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„Als in Bayreuth ein Theaterwunder passierte“

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Marieluise Müller beobachtete die Festspiele 28 Jahre lang als Redakteurin der „Festspielnachrichten“, Monika Beer als Opernkritikerin. Jetzt sprechen sie erstmals nicht mit Interviewpartnern, sondern miteinander über die Bayreuther Festspiele. Ein Rückblick auf zwei (Berufs-)Leben für den Grünen Hügel

Von Monika Beer und Marieluise Müller

In den Räumen eines alten Hauses am Bayreuther Marktplatz kreuzten sich ihre Wege: Dort verstärkte in den Semesterferien die Redakteurin Marieluise Müller die Crew des „Nordbayerischen Kuriers“, dort begann Monika Beer als Volontärin ihre journalistische Ausbildung. In diesen Jahren wurde der Jahrhundert-„Ring“ für beide das entscheidende Opernerlebnis. Monika Beer wechselte ins Pressebüro der Bayreuther Festspiele, übersetzte Chéreaus „Ring“-Buch aus dem Französischen ins Deutsche. Marieluise Müller schrieb ein Buch über den Startenor Peter Hofmann.

Darüber und über das, was ihnen das Musiktheater bedeutet und was sie von ihm erwarten, sprachen die beiden jetzt zum ersten Mal nicht mit Interviewpartnern, sondern miteinander. Monika Beer aus der Sicht Opernkritik, auf die sie sich im Laufe ihrer Zeitungslaufbahn spezialisierte, Marieluise Müller mit der Erfahrung ihres „Herzensberufs“ Regie, den sie nach dem Studium der Theaterwissenschaft in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellte. Da beide jahrzehntelang auch für die „Festspielnachrichten“ schrieben, die von 1951 bis 2013 die Festspiele begleiteten (28 Jahre lang mit Marieluise Müller als Chefredakteurin), war es für die Autorinnen an der Zeit, einen gemeinsamen Blick „zurück in die Zukunft“ zu werfen.

Marieluise Müller: Wenn wir über Oper sprechen, frage ich mich zuerst: Wie findet man den Weg zu ihr?

Monika Beer: Mich hat als Kind zuerst Maria Callas elektrisiert, im Radio, und wie ich erst spät herausfand mit einer Meyerbeer-Arie! Die Callas hat mir – ohne dass ich wusste, wer sie war – emotional einen unglaublichen Kick gegeben, mit einer Koloraturarie, die für mich mehr war als „nur“ Kunst. Als ich dann Klavier lernte, war ich versessen darauf, mich durch Musik auszudrücken. Das ging so weit, dass ich nach einem Umzug aus Heimweh nur noch traurige Musik spielte.

Müller: Das heißt, die Musik verstärkte deine Emotionen, war aber nicht der Trost, der sie hätte auffangen können…?

Beer: Ich wollte zurück an einen bestimmten Ort – und nicht getröstet werden. Im Nachhinein fand ich es eine gesunde Reaktion, dass ich nicht am Klavier kleben geblieben bin. Ich war damals sowieso mehr bei den Beatles und Stones, sang in einer Beatband. Mit sechzehn kam ich nach Bayreuth, meine erste Oper erlebte ich im Festspielhaus – eine „Lohengrin“-Generalprobe. Die Musik fand ich toll, aber der Augenmensch in mir wurde nicht angesprochen. Stämmige Männer in Röckchen: das war nix für uns Teenager…

Müller: Auch ich hörte als Gymnasiastin meine erste Wagneroper im Festspielhaus. „Tannhäuser“, Mitte der 60er Jahre. Die besten Sammler fürs „Müttergenesungswerk“ hatten Generalprobenkarten bekommen. Jess Thomas und Anja Silja sangen – ich war hin und weg. Bis dahin hatte ich nur einen „Freischütz“ in Coburg besucht, Lehárs „Paganini“ im Fernsehen gesehen, ausgiebig Loewe-Balladen mit Dietrich Fischer-Dieskau gehört und als Pfarrerskind natürlich – mehr schlecht als recht – Harmonium gespielt. Aber Siljas Jubel „Dich, teure Halle, grüß ich wieder“ hör ich heute noch!

