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Geistige Granaten
Als der Erste Weltkrieg begann, hieß es auf dem Grünen Hügel zunächst: „Wir spielen weiter.“ Einer der wichtigsten Kriegs-Propagandisten war der Ideologe Houston Stewart Chamberlain – ein Wagnerianer, der bald von Bayreuth aus agierte. Über Chamberlain und den Beitrag des Hauses Wahnfried zum Ersten Weltkrieg.
Von Bernd Buchner
Vor genau einem Jahrhundert begann der Erste Weltkrieg. Für die Bayreuther Festspiele hatte der Kriegsausbruch verheerende Folgen. Zehn Jahre lang blieb das Festspielhaus geschlossen, von 1914 bis 1924. In die allgemeine Kriegsbegeisterung hatte das Haus Wahnfried keineswegs eingestimmt. Das Leitmotiv „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ übersetzten die Wagners als Auftrag zur Kulturmission, nicht zur militärischen Expansion. Doch als der Krieg begann, wurde der Bayreuther Vorzeige-Ideologe, Houston Stewart Chamberlain, zu einem der wichtigsten Propagandisten der deutschen Kriegführung. Als „geistige Granaten“ lobte selbst Kaiser Wilhelm II. Chamberlains Kriegsschriften, die viele Soldaten im Tornister mitführten.
Wer war dieser Chamberlain? Geboren in Südengland am 9. September 1855 als Sohn eines englischen Generals, verlor er seine Mutter bereits bei der Geburt. Er wuchs bei Verwandten in Frankreich auf, besuchte in England die Schule, betrieb seit 1879 naturwissenschaftliche Studien in Genf. 1885 bis 1889 lebte Chamberlain in Dresden, danach in Wien. Kurz vor der Jahrhundertwende erschien sein vielgelesenes Hauptwerk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, in dem der Privatgelehrte eine Synthese von Geschichte und Naturwissenschaft auf der Grundlage einer arischen Rassenideologie versuchte. Das zweibändige Buch wurde zu einer Urschrift der völkischen und nationalsozialistischen Bewegung.
1882, im Jahr der „Parsifal“-Uraufführung, kam Chamberlain erstmals nach Bayreuth. Später lernte er Wagners Witwe Cosima kennen, die beiden begannen einen intensiven Briefwechsel. Der Engländer schrieb eine Wagnerbiografie und wurde zu einem führenden Vertreter des Bayreuther Kreises, der für sich in Anspruch nahm, die ideologische Prägung der Festspiele im Sinne des Komponisten zu pflegen und weiterzuentwickeln. 1908 wurde Chamberlain dessen Schwiegersohn – er heiratete Wagners zweite Tochter Eva und siedelte nach Bayreuth über. Nach dem Weltkrieg erkrankte er schwer, war an den Rollstuhl gefesselt, litt wohl unter Syphilis. Hitler konnte er noch als künftigen Herrscher preisen, ehe er am 9. Januar 1927 seinem Leiden erlag.
In der historischen Forschung blieb Chamberlain lange ein Unbekannter – parallel übrigens zur Vernachlässigung der ideologischen Prägungen der Festspiele. Die einzige Chamberlain-Biografie, noch heute wegweisend und lesenswert, schrieb der US-Forscher Geoffrey G. Field in den 1970er Jahren. Sie wurde bis heute nicht ins Deutsche übersetzt. Inzwischen liegt immerhin Anja Lobenstein-Reichmanns bemerkenswerte Habilitation „Houston Stewart Chamberlain. Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung“ aus dem Jahr 2008 vor. Nun aber sind weitere Arbeiten in Vorbereitung, die spannende Diskussionen versprechen und fruchtbar für weitere Forschungen sein dürften.
Gegenwärtig sind zwei deutsche Forscher intensiv mit dem englischen Ideologen beschäftigt, Udo Bermbach und Sven Fritz. Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein. Spricht man mit ihnen, erhält man die Vorstellung einer bevorstehenden Forschungskontroverse, die spannend werden dürfte. Doch auch manche überraschende Gemeinsamkeiten sind herauszuhören. Bermbach, Jahrgang 1938, renommierter Wagnerforscher und langjähriger Politikprofessor an der Universität Hamburg, bereitet eine „Kombination von Biografie und Werk-analyse“ zu Chamberlain vor, die im kommenden Jahr im Metzler-Verlag erscheinen soll.
Ebenfalls 2015 dürfte die Doktorarbeit von Fritz veröffentlicht werden, in der er Chamberlain in die völkische Bewegung seiner Zeit einzuordnen versucht. Der junge Historiker, der am Projekt „Verstummte Stimmen“ von Hannes Heer beteiligt war, sieht den Bayreuther Ideologen als „Scharnierfigur“ zwischen Kaiserreich, Weltkrieg und dem frühen Nationalsozialismus. Chamberlain folge den politischen Bewegungen und sei „immer am Puls der Zeit“. Fritz stellt die Grundfrage, wie viel Einfluss Wagners Schwiegersohn auf die Politik hat. Ist er ein Ideologe, „der in der Bayreuther Einöde sitzt“, oder ein gewiefter völkischer Netzwerker, der versucht, seine Weltanschauung in konkrete Politik zu übersetzen?
