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1. Kerno:
Das Reich des Quonimorus

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„Nächstenliebe“, besagt ein Sprichwort, „beginnt daheim.“ Das gilt wohl auch für die meisten Reisen; Reisende und selbst Weltumsegler müssen erst einmal ihre eigene Türschwelle überschreiten, um sich auf den Weg zu machen.

Der erste meiner vielen Besuche in der wunderschönen Grafschaft Cornwall – einem Teil dessen, was die Engländer ihr „Westland“ (West Country) nennen – war ein Familienurlaub in meiner Kindheit. Die englische Perspektive auf diese geografische Konstellation findet sich in einer Unzahl von Reiseführern, Urlaubsbroschüren und Reportagen wieder, deren alleiniger Zweck es ist, das angenehm vertraute Gesicht der Gegenwart für die Zukunft zu konservieren. Denn den Engländern, von der einstigen Macht ihres Empire verwöhnt, bringt man bei, die Welt so zu lieben, wie sie ist – damit nicht am Ende ihnen selbst das geschieht, was sie einst anderen angetan haben. Unterstützt durch die Denkmalschutzorganisation English Heritage buhlen Truro, Penzance, Newquay, St. Ives und andere Orte in Cornwall um die Massen von Ausflüglern, Surfern, Antiquitätenjägern, jugendlichen Sauftouristen und Strandhippies, die unentwegt herbeiströmen, um die wunderbare Küstenlandschaft zu genießen, dazu die Hotels belegen und so der lokalen Wirtschaft einen Schub versetzen – aber natürlich auf keinen Fall den Status quo erschüttern sollen.

Die Gründung von English Heritage („Englisches Erbe“) geht auf das britische Denkmalschutzgesetz (National Heritage Act) von 1983 zurück. Die Organisation ist in allen englischen Grafschaften aktiv, verwaltet und bewirtschaftet historische Stätten, hält (Bau-)Denkmäler instand und unterstützt Kulturveranstaltungen.1 (In den anderen Teilen des Vereinigten Königreichs – in Wales, Schottland und Nordirland – gibt es entsprechende Organisationen.) In Cornwall allerdings ist English Heritage in Schwierigkeiten geraten, weil aus dem National Heritage Act nicht klar hervorgeht, wessen „nationales Erbe“ auf der Grundlage dieses Gesetzes denn überhaupt geschützt werden darf. Im Jahr 1999 rissen Demonstranten an vielen Orten in Cornwall Schilder und Hinweistafeln von English Heritage von den Wänden – mit der Begründung, dass die historischen Stätten, an denen diese Schilder angebracht gewesen waren, zum kornischen Erbe gehörten, und nicht zum englischen. Die Protestkampagne trug den Decknamen Operation Chough („Operation Alpenkrähe“) und ihre Aktionen wurden, wie es hieß, im Auftrag einer Gruppierung namens Cornish Stannary Parliament ausgeführt. Ein solches „Zinnparlament von Cornwall“ hatte bis in das 18. Jahrhundert das Bergbaurecht in der Region geregelt, in der schon während Bronzezeit – vor rund 4000 Jahren – Zinn abgebaut wurde. Die Aktivitäten des selbst ernannten „Zinnparlaments“ aus unseren Tagen führten schließlich zu einem Prozess, der am 18. Januar 2002 vor dem Krongericht von Truro endete. Drei Männer – Hugh Rowe, Rodney Nute und Nigel Hicks – waren dort wegen „Verschwörung zur Sachbeschädigung“ angeklagt gewesen; die Polizei hatte sie dabei erwischt, wie sie auf dem Dach ihres Autos ein großes English-Heritage-Schild transportiert hatten, das eigentlich auf das Gelände von Pendennis Castle in Falmouth gehörte. Nun drohte ihnen eine Gefängnisstrafe. Das Gericht stufte die Motive der Angeklagten als „politisch“ ein und erklärte, man wolle ihnen nicht noch mehr „Publicity“ zuteilwerden lassen. Am Ende wurden die drei zu einer schweren Geldstrafe von insgesamt 4500 Pfund verurteilt und mussten sich im Sinne einer Bewährungsstrafe verpflichten, ihre Protestaktionen nicht weiter fortzusetzen. Ihrer Majestät Staatsanwaltschaft, die sich im Lauf des Verfahrens auf ein Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit berufen hatte, um Informationen zu geheim gehaltenen Eigentumstransaktionen zwischen English Heritage und dem Herzogtum Cornwall auch weiterhin unter Verschluss halten zu können, ließ die schwerwiegenderen Anklagepunkte gnädigerweise fallen. Zur Rechtfertigung ihrer Kampagne hatten die Angeklagten zuvor einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie ihrer Sicht der Dinge klar und deutlich Ausdruck verliehen. Darin heißt es: „Die Schilder wurden beschlagnahmt und als Beweisstücke für die andauernde kulturelle Aggression vonseiten Englands einbehalten. Eine derartige, im Grunde rassistisch motivierte Beschilderung ist zutiefst beleidigend und stellt für zahlreiche Einwohner Cornwalls eine schwere seelische Belastung dar.“2