Beer: Apropos teuer: Als Abiturientin lernte ich eine andere Seite der Festspiele kennen, als Bedienung im Festspielrestaurant. In einer Dienerfunktion merkt man schnell, wie sich die Leute unterscheiden…

Müller: … ob sie von Geld- oder von geistigem Adel sind…

„Da die Festspiele eine beschämende Geschichte haben, müsste es ein Informations-angebot für alle geben, die in die Stadt kommen.“

Beer: Die Unternehmerin Grete Schickedanz war eine positive Erfahrung, der Modeschöpfer Heinz Oestergaard dagegen unausstehlich. In dieser Zeit hörte ich Birgit Nilsson – und ich verstand nicht, warum die Leute bei ihr so gejubelt haben. Mir war klar, dass sie perfekt singt, aber es hat mich nicht so berührt. Das ist erst später passiert, bei einer „Götterdämmerung“ mit Catarina Ligendza. Ihr Gesang, ihre Brünnhilde hatte plötzlich eine dramatische Wahrhaftigkeit – ganz unabhängig vom Inszenierungs-Schamott außen rum, von dem es ja reichlich gab. Und dann kam schon Chéreau… Was kam bei dir nach Silja?

Müller: Das Abitur und ein Sommer als Blaues Mädchen, wie die Türsteherinnen noch hießen, weil sie immer blaue Kostüme trugen. Wer kennt das nicht: Kinder mutieren in Bayreuth zu Nibelungen, Mädchen werden Platzanweiserinnen – ganze Legionen junger Bayreuther sind so mit den Festspielen in Berührung gekommen. Wer weiß, ob wir beide die Oper so intensiv für uns entdeckt hätten ohne Bayreuth? Allerdings hielt sich meine Begeisterung in Grenzen. Und da ich bereits fürs „Bayreuther Tagblatt“ und die „Festspielnachrichten“ schrieb, wusste ich, dass es schwierig war, ein Interview mit Karl Böhm, dem legendären Dirigenten, zu bekommen. So nutzte ich die Gelegenheit, mich frei im Festspielhaus bewegen zu dürfen und klopfte in einer Pause an die Tür seines Dirigentenzimmers. Ungeheuerlich, mit welcher Naivität ich das wagte! Aber es wurde – für mich heute noch ein kleines Wunder – ein liebenswürdiges Gespräch. Während meines Studiums rückte die Oper in den Hintergrund, spielte nur sommers in der „Kurier“-Redaktion die Hauptrolle in Form von vielen, vielen Künstler-Interviews und Generalprobenbesuchen. Wobei ich heute sagen muss, dass mir diese Gespräche mehr für meine eigene Theaterarbeit gebracht haben als mein Studium.

Beer: Welche Interviews waren wichtig für dich?

Müller: Sicher eins der letzten aus dem Jahr 2012 mit Reinhard von der Thannen, dem „Lohengrin“-Bühnenbildner, eins der schönsten über das Leben und seine Höhen und Tiefen. Drei Jahre lang fesselten mich auch die Gespräche mit Peter Hofmann für das Buch, mit dem ich auch zeigen wollte, dass sich wieder junge Menschen über seine Person für Oper interessieren.

Beer: Dem Sexappeal, den er hatte, erlebt man in der Oper doch nur alle heiligen Zeiten…Was war das für ein Aufschrei nach dem ersten „Walküre“-Akt!

Müller: Erstmals ein glaubwürdiges Liebespaar auf der Bühne!

„Wenn die ‚Bild’-Zeitung von Ovationen bei der Eröffnung berichtet, trampelt das Publikum bei den nächsten Vorstellungen.“

Beer: Für mein professionelles Opernverständnis war vor allem Erich Rappl wichtig. Was hab’ ich nicht alles von ihm gelernt! Er war als Musikkritiker mein früher Leitstern, hat mich in der Redaktion gefördert und befeuert. In den „Festspielnachrichten“ dann den ersten Artikel veröffentlichen zu dürfen, war ein Meilenstein.

Müller: Und dann kam Patrice Chéreau – dieser unbekannte, junge Regisseur aus Frankreich.

Beer: Warum sein „Ring“ 1976 so einschlug, hat damit zu tun, dass er Wagner aus der Abstraktion nahm und in einen historischen Zusammenhang stellte – und zwar genau zum richtigen Zeitpunkt.

Müller: Was man nach dem Krieg nicht hätte tun können! All diese traumatisierten Menschen brauchten erst mal Abstand, um wieder zu sich kommen zu können.

Beer: Dass nach Neubayreuth und nach den 68er Jahren dieses avantgardistische Kunstereignis, das gesellschaftlich-politische Veränderungen so unmittelbar auf der Bühne abbildete, ausgerechnet in Bayreuth stattfinden konnte, ist eine Sensation, die sich bis heute nicht mehr ereignet hat.

Müller: Chéreau ist zudem für mich ein Theatermann, der durchaus intellektuell an etwas heranging, aber das Publikum ins Herz traf.

