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Kapitel 1

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Ewa Zając erhob sich schwerfällig aus ihrem Bett. Ihr Spiegelbild, das ihr im Bad entgegenschaute, strafte die Bedeutung ihres Vornamens Lügen, denn Ewa stand im Hebräischen für „chajjah – lebendig“, aber das blasse Antlitz mit den trüben Augen wirkte alles andere als das. Die strähnigen, wie verfilzt wirkenden, blassblonden Haare verstärkten diesen Eindruck noch. Doch Ewa war diesen Anblick gewöhnt, sodass sie ihn kaum noch wahrnahm.

Lustlos nahm sie eine Dusche, peinlich darauf achtend, dass die Haare nicht nass wurden, denn für die Prozedur der Kopfwäsche hatte sie wie meistens keine Zeit. Nach dem Zähneputzen zog sie irgendetwas aus ihrem Kleiderschrank an. Farbe und Passform waren ihr dabei egal. Ihre Kleidung war ohnehin überwiegend zweckmäßig, nicht besonders modisch und in gedeckten Farben gehalten. Sie wusste, dass man sie im Büro für eine graue Maus hielt, doch die Einschätzung ihrer Person seitens der Kollegen war ihr egal. Dass man sie in ihrem Umfeld und auf der Straße kaum wahrnahm, machte ihr schon lange nichts mehr aus.

Ihr Frühstück bestand aus einer Tasse schwarzem Kaffee. Ihr mangelnder Appetit ließ gar nicht erst den Gedanken aufkommen, etwas zu essen. Außerdem konnte es nur von Vorteil sein, wenn sie nüchtern blieb, falls der Arzt, bei dem sie gleich einen Termin hatte, ihr Blut abnehmen wollte. Routiniert überprüfte sie alle Wasserhähne und Schalter des Herdes, bevor sie nach zweimaligem Umkehren die Wohnung verließ.

Die Praxis von Dr. Bronislaw Wysocki lag nur zehn bis fünfzehn Minuten entfernt von ihrem Wohnhaus, sodass sie kein Verkehrsmittel benutzen musste, was ihr sehr entgegenkam, da sie den Anblick fremder Menschen am frühen Morgen nur schwer ertrug.

Im Wartezimmer vertiefte sie sich aus demselben Grund in eine der speckigen Illustrierten. Den Inhalt des Gelesenen beziehungsweise Überflogenen hätte sie später kaum wiedergeben können, weil er sie nicht wirklich interessierte.

Als sie später das Sprechzimmer des Arztes betrat, traf sie der prüfende Blick eines freundlichen Herrn mittleren Alters mit ergrauten Schläfen und wachen Augen hinter seiner randlosen Brille.

»Was führt Sie zu mir, Frau Zając?«, fragte er eher geschäftsmäßig.

»Ich möchte, dass Sie mich noch einmal untersuchen, Herr Doktor. Irgendetwas stimmt doch nicht mit mir.«

»Haben Sie Schmerzen oder andere Beschwerden?«

»Nein, ich fühle schon länger nichts mehr. Das gilt nicht nur für meinen Körper, sondern auch für meine Umgebung. Ein Verkehrsunfall weckt bei mir keine Emotionen, und als meine Tante starb, ließ mich das weitgehend kalt.«

»Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie die Wohnung Ihrer Tante übernommen.«

»Ja, eine große Altbauwohnung, aber eigentlich nutze ich nur ein Zimmer.«

»Sind Sie viel allein?«

»Eigentlich die meiste Zeit. Außer im Büro, doch da nimmt man mich kaum wahr.«

»Warum gehen Sie nicht auf Ihre Kollegen zu? Vielleicht warten die nur darauf.«

»Andere Menschen geben mir nichts. Die Dinge, die ihnen wichtig erscheinen, interessieren mich nicht.«

»Verstehe, demnach leben Sie wie unter einer Glasglocke. Falls es Ihnen nicht gelingt, aus eigener Kraft, den Deckel zu heben, könnten Sie professionelle Hilfe annehmen. Es gibt ausgezeichnete Therapeuten in der Stadt …«

»Ich bin doch nicht verrückt. Würde man mich in eine Nervenklinik einweisen, brächte ich mich auf der Stelle um.«