Marcus Quonimorus war ein römisch-britischer König, der in der Sprache der Einheimischen Margh oder Marke genannt wurde. Er lebte im 5. und 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Sein Name ist auf einem uralten Grabstein überliefert, der sich heute an einer Straße in Menabilly nahe Fowey befindet. Daraus scheint hervorzugehen, dass er der Vater eines gewissen „Drustans“ war, an den dieser Grabstein erinnert – mit ziemlicher Sicherheit handelt es sich dabei um den Tristan aus dem mittelalterlichen Sagenkreis um Tristan und Isolde.3 Die Experten sind sich zwar nicht hundertprozentig sicher, aber vermutlich lautet die Inschrift auf dem Grabstein: DRUSTANS HIC IACET CUNOMORI FILIUS – „Hier liegt Tristan, Sohn des Quonimorus“. Wie der englische Altertumsforscher und Bibliothekar John Leland im 16. Jahrhundert behauptete, umfasste die Inschrift ursprünglich noch eine dritte Zeile: CUM DOM OUSILLA. Diese „Dom[ina] Ousilla“ könnte dann mit ziemlicher Sicherheit als jene Königin Isolde identifiziert werden, die in den Legenden stets an der Seite von König Marke genannt wird. In späteren Fassungen der Geschichte ist Tristan nicht Markes Sohn, sondern sein Onkel, aber dieses Detail schließt ja nicht aus, dass der eine nach dem anderen genannt wurde. Jeder einzelne Punkt dieser Interpretation ist angefochten worden. Dennoch liefert das Zusammentreffen von gleich drei zentralen Namen aus dem Sagenkreis ein ziemlich starkes Argument dafür, dass auf dem Grabstein von Menabilly eine geschichtliche Wirklichkeit festgehalten ist, aus der sich dann später eine immer wieder ausgeschmückte Legende entwickelte.4


Die geschichtliche Realität von Marcus Quonimorus ist zwar besser verbürgt als die seines angeblichen Zeitgenossen, „König Artus“, aber eben doch nicht vollkommen zweifelsfrei belegt – was historischen Pedanten Tür und Tor öffnet. Und doch: Wenn es einen solchen König gab, dann kann man mit gleichem Recht annehmen, dass es auch ein entsprechendes Königreich gegeben hat, selbst wenn dessen tatsächlicher Name und genaue Ausdehnung bislang unbekannt sind. In einer zeitgenössischen walisischen Quelle ist von einem König von Dumnonia namens „Cynmor“ die Rede – das bedeutet „Hund des Meeres“ oder „See-Hund“. „Cunimorus“ oder „Quonimorus“ sind ganz offensichtlich Abwandlungen dieses Namens. Der fränkische Chronist Gregor von Tours erwähnt einen bretonischen Herrscher aus derselben Zeit, der einen sehr ähnlichen Namen trägt: König Cunomorus, der um das Jahr 550 herum im Kampf gegen die Franken getötet wurde und in Gregors Chronik als Vasall des Frankenkönigs bezeichnet wird – „Cunomorus tyrannus, praefectus Francorum regis“. Das Wort tyrannus weckt natürlich gewisse Assoziationen, zumal immer wieder vermutet wird, dass der böse Herrscher Cunomorus das historische Vorbild für den legendär grausamen Herzog oder König „Blaubart“ abgegeben hat, um den sich schaurige Geschichten ranken.5 Wer das Château de Camors im bretonischen Department Morbihan besichtigt, erfährt dort, dass es sich um „Blaubarts Burg“ handeln soll, die auf einen lokalen Herrscher aus dem Frühmittelalter namens Konomor oder (auf Französisch) Comorre zurückgeführt wird.6 Cunomorus taucht auch in einer Episode aus dem Leben des Heiligen Machutus auf, das Gregor von Tours bald nach dessen Tod niedergeschrieben hat (der Heilige, den die Franzosen Saint Malo nennen, lebte dem Vernehmen nach von 520 bis 621):