Beer: Ich bin nur deshalb von der Zeitung ins Festspielhaus gewechselt, um hinter sein Geheimnis zu kommen! Es hatte sehr viel mit seiner Liebe zu den Figuren zu tun, zu seinen Solisten – und mit unendlich viel harter Arbeit. Soweit ich weiß, war er in fünf Jahren bei nur zwei „Ring“-Aufführungen nicht in Bayreuth. Sonst stand er bei jeder Vorstellung in der Seitengasse, und hat, wenn’s drauf ankam, die Nebelmaschine selber bedient. Alle wussten, er ist da und kaut an den Fingernägeln vor lauter Nervosität, dass was schiefgehen könnte. Dafür haben ihn alle geliebt, außer Karl Ridderbusch…

Müller: …René Kollo war wohl auch nicht begeistert.

Beer: Die meisten Solisten haben ihn geliebt, weil sie gespürt haben, dass er was aus ihnen rausholte, das sie sonst nicht geben konnten. Bei anderen Regisseuren hört die Arbeit doch mit der Premiere auf.

Müller: Was passiert, wenn ein Regisseur sein Werk im Stich lässt oder lassen muss, haben wir in Bayreuth öfter erlebt.

Beer: Das ging gleich nach Chéreau los, als Peter Hall und Georg Solti aus ihrem „Ring“ ausgestiegen sind. Aber selbst in dieser nur pseudoromantischen Inszenierung konnten die Sänger manchmal über die Konvention hinauswachsen und das realisieren, was Wagner wohl intendiert hat. Solche Abende gibt es eben in der Oper: Dass alles richtig sein kann, obwohl alles falsch ist. Aber die extrem intensive Wirkung von Opernsängern habe ich erstmals bei Chéreau erlebt. Das war von 1976 bis 1980 der Fall, als in Bayreuth ein Theaterwunder passierte und es auch drum herum mit Götz Friedrichs „Tannhäuser“ und dem „Holländer“ von Harry Kupfer großartige Musiktheaterinszenierungen gab. So sollen Festspiele sein!

Müller: Mich hat Chéreau zurück in die Oper gebracht. Er hat mir das Musiktheater als Lebensbereicherung gerettet. Wie ordnest du in diesem Zusammenhang Schlingensief ein?

Beer: Er hat meinem Wunschbild von Bayreuth entsprochen. Auch er war ein manischer Arbeiter, wurde aber gern als spinnert abgetan. Dabei war seine soziale Komponente – mit den Behinderten, die er auf die Bühne stellte – für „Parsifal“ interpretatorisch unglaublich bereichernd. Leider hat er nicht durchgängig die richtige Besetzung gehabt für das, was er wollte. Und dass das Haus anfangs nicht mal das Geld für einen Beamer aufbringen wollte, ist schon ein Hammer. Bayreuth sollte doch etwas anderes sein als jedes andere Festival! Wenn man schon einen einmaligen Ort hat, sollte er auch mit etwas Einmaligem gefüllt werden. Und das Einmalige kann nur entstehen, wenn Verantwortliche da sind, die wissen, was Kunst ist – und was in der Kunst einmalig sein kann.

„Man kann sich nie darauf verlassen, dass man einen tollen Abend erlebt, wenn man ins Theater geht.“

Müller: Ketzerisch dazwischengesagt: War es nicht eher ein Zufall, dass Chéreau nach Bayreuth kam – dank Pierre Boulez, der ihn nach den Absagen von anderen Regisseuren empfohlen hatte?

Beer: Natürlich war das auch ein Glücksfall! Aber es ist möglich, ein gewisses Höchstniveau zu erreichen, indem man Leute sucht, die ihr Handwerk verstehen. Patrice konnte zwar keine Partitur lesen, aber intuitiv richtig mit der Musik umgehen. Das ist ein Punkt, wo mit Ausnahme von Hans Neuenfels das aktuelle Bayreuth penetrant scheitert. Die meisten Regisseure verstehen einfach nicht, was die Musik ihnen bietet, wo sie was draufsetzen können und wo sie Raum für sich braucht.

Müller: „Prima la Musica“ ist für mich die Grundlage, auf der eine stimmige Operninszenierung fußen sollte. Im Endeffekt kann man erzählen, was man will, aber man muss im richtigen Rhythmus ein- und ausatmen. Der Atem ist die Musik. War Heiner Müller einer, der die Musik verstanden und gefühlt hat?

Beer: Gefühlt mit Sicherheit, sonst hätte er dieses Todesbild, das er in seinem angeblich kühlen, in Wahrheit aufwühlenden „Tristan“ verfolgt hat, nicht in dieser Konsequenz bringen können. Und: Er war ein autonomer Künstler.