»Niemand weist Sie gegen Ihren Willen ein. Es sei denn, Sie benehmen sich derart auffällig, dass Sie zur Gefahr für die Allgemeinheit werden. Es war auch nur ein Vorschlag, besser eine Empfehlung. Körperlich sind Sie gesund. Ihre Blutwerte sind normal. Ihre Beschwerden könnten psychisch bedingt sein. Gehen Sie unter Menschen, amüsieren Sie sich. Sie sind doch eine hübsche junge Frau, wenn Sie auch wenig aus sich machen, wenn Sie mir die Bemerkung verzeihen.«

»Es kann nicht nur Modepuppen geben und Frauen, die wie mit einem Tuschkasten angemalt aussehen.«

»Natürlich nicht. Aber mir scheint, als ließen Sie sich etwas gehen. Essen Sie regelmäßig? Was haben Sie heute gefrühstückt?«

»Nichts, da ich annahm, Sie würden mir erneut Blut abnehmen.«

»Das wird nicht nötig sein. Wie gesagt, Ihre Werte sind in Ordnung. Körperliche Beschwerden haben Sie also keine?«

»Ich schmecke manchmal nichts. Und meine Arme fühlen sich mitunter an, als gehörten sie nicht mir.«

»Bitte ziehen Sie Ihre Bluse aus und setzen sich dort auf die Liege!«

Ewa tat, wie ihr geheißen, und ließ die Bewegung ihrer Arme klaglos geschehen.

»Ich kann keine Bewegungseinschränkung feststellen«, sagte der Doktor und drückte vorsichtig auf die Gelenke ihrer Hände. Ebenso auf bestimmte Punkte der Schulterpartie. Die Frage, ob ihr das wehtue, verneinte sie stets. »Die Gelenke sind nicht geschwollen, und der Rheumafaktor in Ihrem Blut war negativ. Demnach gibt es keine Anzeichen für eine rheumatoide Arthritis.«

»Ich habe ja auch keine Schmerzen, sondern eher ein Taubheitsgefühl. So taub, wie ich meiner Umwelt gegenüber bin. Mitunter empfinde ich mein Leben wie einen Film, an dem ich nicht beteiligt bin. Meine Nachbarn und Kollegen erscheinen mir fremd und wenig vertraut, fast unwirklich.«

»Haben Sie einmal daran gedacht, unterzuvermieten? Etwas Gesellschaft würde Ihnen guttun. Und wenn Sie ohnehin die Räume nicht nutzen …«

»Fremde Menschen in meiner Wohnung zu haben, ist für mich ein unerträglicher Gedanke.«

»Aber die bringen auch neue Eindrücke und Sichtweisen. Und Sie wären nicht allein … Denken Sie noch einmal über meinen Vorschlag nach. Ich gebe Ihnen eine Überweisung zu einem Neurologen mit. Ob Sie diese in Anspruch nehmen, bleibt Ihnen überlassen, aber ich rate dringend dazu. Und jetzt gehen Sie irgendwo frühstücken und etwas spazieren. Genießen Sie Ihren freien Tag. Oder gehen Sie shoppen und kaufen sich etwas Hübsches.«

»Es ist sinnlos, Sie verstehen mich nicht.«

»Ich bin auch nur ein praktischer Arzt, Frau Zając, und kein Nervenarzt oder Psychologe. Ein Kollege aus dieser Fachrichtung wird Ihnen besser helfen können.«

»Das glaube ich kaum, aber danke für Ihren Rat.«

»Gerne, und vergessen Sie nicht zu essen. Eine wohlschmeckende Mahlzeit wirkt manchmal Wunder. Gesättigt sieht man vieles in einem positiveren Licht.«

»Wenn Sie meinen …«


Ewa war ziemlich enttäuscht von ihrem Arzt. Und ganz gewiss würde sie sich nicht freiwillig in die Mühlen der Psychiatrie begeben. Das stand für sie fest. Den Rat bezüglich des Frühstücks und des Spaziergangs wollte sie hingegen annehmen, ohne die geringste Hoffnung auf eine Verbesserung ihres Zustands.

Die Arztpraxis befand sich an einer der großen Schnellstraßen von Warschau, der Ost-West-Trasse, die seit 1991 Aleja Solidarności hieß. Ganz in der Nähe befand sich das große Einkaufszentrum Galeria Wileńska mit über hundert Geschäften. An der Ecke zur Targowa war ein Starbucks, das Ewa mit seiner anonymen Atmosphäre sehr gelegen kam. Dort nahm sie ein kleines Frühstück ein und ging anschließend planlos in das Einkaufszentrum. Eher desinteressiert betrachtete sie hin und wieder die Auslage eines der vielen Geschäfte.

