Читать книгу Der dritte Versuch Magische Wesen - Norbert Wibben - Страница 8
Kings Crown
ОглавлениеCian weiß nicht so recht was er machen soll. Jedes Mal, wenn er meint, dass sein Versuch erfolgreich ist, die Traumsequenz aufzurufen, verschwinden die Bilder wieder. Den gesamten Vormittag wandert er mit großen Schritten durch den Raum, mal die Hände auf dem Rücken verschränkt, dann sie ballend oder mit einer Faust in die geöffnete andere Hand schlagend. Der alte Magier ist überzeugt, der Traum hat ihn nicht grundlos heimgesucht. Das muss etwas bedeuten. Und es hat mit … Nein, hier verwirren sich die Gedanken erneut. Er bekommt keinen Faden zu fassen, dem er folgen kann. Gegen Mittag meldet sich ein Hungergefühl. Soll er jetzt etwas zu sich nehmen? Unschlüssig wandert er weiter. Seine hellblauen Augen, die erstaunlich jung wirken, schweifen umher, fixieren kurz ein Buch in den übervollen Bücherregalen, um dann sofort ein anderes anzusehen. Er weiß, ein willkürlich gewähltes Buch wird ihn nicht unterstützen können, den flüchtigen Traum zu fassen. Das wäre mehr als nur Zufall, das käme einer Fügung gleich, die nicht … Cian stutzt. Ist es den Versuch wert, mit geschlossenen Augen auf die Regale zuzugehen, um einen der alten Wälzer auszuwählen?
»Du wirst wirklich senil, mein Lieber«, spricht er zu sich. »Und außerdem vernachlässigst du das Feuer!« Sein Blick ruht auf letzten, kaum noch glimmenden Resten. Soll er mit einem Spruch Holzscheite aus seinem Vorrat herzaubern? Nein. Er entscheidet anders. Die Bewegung, verbunden mit einer kleinen körperlichen Anstrengung, wird ihm vermutlich guttun. »Anschließend mache ich mir eine schöne, heiße Tasse Tee und esse etwas Käse. Ja, das mache ich!« Er nimmt den abgetragenen Umhang, in den er sich aus alter Gewohnheit wickelt und verlässt den Raum. Mit Absicht nutzt er dazu nicht den magischen Sprung. Es ist an der Zeit, sich mal wieder einen Überblick über den Zustand der alten Königsburg, besser gesagt den der Ruine, zu verschaffen. Die Eichentür führt auf ein Podest, von dem sich eine steile Steintreppe nach unten windet. Die Sonne steht hoch am Himmel, an dem vereinzelt weiße Wolken zu sehen sind. Mehrere schwarze Vögel spielen übermütig in der Luft, scheinen sich gegenseitig zu jagen und krächzen laut. »Dohlen«, murmelt Cian und folgt den ausgetretenen Stufen vorsichtig abwärts. Fünf Minuten später befindet er sich innerhalb eines Trümmerfeldes riesigen Ausmaßes. Er dreht sich um und überprüft die Maskierung des Turmes, den er jetzt hinter sich gelassen hat. Er staunt jedes Mal, wie perfekt sein Tarnzauber funktioniert. Die Ruine sieht derart baufällig aus, dass der nächste heftige Windstoß sie zusammenbrechen lassen wird. Niemand, der nichts von der Existenz seines Heims weiß, würde Giants Crown, den letzten erkennbaren Rest der Königsburg, zu betreten wagen. Er würde sich vielmehr möglichst weit entfernt davon aufhalten, da sogar ständig Schuttbrocken von den höheren Stellen nach unten rieseln. Aber lassen sich damit andere Zauberer täuschen? Was ist, wenn sie eine Tarnung vermuten und sie mit einem Entdeckungs- oder Offenbarungsspruch aufzuheben versuchen? Der alte Elf probiert alle Sprüche, die ihm dazu einfallen, doch der Anblick der Ruine ändert sich nicht.
In diesem Augenblick schreckt Cian kurz zusammen. Aus dem Augenwinkel meint er, einen Blitz gesehen zu haben! Schnell ruft er mit »Sgiath« und »Protego« einen Schutz für sich auf. »Ich werde wirklich senil! Portaro!« Im gleichen Moment flirrt die Luft und Cian steht etwa 100 Meter entfernt auf einem der Steinhaufen. Von hier hat er einen guten Überblick. Befindet sich irgendwo ein feindlicher Magier? Sein Blick schweift forschend umher. Er schaut zum Schwarm Dohlen hinauf, den er mit seinem Erscheinen aufgeschreckt hat. Erneut ändert er den Aufenthaltsort. Von dem anderen Steinhügel aus kann er genau die Stelle sehen, wo er sich aufhielt, als er einen Blitz entdeckt zu haben glaubte. Nein. Ein Feind ist nirgends zu sehen! Aber was wird es gewesen sein, wenn es nicht das Ergebnis eines Zauberspruchs war? Cian wechselt abermals den Standort, doch auch von hier ist kein Gegner zu entdecken.