Müller: Was verstehst du darunter?

Beer: Dass jemand nicht nur auf die Oper fokussiert ist, sondern auch auf einem anderen Gebiet Künstler ist. Das ist in der Oper vielleicht sogar unerlässlich, weil sie so viele Ausdrucksebenen hat.

Müller: Eine Garantie ist es aber nicht.

Beer: Stimmt. Alfred Kirchners „Ring“-Regie war der ungewöhnlich starken Ausdruckskunst von rosalie nicht gewachsen. Und Tankred Dorst konnte nur mit seinem Konzeptbuch Hoffnungen wecken, nicht durch die konkrete Umsetzung.

Müller: Die zu geringe Zeit – auch Dorst war Einspringer – spielte sicher eine Rolle. Aber vielleicht vermochte er auch nicht, alle mit seiner Idee anzustecken. Sein „Ring“-Konzept hätte ich zu gern verwirklicht gesehen – die unsichtbaren Götter zwischen den ahnungslosen Menschen…

Beer: … und dem ahnungslosen Siegfried, dem bei Dorst erst Lance Ryan eine schlüssige Statur gab. Wir sollten nicht vergessen, wie wichtig eine passgenaue Besetzung für eine Inszenierung ist! Sie ist für mich ein Kernpunkt für das jetzige Scheitern in Bayreuth. Inzwischen besetzt das Staatstheater Nürnberg Wagner besser als der Hügel.

Müller: Damit sind wir der Frage, warum Chéreau so eine große Wirkung entfachen konnte, ziemlich nahe gekommen. Fehlt noch der Dirigent. Wenn Musik und Bühne in zwei Teilen nebeneinander herlaufen, kann ein Konzept weder überzeugen noch ergreifen.

Beer: In München habe ich gerade das beste Beispiel seit langem erlebt, bei Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ mit Kirill Petrenko und Andreas Kriegenburg. Der Dirigent saß auf jeder Probe und umgekehrt hat der Regisseur immens von ihm gelernt. Das Ergebnis: Sogar Leute, die sonst vor Zwölftonmusik weglaufen, waren gepackt.

Müller: Spontane Emotionalität heißt ja nicht, dass jeder in seinem Innersten im Einklang berührt wird. Es kann auch massiver Widerstand dabei entstehen. Aber eben kein unbeteiligter Konsument.

Beer: Genau an diesem Punkt scheitert Frank Castorf mit seinem „Ring“, weil er die Emotion nicht zulassen will und damit die Wirkung, die die Musik hat, zerstört.

Müller: Gerade deshalb mögen manche Menschen diese Inszenierung – sie erlaubt ihnen, emotional Abstand zu halten.

Beer: Castorf hat abgesehen davon am Grünen Hügel seine DDR-Geschichte aufgearbeitet, was in Berlin bestimmt gut ankommen würde, aber in Bayreuth? Können das die Japaner verstehen, die Amerikaner oder Franzosen?

Müller: Der Herheim-„Parsifal“ war eine großartige Antwort auf den Ort. Ich wünsche mir, dass in Bayreuth auf ein internationales Publikum – mit einer Inszenierungssprache, die viele verstehen – geachtet oder zumindest seine Neugier geweckt wird.

Beer: Was jetzt in Bayreuth dominiert, ist Dramaturgen- und Dekonstruktionstheater, das gezielt gegen die Musik arbeitet. Gegen Widerstand hab’ ich ja nichts…

Müller: …das erzeugt Reibung…

Beer: …aber Ignoranz ist bodenlos, weil das Wichtige fehlt.

Müller: Und Musik zur dekorativen Unterhaltung degradiert wird.

Beer: Umso mehr ist es schade, dass der für Bayreuth

wichtige Herheim-„Parsifal“ nicht als DVD erschienen ist.

Müller: Da muss ich gleich an Jonathan Meese denken…

Beer: Eine israelische Journalistin hat mir geschrieben, wie empörend sie und mit ihr viele israelische Musikfreunde es finden, dass jemand wie Meese, der sich immer wieder mit dem Hitlergruß vermarktet, die Möglichkeit erhält, ausgerechnet in Bayreuth zu inszenieren.

Müller: Man kann natürlich sagen: Tolles Marketing!

Beer: Es wird Bayreuth schaden. Schließlich ist Oper an sich voll von „Stellvertretertum“ und Rollenbildern. Deshalb geht man überhaupt hin.

Müller: Figuren in Opern erleben extreme Situationen…

Beer: …denen wir selber nicht ausgesetzt sind. Aber wir dürfen sie nachempfinden.

Festspiel Kurier #14

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