Die Wagnerstadt war für Chamberlain ein denkbar geeignetes Wirkungsfeld. Cosima sprach ganz im Sinne ihres Mannes von der „Kunstanschauung, die zur Welt-Anschauung wird“. Sie brachte damit zum Ausdruck, dass es in Bayreuth nur deshalb auch Wagnerianer geben konnte, weil hinter dem künstlerischen Schaffen des Komponisten eine politische Überzeugung stand. Chamberlain verstand sich deswegen als „Bayreuthianer“, die ideologisch aufgeladene Variante des Wagnerianers. So wurde er zum „Herold eines wahnfriedschen Deutschlands“, wie Ludwig Marcuse spottete, und zum „Größten unter den Zwergen von Bayreuth“.
Durch die „Grundlagen“, die bis 1922 mehr als hunderttausend Mal verkauft wurden, galt Chamberlain als führender Repräsentant der völkischen Bewegung. Der Engländer, so Fritz, habe zugleich versucht, seinen Bucherfolg „politisch zu übersetzen“ und bestimmte Kreise zu beeinflussen, vor allem in der Rassefrage. Paradoxerweise geriet er aber mit dem Buch in einen Konflikt mit Wahnfried – man warf ihm vor, den Ideengeber Wagner verschwiegen zu haben. Nun hob man das Thema Rasse in den Schriften des Komponisten besonders hervor – damit verschärfte sich zugleich die Bayreuther Ideologie. Wagners Erbe wurde von einer eher passiven zu einer aggressiven Weltanschauung.
Eine der grundlegenden Forschungsfragen zu Wagner und Bayreuth ist, ob die Gedankenwelt des Komponisten nach seinem Tod in unzulässiger Weise verengt oder erweitert wurde – und welche Rolle Chamberlain dabei spielt. Schon Nietzsche hatte gegen jene Ideologen gewettert, „die Wagner mit sich selbst verwechseln“. Antimodernismus, Kulturpessimismus sowie Fremden- und Demokratiefeindlichkeit waren am Grünen Hügel schon zu Lebzeiten ihres Gründers virulent. „Wagner war ein durch und durch politischer Mensch“, sagt Bermbach und verweist auf seine Rolle in der Dresdner Revolution von 1849 oder als Ideengeber für den bayerischen König.
Für „völlig falsch“ hält Bermbach die These, erst Chamberlain habe Bayreuth politisiert. Fritz spricht in dieser Frage von einem „Prozess“. Die ursprüngliche Politisierung, etwa durch die Rassenfrage oder die Verknüpfung mit der Kunst, komme von Richard Wagner selbst – er sei die „Wurzel“. Doch die Kanalisierung, Überhöhung sowie die Konstruktion eines geschlossenen Weltbildes sei den Nachfolgern überlassen geblieben – Witwe Cosima, Hans von Wolzogen, langjähriger Schriftleiter der „Bayreuther Blätter“, sowie Chamberlain. Vor allem dieser habe die Bayreuther Ideologie in enger Verbindung mit Cosima Wagner weiterentwickelt.
Am 22. Juli 1914 wurden die Bayreuther Festspiele eröffnet. Doch sie standen angesichts der Entwicklungen von vornherein unter einem schlechten Stern. Viele Festspielgäste reisten bereits nach dem österreichischen Ultimatum an Serbien am 23. Juli 1914 wieder ab, „Parsifal“ musste bereits vor halbleeren Rängen gespielt werden. Siegfried Wagner gab zunächst die Parole „Wir spielen weiter“ aus, brach die Festspiele aber bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 1. August ab. Vom sprichwörtlichen August-erlebnis, das inzwischen als Mythos zur Stärkung des Durchhaltewillens der deutschen Bevölkerung entlarvt ist, war in Bayreuth nicht sonderlich viel zu spüren.
Am Grünen Hügel verkehrte es sich gar in sein glattes Gegenteil. „Die Bayreuther waren entsetzt über diesen Weltkrieg“, erläutert Bermbach. Man habe befürchtet, dass Deutschland nur verlieren könne. Wolzogen äußerte sich fast schon defätistisch über die Kriegsaussichten: „Sogar ein physisches Unterliegen ließe sich denken, wobei doch aber der moralische Sieg auf unserer Seite wäre.“ Chamberlain fürchtete um die Vorrangstellung des Reiches als europäische Wissenschafts- und Kulturmacht. Als „feindlicher Ausländer“ musste sich Wagners Schwiegersohn regelmäßig bei der Polizei melden, erst 1916 wurde er eingebürgert.