Plötzlich fiel ihr eine Frau auf, die sich hinter ihr in der Schaufensterscheibe spiegelte und sie erstarren ließ, denn sie glich ihr in fataler Weise. Man hätte sie gut und gerne als ihre Doppelgängerin bezeichnen können, obwohl die Fremde ganz anders zurechtgemacht war und auftrat. Ihr schönes Gesicht war dezent geschminkt, und ihre goldblonden Haare, die in unzählige Locken gedreht waren, wippten lustig auf und ab. Gekleidet war sie modern, fast ein wenig auffällig, da ihre weiblichen Reize gut zur Geltung kamen. Zu der sehr engen, löchrigen Jeans trug sie eine fast transparente Bluse und eine weite Jacke. Auf hohen Hacken schritt sie selbstbewusst daher und registrierte jeden der bewundernden Blicke, vor allem die der Männer.

Ewa war dermaßen fasziniert, dass sie der Fremden nachlief und jeden ihrer Schritte verfolgte. Sie bemerkte nicht einmal, dass sie sich immer weiter von ihrer Wohnung entfernte. Als ihr Spiegelbild in die Brzeska, eine der heruntergekommensten Straßen des Viertels, einbog, dachte Ewa zunächst, die Fremde würde sie nur als Durchgangsstraße benutzen, doch umso verwunderter bemerkte sie, wie ihr Ebenbild einen der Hinterhöfe der halbverfallenen Häuser betrat, um kurz darauf im Seitenflügel zu verschwinden. Fassungslos folgte ihr Ewa in den feuchten, schimmligen Flur, in dem es nach Urin stank. Sämtliche Briefkästen waren aufgebrochen, mit Graffiti beschmiert und voller Unrat.

Als oben eine Tür ging, lief Ewa wie in Trance die durchgetretenen und verunreinigten Stufen des Treppenhauses hinauf. Wie nicht anders erwartet, gab es keine Namen an den Wohnungstüren und auch kaum Klingeln. Die wenigen, die vorhanden waren, funktionierten sicher nicht. Ewa hätte nicht sagen können, hinter welcher Tür die Frau verschwunden war. Es hätte die zweite oder dritte Etage sein können.

Völlig irritiert ging Ewa zurück auf den Hof und schaute die bröcklige, geschwärzte Fassade hinauf. Ob die Wohnungen überhaupt noch bewohnt wurden? Die blinden Scheiben, hinter denen verblichene Gardinen hingen, gaben keinen Aufschluss darüber. Keines der Fenster war geöffnet, und man konnte keine Bewegung dahinter feststellen.

Angewidert wandte sich Ewa ab und ging zurück auf die Straße. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wie konnte eine so gepflegte Frau so hausen? Oder machte sie nur einen Besuch? Womöglich bei einem Elternteil, das in seinem Alter nicht mehr wie ein Baum verpflanzt werden wollte und bis zum bitteren Ende in der vertrauten Umgebung ausharrte? Aber wie konnte die schöne Tochter das zulassen? Oder waren es gar nicht die Eltern, sondern ein Geliebter? Gaben die morbide Atmosphäre und ein ungepflegter, brutaler Mann den besonderen Kick? Es sollte Frauen geben, die bei sexuellen Abenteuern die absonderlichsten Wege gingen, vor allem, wenn sie einen gewissen Hang zur Perversion verspürten.

Gleichzeitig beschäftigte Ewa die Frage, wie es möglich sein konnte, dass eine unbekannte Frau ihr derart ähnlich sehen konnte. Hatte sie eine Schwester oder Halbschwester, von der sie bisher nichts geahnt hatte? Ja, sie hatte eine Schwester gehabt, aber die war nach Aussagen ihrer Mutter schon als Kind verstorben. Ewa hatte keinerlei Erinnerung daran. Auf ihre Fragen war ihr stets nur ausweichend geantwortet worden. Sie musste unbedingt etwas über die geheimnisvolle Fremde herausfinden, nahm sich Ewa vor.