Chanao [Conan], Graf der Bretonen, tötete drei seiner Brüder und wollte auch [den vierten Bruder] Macliavus [Malo] töten …, den er mit schweren Ketten gefesselt einkerkern ließ. Aber [Malo] wurde vom Tod befreit durch Felix, den Bischof von Nantes. Danach schwor [Conan], seinem Bruder die Treue zu halten, aber aus irgendeinem Grund … neigte er bald wieder dazu, seinen Eid zu brechen. Chanao begann, Macliavus wiederum anzugreifen [und zwang ihn in die Flucht] zu einem anderen Grafen in jener Gegend, der hieß Chonomor … [und] versteckte [Malo] in einer Kiste unter der Erde …, mit einem kleinen Luftloch nur, dass er atmen könne. Als seine Verfolger kamen, [sagte man ihnen:] „Hier liegt Macliavus, tot und begraben“ … und sein Bruder nahm das ganze Königreich. Denn seit dem Tode des Clovis haben die Bretonen stets unter der Oberherrschaft der Franken gestanden, weshalb man ihre Herrscher „Grafen“ nennt und nicht „Könige“. Macliavus aber stieg aus seinem unterirdischen Versteck und ging in die Stadt Vannes, wo er die Tonsur empfing und zum Bischof geweiht wurde.7

Im 8. Jahrhundert war es dann ein bretonischer Mönch mit dem großartigen Namen Wrmonoc, Verfasser einer Vita des 564 gestorbenen Heiligen Paulinus Aurelianus („Saint Pol de Léon“), der als Erster erklärte: „König Marke wurde auch Quonimorus genannt“.8

Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass ein bestimmter Name nur von einem einzigen König getragen wurde und von niemandem sonst; auch ist nicht sicher, dass es in allen diesen Quellen um ein und dasselbe Königreich geht. Der Marcus, der Lady Ousillas Gemahl und Tristans Vater oder Neffe war, könnte entweder ein König von Cornovia gewesen sein (die lateinische Fassung des keltischen Kerno für Cornwall) oder Herrscher über ein Reich namens Dumnonia (also Devon, das allerdings andere Grenzen hatte als die heutige Grafschaft gleichen Namens) oder aber er herrschte über ein vereinigtes Corno-Dumnonia oder vielleicht sogar über ein Reich noch größerer, bislang unklarer Ausdehnung. Der französische Historiker Léon Fleuriot hat die plausible Hypothese aufgestellt, dass Marcus Quonimorus über ein vereinigtes, bretonisch-brythonisches Königreich geherrscht haben könnte, das Kelten beiderseits des Meeres – in der heutigen Bretagne und im heutigen Britannien – unter einer Krone vereint hätte.9