Die Königsburg stand ursprünglich auf einem großen Hügelplateau. Jetzt sucht er die Grenzen der Hochebene ab. Trotz des hohen Alters ist die Sehstärke seiner Augen seit der Jugend unverändert. Das ist nicht erstaunlich, sondern bei Elfen immer so. Selbst wenn Elfenaugen verletzt werden, etwa in einem Kampf, sind sie durch eine entsprechende Wundbehandlung oder mittels Zauber schnell wieder geheilt. Jetzt erblickt der alte Ausbilder einen, nein zwei Wölfe, die langsam den Rand des Plateaus entlang trotten. Sollten das feindliche Magier sein, die ihre Gestalt gewechselt haben, um harmlos zu erscheinen? Aber was wollen sie hier? Eines der beiden Raubtiere wittert in seine Richtung, scheint ihn direkt anzublicken, dann folgt es dem anderen. Cian zweifelt. Diesen Aufenthaltsort kennt bisher niemand, oder doch? Hm. Finn ist er bekannt und auch Kayleigh, aber beiden vertraut er. Der Elf erstarrt. Etwas blitzt kurz in seinem Kopf auf. Finn? Ja, sein Traum hatte mit seinem Schüler zu tun. Doch die Sequenz lässt sich nicht aufrufen. Der Herzschlag des alten Elfen beschleunigt sich. Ist Finn in Gefahr? Ein Schauer überläuft seinen Rücken. Er fühlt sich unbehaglich, so, als ob er beobachtet werden würde. Feine Nackenhaare richten sich auf und er wendet sich schnell um. Aber dort ist niemand! Lediglich eine Elster hüpft zwischen den Trümmern umher. Sollte sie den Blitz …? Das könnte sein!
Dieser Vogel aus der Rabenfamilie ist möglicherweise der Verursacher der Lichterscheinung. Im nächsten Moment steht Cian wieder dort, wo er etwas aufblitzen zu sehen meinte. Doch die Elster wird er nicht versehentlich als strahlende Erscheinung bemerkt haben. Selbst wenn sie fliegt und die großen, weißen Stellen ihres Körpers oder die Enden ihrer Schwingen kurz in seinem Sichtfeld waren, wird er sie nicht mit einem Blitz verwechselt haben. Da ist er sich sicher. Aber etwas anderes ist möglich. Elstern lieben alles, was glänzt. Rundliche, silbrig glänzende Gegenstände wecken ihr Interesse besonders stark. Falls sie derartige Schmuckstücke entdecken, können sie nicht widerstehen. Sie sind schlau und schaffen es oft, sie in einem unbewachten Moment mitzunehmen und zu verstecken. Cian schaut sich um. Diese Vögel sind standorttreu, überwachen als Brutpaare ihr Revier ganzjährig und bleiben ein Leben lang zusammen. Ein Paar hat er in den letzten Jahren immer wieder hier gesehen, deshalb sucht er nach dem zweiten Tier. Cian sieht, wie es dorthin fliegt, wo er vorhin einen Blitz zu sehen meinte. Langsam bewegt sich der Elf auf den Vogel zu, um ihn nicht zu erschrecken. Hüpfend bringt sich dieser etwas außer Reichweite und schaut mit schräg gehaltenem Kopf zu, was der große Mann dort vorhat. Das Tier klappert mehrfach mit den Augendeckeln. Sollte sein Versteck entdeckt worden sein? Cian bückt sich und stochert vorsichtig in dem kleinen Laubhaufen herum. Verblüfft zieht der Elf die Luft ein. Was er sieht, will er fast nicht wahrhaben. Vor ihm liegt ein Ring, ein sehr alter Silberring. Er hebt ihn auf und betrachtet ihn, wobei sich das Sonnenlicht in zwei geschliffenen, blauen Steinen spiegelt. Sie leuchten und glitzern hell, als er den Ring bewegt. Könnte der Blitz dadurch verursacht worden sein? Möglich wäre das schon. Er wendet sich in Richtung der Elster und deutet eine Verbeugung an.
»Ich danke dir, mein kleiner Freund. Dieses Artefakt scheint mir etwas Besonderes zu sein. Ich werde es in Ehren halten.« Er steckt das Schmuckstück in eine Tasche und zaubert stattdessen ein Stück Fleischwurst herbei, das er mit Laub und einigen Grashalmen zudeckt. Langsam bewegt er sich zurück in Richtung der Steintreppe, die zu seinem Turm hinaufführt. Hier dreht er sich um und blickt zurück. Der schwarz-weiße Vogel hopst zu dem Versteck. Das Tier scheint es zu begutachten. Wurde hier etwas geändert? Vorsichtig senkt es den Kopf und zerrt mit dem Schnabel die Abdeckung beiseite. Im nächsten Moment hackt die Elster in die Wurst und schnappt sich einen Teil davon. Der Handel ist offenbar akzeptiert worden.
Cian läuft an der Treppe vorbei. Schon bald kommt er zu einem optimal in einem Steinhaufen versteckten und gegen Feuchtigkeit geschützten Verschlag, in dem er Holzscheite lagert. Er nimmt einen Arm voll auf und schließt das Gatter. Sofort flirrt die Luft und er steht in seinem Wohnraum. Zwei der Holzstücke legt er auf die restliche Glut im Kamin, die anderen stapelt der Elf neben der Feuerstelle. Das mittlerweile heftige Verlangen des Magens nach Nahrung missachtend, tritt er an die Bücherregale. Er ist voller Wissbegierde, was es mit dem Ring auf sich hat, der eine Schlange oder einen Drachen darstellt. Wem wird er gehören, und wo hat die Elster ihn entwendet?