauert längere Zeit, während der der Mann den Kopf schüttelt und das erlösende »Nicht schuldig« zu vernehmen hofft. Als Connor den Mund öffnet, ist es soweit.

»Schuldig!« Der ehemalige Wärter fällt auf die Knie und schüttelt sein Haupt. Er weiß, dass er nicht zur Befreiung beigetragen hat, aber wie soll er das beweisen? Er kann sich nicht äußern, weder mündlich noch schriftlich, da er Schreiben nie erlernt hat. Er wird hier genauso wenig zu seiner Verteidigung aufgefordert, wie in den Stunden zuvor. Tränen laufen ihm über das Gesicht. Welche Strafe hat er zu erwarten?

Dean blickt erstaunt zu Connor. Wie kommt der zu dem Schluss? Er hat nicht nur die Zelle, sondern auch den armseligen Wohnraum des Wärters untersucht und dabei keinen Hinweis auf eine Beteiligung des Mannes gefunden. Das anschließende geistige Verhör des Gefängniswärters hat dann bestätigt, dass dieser weder nachlässig, noch an der Flucht des Entkommenen beteiligt gewesen ist. Aber schon folgt die Begründung des Schuldspruchs.

»Er hat dem Gefangenen nicht direkt, sondern indirekt geholfen. Wenn er öfter als einmal täglich die Ketten kontrolliert hätte, wäre die Flucht sicher nicht möglich gewesen. Doch das hat er nicht getan.«

»Welche Strafe soll er erhalten?«, fragt Grimur gespannt. »Soll ich ihn töten und vorher noch etwas auspeitschen oder bekommt er nur die Peitsche? Ich bin dafür, meinen ersten Vorschlag zu wählen.« Weinend und zitternd liegt der gefesselte Wärter am Boden und erwartet das Schlimmste.

»Du solltest dir deinen Vorschlag gut merken, Grimur. Das wird deine Strafe sein, wenn jemals einer der Gefangenen entkommen sollte, die in deine Obhut gegeben werden. – Nein, dieser Mann wird zwei Wochen in der Zelle angekettet, aus der der Jüngling entkommen ist. Er bekommt nur einmal täglich etwas Wasser und eine Scheibe trockenes Brot. Danach wird er freigelassen und muss die Festung verlassen. Ohne etwas mitzunehmen, darf er gehen wohin er will.«

Der weinende Mann hat sich halb aufgerichtet und versucht die Füße Connors zu erreichen, um sie dankbar zu küssen. »Lass das, oder ich ändere meinen Entschluss«, fährt dieser ihn empört an. Völlig verwundert fragt sich Dean, warum Connor so unerwartet weich reagiert. Das entspricht überhaupt nicht der Art des obersten Zauberers des Mondes. Er ist sonst eher grausam und hart bei Bestrafungen.

Grimur zieht den Mann hoch und bringt ihn mit dem magischen Sprung in die Gefängniszelle. Es dauert nicht lange, dann ist er mit einem breiten Grinsen im Gesicht zurück. Dean ist sich sicher, dieser Wärter wird die Zellen mehrmals am Tag kontrollieren. Er wird keinesfalls riskieren, die von ihm vorgeschlagene Bestrafung zu erhalten.

Der dritte Versuch Magische Wesen

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