Wir sollten festhalten, dass Marcus Quonimorus wohl kaum ein König in der heute geläufigen Bedeutung dieses Wortes gewesen sein dürfte. Seinem Grab fehlt jeglicher monarchische Pomp, und sein erhaben-königlicher Status ist durch spätere Legenden erst aufgebaut worden. Wie auch die irischen oder walisischen „Könige“ aus derselben Zeit, wie die Grafen und Herzöge der Bretagne und die frühesten angelsächsischen Monarchen war vermutlich auch Quonimorus nicht viel mehr als ein lokaler oder bestenfalls ein regionaler Stammesfürst; das missverständliche lateinische rex bezeichnete damals schlicht „einen, der herrscht“ oder den Ton angibt. Viel wichtiger ist jedoch – und zwar steht dies jenseits allen vernünftigen Zweifels fest –, dass es sich bei Marcus Quonimorus um einen wirklichen, historischen Menschen aus Fleisch und Blut gehandelt hat. Er und sein Königreich stehen keineswegs in einer Reihe mit den mythischen, legendären oder fiktionalen Reichen von Atlantis, Lyonesse, Camelot oder Avalon. Viel eher ähnelt „König See-Hund“ den Schutzpatronen von Irland und Wales, dem Heiligen Patrick und dem Heiligen David: Als keltische Herrscher und Heilige gehören sie alle zusammen in die historisch verbürgte Welt des nachrömischen Nordwesteuropa. Und insofern haben sie jedes Recht, in der Geschichte der Britischen Inseln eine ebenso gewichtige Rolle zu spielen wie ihre prominenteren angelsächsischen Zeitgenossen.

Der Grabstein von Menabilly ist übrigens alles andere als einmalig. Tatsächlich ist er nur ein besonders gut bekanntes Beispiel unter Dutzenden ähnlicher Relikte aus Cornwall, die nicht selten zwei Inschriften tragen: eine auf Latein und eine in der altirischen Ogham-Schrift. Der sogenannte Selus Stone beispielsweise, der sich heute in der Pfarrkirche von St. Just in Penwith im äußersten Westen Cornwalls befindet, hält den Tod eines mutmaßlichen kornischen Königs fest, der verschiedentlich als „Selevan“, „Levan“, „Salomon“ oder – auf Walisisch – als „Selyf“ bekannt ist. Die fragliche Inschrift lautet SELUS IC IAC–T („Hier liegt Selus“) und ist mit dem Christusmonogramm aus den griechischen Buchstaben Chi (X) und Rho (P) versehen. Auf dem Saint Kew Stone, der in der Kirche des gleichnamigen Dorfes zu finden ist, steht schlicht und ergreifend IUSTI, will sagen „[dies ist das Grab] des Justus“. Der Lewannick Stone I ist ähnlich sparsam beschriftet: IGENAFIMEMOR heißt es dort – „Zum Gedenken an Igenavus“. Aber besonders aussagekräftig ist der sogenannte Worthyvale Stone I, der sich in Slaughterbridge nahe Camelford befindet. Seine Bedeutung besteht teils darin, dass er so gut erhalten ist, teils darin, dass er oft als „König Artus’ Grabstein“ beworben wird, obwohl seine Inschrift LATINI [H]IC IACIT FILIÜS MAGARI („[Grab] des Latinus: hier liegt der Sohn des Magarus“) keine ersichtliche Verbindung zur Artussage herstellt.10

Die Fantastereien der arturischen Mythenindustrie legen einer Klärung des historischen Beweismaterials für die nachrömische Epoche Britanniens lästige Steine in den Weg. Vor allem in Cornwall, das schon Sir Thomas Malory zum Schauplatz seiner 1485 gedruckten Artus-Synthese Le Morte Darthur machte und wo in viktorianischer Zeit Alfred Tennyson sein zwölfteiliges Gedicht The Idylls of the King (1859–85) ansiedelte, gerät man als Historiker immer wieder mit derlei Mystifikationen aneinander. Durch die schiere Kraft des Enthusiasmus beseelt, stellen die vermeintlich authentischen Schauplätze Cornwalls bei der endlosen „Suche nach Artus“ alle anderen – keineswegs unwahrscheinlicheren – Lokalitäten in anderen Gegenden Großbritanniens, darunter Glastonbury, Clydeside oder sogar das schottisch-englische Grenzgebiet der Scottish Borders, in den Schatten.11

In Slaughterbridge im Norden Cornwalls gibt es inzwischen sogar einen Miniatur-Erlebnispark – The Arthurian Centre –, der exklusiven Zugang zu den Inschriften der Worthyvale Stones bietet:

Die Besucher können über die Felder spazieren, auf denen König Arthus und Mordred sich zu ihrem letzten Kampf gegenübertraten … Entwirren Sie ein für alle Mal Fakten und Fiktionen! Was verbindet König Artus mit Star Wars, dem Herrn der Ringe, Harry Potter und Shrek? … [Besuchen Sie] den Ort [jener Schlacht], bei der König Artus’ Tafelrunde im Jahr 537 endgültig zerschlagen wurde.12

Das Unternehmen – eine Art kornisches Pendant zu „Blaubarts Burg“ in der Bretagne – basiert auf unglaublich wackligen Grundannahmen – etwa, dass das heutige Camelford ohne Weiteres mit dem antiken „Camlann“ oder gar mit „Camelot“ gleichgesetzt werden kann, oder dass der Ortsname „Slaughterbridge“ (eine deutsche Entsprechung wäre vielleicht „Schlachtbrücken“ oder „Metzelbrück“) an den Schauplatz einer „arturischen“ Schlacht erinnere. Nun bedeutet leider das altenglische Wort, von dem der Ortsname tatsächlich abgeleitet ist – slohtre – keineswegs „Schlacht“, sondern eher „Sumpfland.“ Und obwohl archäologische Funde darauf hinzuweisen scheinen, dass es an dieser Stelle irgendwann einmal zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung gekommen ist, gehört die angebliche Verbindung zu König Artus doch wohl gänzlich ins Reich der Legende – oder, wie es heute etwas vornehmer heißt: der „erfundenen Tradition“.

Bei der Zusammenstellung einer möglichst lückenlosen Chronologie kornischer Könige tun sich also schier unlösbare Probleme auf. Meist unterteilt man diese Könige in zwei Gruppen: dort die rein legendären – wie etwa Corineus, der um 1100 vor unserer Zeitrechnung regiert haben soll –, hier diejenigen, für die es urkundliche Belege gibt. Diese letztere Gruppe ist klein, sie umfasst lediglich fünf Namen: Marke, Salomon (oder Selyf), Dungarth, Ricatus sowie „Huwal von den Westwalisern“, den die Angelsächsische Chronik in ihrem Eintrag für das Jahr 927 erwähnt. Einen König Artus hingegen findet man auf keiner dieser Listen: Er fehlt sowohl bei Gildas, dem einzigen auch nur annähernd zeitgenössischen Chronisten, als auch bei dem Heiligen Beda, der ihn in seiner Kirchengeschichte des englischen Volkes nicht erwähnt. Erst in der Historia Brittonum des Nennius, die am Ende des 8. Jahrhunderts entstand, taucht Artus plötzlich auf.13

Bezeichnenderweise zählte das Reich des Quonimorus zur Kategorie der maritimen „Seekönigreiche“, und nicht zu jenen landzentrierten Territorien, die mit dem Vorrücken der Angelsachsen entstanden.14 Wenn man einen beliebigen heutigen Atlas aufschlägt, der das unterschiedliche Terrain des Festlandes mit seinen Straßen, Flüssen und Siedlungsgebieten hervorhebt, dann scheint die wichtigste Eigenschaft von Cornwall seine Form zu sein: eine lang gezogene, aber feste Landbrücke, die von Devon aus auf eine äußerste Spitze führt. So gesehen liegt es nahe, Cornwall als einen bloßen „Wurmfortsatz Englands“ zu betrachten. Wenn man hingegen eine nautische Karte zur Hand nimmt, fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Das antike Kerno lag mitten im Zentrum der Keltischen See! Die keltischen Heiligen und Händler, Missionare und Magnaten – alle reisten sie über das Meer. In diesem Licht besehen, wird die wichtigste Eigenschaft Cornwalls eine andere: Am wichtigsten ist das dichte Netz von Seeschifffahrtsstraßen, die von der Halbinsel in alle Richtungen ausstrahlen und die Kerno mit Wales, Irland, der Bretagne und sogar dem fernen Galicien verbinden.