Von ihrer Begegnung noch immer etwas durcheinander kehrte Ewa Zając in ihre Wohnung in der Ulica Mala zurück. Die kleine Straße mit Kopfsteinpflaster wies kaum mehr als ein Dutzend Bürgerhäuser, gebaut um die Jahrhundertwende, auf. Die Fassaden waren grau und sämtlicher Stilelemente der Gründerzeit oder des Jugendstils beraubt. Die strahlend weißen, neuen Kunststofffenster bildeten einen starken Kontrast zu den heruntergekommenen Fassaden. Nur das Eckhaus mit der Nummer eins war vollständig restauriert und erstrahlte in gedämpftem Weiß. Dort hatte ihre Tante die größte Zeit ihres Lebens verbracht, und es diente auch ihrer Nichte als Zuhause.

Ewa wurde schon erwartet, als sie heimkehrte. Auf dem Sofa saß ihre Mutter Eliana Zając und starrte auf den eingeschalteten Fernseher.

»Das passt mir heute aber gar nicht, Mama«, sagte Ewa, statt einer Begrüßung.

»Passt es dir jemals, wenn ich dich besuche?«

»Sei bitte nicht ungerecht! Meistens freue ich mich, aber du kommst immer so überraschend. Und heute bin ich etwas durcheinander.«

»Was hat der Arzt gesagt? Bist du ernsthaft krank?«

»Angeblich nicht. Er meint, es wäre wohl mehr psychosomatisch.«

»Auch so eine Formulierung, hinter der sich die Ärzte heutzutage gerne verstecken.«

»Er hat mir geraten, einen Neurologen aufzusuchen. Er hält mich wohl für etwas plemplem oder nimmt mich nicht ernst.«

»Na ja, ein normales Kind warst du nie, das musst du zugeben.«

»Das ist kaum meine Schuld, bei dem, was ihr mir alles zugemutet habt.«

»Ach, kommen jetzt wieder die Vorwürfe? Ich habe keine Lust, mir das anzuhören. Du willst jetzt aber nicht öfter in die Brzeska gehen, oder?«

»Bist du mir etwa gefolgt? Ich möchte das nicht, Mama. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

»Ich bin immer in deiner Nähe. Ob dir das passt oder nicht. Du solltest diese Frau meiden. Sie ist nicht gut für dich.«

»Könnte es sein, dass ich eine Schwester habe? Hast du außer mir, noch ein anderes Kind geboren?«

»Das weißt du doch. Die kleine Anka ist mir viel zu früh genommen worden. Das geht auf das Konto deines unseligen Vaters. Aber er hat seine gerechte Strafe bekommen.«

»Was ist damals genau passiert, Mama? Es wird Zeit, dass du mich endlich darüber aufklärst. Es hieß, sie sei verunglückt. Stimmt das wirklich?«

»Natürlich, weil euer Vater wieder mal besoffen war und nicht aufgepasst hat.«

»Was denn, ich war dabei, als es passiert ist?«

»Wenn du nicht so geplärrt hättest, wäre niemandem aufgefallen, dass Anka nicht mehr atmete.«

»Warum habe ich keinerlei Erinnerung daran? So etwas vergisst man doch nicht.«

»Das hat schon so seinen Sinn. Der Herr hat den gnädigen Schleier des Vergessens darüber ausgebreitet. Weil du den Schmerz nicht ertragen hättest.«

»Und was ist mit Papa? Wie ist er gestorben? Doch nicht auch durch ein Unglück?

»Wie man’s nimmt. Er trieb sich in finsteren Gegenden herum, wurde ausgeraubt, halb totgeschlagen und einfach liegengelassen.«

»Hat er während eurer Ehe, bevor … er starb, eine andere Frau gehabt?«

»Eine? Dutzende. Er war ein richtiger Hurenbock. Ich wusste nie, ob er abends nach Hause kommt. Manchmal ist er sogar über Nacht weggeblieben, und morgens stank er dann nach billigem Parfüm.«

»Dann könnte es doch theoretisch sein …«

»Was? Dass er mit einer Anderen eine Tochter hatte, die dir wie aus dem Gesicht geschnitten ist?«

»Ja, warum nicht? Das wäre doch immerhin möglich.«

»Möglich ist alles, aber dass sie dir ähnlich sieht, halte ich für ausgeschlossen. Mädchen kommen oft nach ihrer Mutter. Dann hätte die Andere so ausgesehen haben müssen wie ich.«

»Vielleicht ist er seinem Typ treu geblieben? Das soll bei Männern häufig der Fall sein.«

»Du verrennst dich da in etwas. Vergiss die Fremde. Das wird besser für dich sein.«

»Du behauptest immer, zu wissen, was besser für mich ist. Doch das glaube ich dir schon lange nicht mehr.«

Doppelt

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