Mit den „Kriegsaufsätzen“ wies Chamberlain indes seine stramm deutschnationale Haltung eindrucksvoll nach. Die Aufsätze erschienen seit September 1914 und fanden weite Verbreitung. „Lauter 42-Zentimeter-Bomben“, so kündigte er seine Pamphlete martialisch an. Die Traktate sind im Ton allerdings eher zurückhaltend. Chamberlain formuliert keine Kriegsziele, sondern singt neben weitschweifigen kulturgeschichtlichen Abhandlungen das Loblied des vermeintlich friedlichen Deutschland, das von einer Welt von Feinden umgeben sei.
Die Kriegsschriften seien „sehr stark gegen England gerichtet“, so Bermbachs Befund. Chamberlain sieht Großbritannien als „treibende Macht“ auf dem Weg in den Weltkrieg an und beschimpft seine ursprüngliche Heimat als „Nation von Schafen“ und „Apotheose des Kleinhirns“. Bittere Klage führt er über die antideutsche Kriegspropaganda, hingegen lobte Chamberlain den fachmännischen Umgang der Soldaten mit Kunstwerken in den besetzten Gebieten. Angesichts der Begeisterung der Landser für die französische Gotik vergaß er indes das „Strafgericht von Löwen“ zu erwähnen, bei dem betrunkene Soldaten am 25. August 1914 nicht nur 200 Bewohner der belgischen Stadt umbrachten, sondern auch die berühmte Universitätsbibliothek in Brand steckten.
Im Verlauf des Weltkriegs habe Chamberlain nochmals eine „Form von Radikalisierung“ durchlaufen, so die Feststellung von Sven Fritz. So trat er gemeinsam mit einer Reihe von Wagner-Familienmitgliedern in den Alldeutschen Verband und in die Deutsche Vaterlandspartei ein. Im Haus Wahnfried erläuterte er den Frontverlauf an einer großen Karte. Zudem verknüpfte Chamberlain das Kriegsgeschehen zusehends mit dem Rassenkampf und dem Antisemitismus, der in den Kriegsschriften nur an wenigen Stellen vorkommt. Sein abgründiger Judenhass zeigte sich etwa, als er dem später als Reichsaußenminister von Rechtsradikalen ermordeten Walther Rathenau „Kriegswucher“ vorwarf.
Nach dem Krieg und dem Untergang der Hohenzollernmonarchie entstanden über Bayreuther Mittelsmänner rasch Kontakte zwischen Wahnfried und dem frühen Nationalsozialismus. Chamberlain rühmte Hitler, der ihn im Oktober 1923 besuchte, als „Mann der Vorsehung“ und sprach sich für einen antimarxistischen „Vernichtungskampf“ aus. Zwar gab es auch Differenzen zur NS-Bewegung – wie Wagner lehnte Chamberlain den Imperialismus als den Germanen wesensfremd ab. Doch die Nationalsozialisten vereinnahmten den Bayreuther Ideologen rasch für ihre Zwecke und warben etwa in Wahlkämpfen mit seinen markigen völkischen Sprüchen.
Udo Bermbach will Chamberlain allerdings nicht auf seinen Rassismus und Antisemitismus reduzieren, sondern seine gesamte Persönlichkeit in den Blick nehmen. Es gehe allerdings nicht darum, ihn zu rehabilitieren, „das muss und kann man nicht“. Als Wagners Schwiegersohn Hitler traf, saß er bereits im Rollstuhl, von einer schweren Krankheit gezeichnet. „Ich gäbe meinen linken Arm darum, als Deutscher geboren zu sein“, hatte Chamberlain lange zuvor gesagt. Ironie der Geschichte: Sein linker Arm wurde tatsächlich gelähmt. Nach langem Siechtum starb er am 9. Januar 1927 in Bayreuth. Bei der Trauerfeier sprach Adolf Hitler.
HOUSTON STEWART CHAMBERLAIN,
geboren 1855 in Portsmouth, England, ist der Verfasser der Schrift „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ (1899), das zu einem Standardwerk des rassischen und ideologischen Antisemitismus in Deutschland avancierte. Chamberlain war ein führender Vertreter des Bayreuther Kreises, der für sich in Anspruch nahm, die ideologische Prägung der Bayreuther Festspiele im Sinne des Komponisten weiterzuentwickeln, und heiratete 1908 Wagners Tochter Eva. Er starb 1927 in Bayreuth.
Der Autor:
Dr. Bernd Buchner ist Historiker und Journalist. Er war Kulturredakteur des „Nordbayerischen Kuriers“ und arbeitet heute als Redakteur für den Evangelischen Pressedienst (epd) in Frankfurt am Main. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er das Buch „Wagners Welttheater. Die Geschichte der Bayreuther Festspiele zwischen Kunst und Politik“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 256 Seiten, 39,90 Euro).
Foto: Bayerische Ostmark