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Prolog

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Die Gondel tauchte plötzlich wie aus dem Nichts auf. Sie wirkte weiß wie Schnee, denn obwohl es sich, wie bei allen anderen, um eine schwarze handelte, sie aber weitgehend mit weißen Tüchern bedeckt war, das galt auch für die Felze, das Schutzdach beziehungsweise die Kabine, die vor neugierigen Blicken schützen sollte, empfand man sie in ihrer Gesamtheit als weiß. Hinzu kam, dass sie in eine Dunstwolke eingehüllt war, die den Effekt noch verstärkte.

»Wie machen die das, mit Trockeneis?«, fragte Philip Lorring, ein pausbäckiger Brite mit aschblonden, kurzen Haaren und einer der beiden jungen Männer, die ihre staunenden Frauen im Arm oder an der Hand hielten, denn es konnte sich um keinen natürlichen Nebel handeln. Der Gondoliere steuerte die Barke, die etwas größer als andere Gondeln war, sicher durch den schmalen Kanal des Lido di Venezia.

»Seht mal, was der an hat!«, meinte Charlene, seine Frau, deren feine, rötliche Haare ihr ständig ins Gesicht fielen, »zur Zeit ist doch gar kein Karneval in Venedig.«

»Vielleicht ist das eine besondere Touristenattraktion«, meinte ihre brünette, schlanke Freundin, Ellen Graves, »bei dem vielen Weiß könnte es sich um eine Hochzeitsgondel handeln.«

»Ich will ja eure Euphorie nicht dämpfen«, sagte ihr Mann, Jayden, der seine fast schwarzen Haare stets sehr kurz geschnitten trug und eine sportliche Figur hatte, »aber in ostasiatischen Kulturen und auch im alten Europa war Weiß die Farbe der Trauer und des Todes. Und mich erinnert die Kleidung des Gondoliere an die Renaissance. Die Strumpfhosen mit den gemusterten Shorts, die Schamkapsel, das rostrote Wams, die schulterlange Frisur und die Kappe mit der Feder, eben alles typisch für die Tracht im 16. Jahrhundert.«

»Und der ist jetzt durch die Wolke, die gleichzeitig eine Art Zeitkapsel ist, mal eben aus der Vergangenheit in unsere Zeit gefallen?«, spöttelte Ellen. Doch der Spott sollte ihr in den folgenden Stunden noch gründlich vergehen.

»Kommen Sie, Signore e Signori, Sie können machen mit mir eine romantische Fahrt in der Lagune von Venezia«, rief der Gondoliere.

»Wir wollten eigentlich den Bus zurück nach Venedig nehmen …«

»Oh, ich Sie bringen. Ist kaum teurer als ein Taxi oder Vaporetto.«

»Was meint ihr?«, fragte Philip.

»Ich bin dafür«, jubelte Charlene, »das wäre ein schöner Abschluss des Tages. Und hier muss man nicht Schlange stehen und sich an den anderen Gondeln vorbeiquetschen.«

»Also, dann los!«

Sie hatten kaum den Kanal verlassen und waren in die Lagune eingetaucht, als sie merkten, dass etwas nicht stimmte.

»Der rudert ja gar nicht an der Küste entlang, sondern in die falsche Richtung«, sagte Jayden.

»Also, Mr. Graves, willst du uns Angst machen und an deiner seltsamen Theorie festhalten?« Ellen sah ihren Mann böse an.

»Hallo, Signore, nach Venedig geht’s in die andere Richtung«, ließ sich Jayden nicht beirren.

»Das sein schon in Ordnung«, antwortete der Gondoliere, »ist eine kleine Überraschung. Kostet nix extra.«

Bald darauf legte die Gondel an einer Insel an, die auf alle keinen freundlichen Eindruck machte.

»Bitte aussteigen! Ich hier auf Sie warten. Presto!«

Widerstrebend stiegen sie aus und wunderten sich über den plötzlich schärfer gewordenen Ton. Die beiden Pärchen waren kaum ein paar Schritte gegangen, als sie feststellten, dass der Gondoliere keineswegs die Absicht hatte zu warten. Er stieß vielmehr vom Ufer ab und ruderte davon.

»Der ist wohl verrückt geworden«, sagte Jayden, »wartet! Ich schwimme ihm gleich hinterher.«

»Nein, das machst du nicht«, sagte Ellen, »das ist viel zu gefährlich. Nachher haut er dir noch das Remo auf den Kopf.«

»Dazu muss er das Ruder erst einmal aus der Verankerung befreien. Forcula heißt die bei Gondeln, glaube ich. Bis dahin habe ich ihn überwältigt.«

»Nein, du lässt mich nicht allein!«

»Sei nicht albern. Philip und Charlene sind bei dir.«

»Trotzdem …«

»Ich finde es auch keinen guten Plan«, meinte Philip, »bei diesen Kerlen weiß man nie … Und wenn es wirklich so eine Art Geist war, bekommst du es mit Kräften zu tun, denen du vielleicht nicht gewachsen bist.«

»Apropos Geist«, sagte Jayden, »habt ihr die gelben Schilder gesehen? Darauf heißt es pericolo, also Gefahr. Auf den anderen steht: vietato l’accesso!, also Betreten verboten! Das ist sicher alles andere als eine Liebesinsel.«

»Sondern?«, fragte Charlene.

»Ich denke, es ist Poveglia. Von der Entfernung her könnte es hinkommen.«

»Und worin besteht hier die Gefahr?«, wollte Philip wissen, »ist das militärisches Gebiet?«

»Nein, schlimmer, sie wird auch „Island of no return“ genannt. Im 19. Jahrhundert sollen hier Pestopfer gelebt haben. Im 20. Jahrhundert gab es hier angeblich Alters- und Siechenheime mit eigener psychiatrischer Abteilung.«

»Hör auf! Du machst den Frauen Angst«, sagte Philip.

»Das braucht er nicht«, meinte Ellen, »die habe ich, seit ich dieses verfluchte Eiland betrat. Ich will sofort weg hier!«

»Der Wille allein genügt nicht. Ich bin dafür, dass wir die Insel erkunden. Vielleicht gibt es doch so eine Art Wächter.« Jaydens Stimme war unaufgeregt und ganz sachlich.

»Ohne mich«, jammerte Charlene und zückte leicht theatralisch ihr Spitzentaschentuch, »lieber schreie ich mir die Seele aus dem Leib. Vielleicht hört mich ja ein Boot in der Nähe.«

Pesthauch über Venedig

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