Auf diesen traditionellen Seewegen konnte eine beachtliche Menge von „Britonen“ aus dem nachrömischen Britannien von Kerno und Dumnonia in das gallische Armorika einwandern, wo sie zu „Bretonen“ wurden – die Kultur der Bretagne prägt dies bis heute. Diese Wanderungsbewegung war dem byzantinischen Geschichtsschreiber Prokopios von Caesarea bereits bekannt, der um das Jahr 560 herum starb. Prokopios saß gerade über der Niederschrift seines Bellum Gothicum („Geschichte der Gotenkriege“), als eine fränkische Delegation in Konstantinopel ankam und ihm von den Vorgängen im äußersten Nordwesten des europäischen Festlandes berichtete:

Die Insel Britannien bewohnen drei sehr zahlreiche Völkerschaften, von denen jede unter ihrem eigenen König steht. Diese Völker heißen Angeln, Friesen und, gleichnamig mit der Insel, Briten. Und so ungeheuer ist die Kopfzahl dieser Stämme, dass jedes Jahr große Mengen mit Weib und Kind von dort aufbrechen und zu den Franken hinüberziehen. Diese siedeln die Ankömmlinge in dem Teil ihres Gebiets an, der ihnen am wenigsten Einwohner zu haben scheint, und aus diesem Umstand leiten sie für sich gewisse Ansprüche [darauf] her.15

Prokopios verwendet in dieser Passage das Präsens, was darauf hinweist, dass die betreffende Migrationsbewegung noch immer im Gange war. Weder scheint ihm die Feindschaft zwischen Britonen und Angeln bewusst gewesen zu sein noch die Tatsache, dass ausschließlich Britonen auf das europäische Festland übersiedelten. Aber in groben Zügen ist das Bild doch klar: Während einer jeden Saison stachen in Britannien Schiffe voller Migranten in See, die sich in Armorika – also in der heutigen Bretagne – ansiedeln wollten und so die bisherigen Bewohner jener Gegend nach und nach verdrängten. Ein Landstrich in der südwestlichen Bretagne trägt heute den Namen Cornouaille (auf Bretonisch: Kerne). Ein anderer an der bretonischen Nordküste heißt Domnonée und war einst das Reich jenes Königs Konomor, den Gregor von Tours erwähnt. Verschiedentlich haben Historiker die Vermutung geäußert, dass jener „Konomor der Verfluchte“ aus der Domnonée und Marcus Quonimorus in Wahrheit ein und dieselbe Person gewesen sein könnten.16


Obwohl die Regierungszeit des Quonimorus nicht präzise datiert werden kann, ist doch klar, dass seine Herrschaft in eine frühe Phase jener langen Ära gehört, die auf den Zusammenbruch der römischen Ordnung folgte, der endgültigen Etablierung der angelsächsischen Vorherrschaft jedoch vorausging. Noch gab es kein England und kein Schottland; „Wales“ – wenn wir darunter das Land der keltischen Britonen verstehen – erstreckte sich noch immer über den größten Teil Großbritanniens. Die keltischen Bewohner von Kerno, die von den Angelsachsen als „Westwaliser“ bezeichnet wurden, waren den Britonen in anderen Gegenden der Insel eng verwandt; von der späteren Ausdifferenzierung dieser Gruppen war noch kaum etwas zu spüren. Sich selbst sahen sie wohl als „kornische Britonen“, und vermutlich waren sie stolz auf ihre Sprache, Kultur und Geschichte, die sie deutlich von den germanischen Neuankömmlingen unterschied. Aller Wahrscheinlichkeit nach herrschte Marcus Quonimorus in den Jahrzehnten unmittelbar vor der Schlacht von Deorham (dem heutigen Dyrham) in der Nähe von Aquae Sulis (dem heutigen Bath), die sich im Jahr 577 ereignete. Ihr Sieg in dieser Schlacht erlaubte es den Angelsachsen, weiter in Richtung Südwesten vorzustoßen und die „Westwaliser“ so von ihren Landsleuten nördlich des Severn abzuschneiden.

In dieselbe Zeit fällt auch die Christianisierung Großbritanniens, zuerst durch die keltische (iroschottische) Kirche, in den Jahren nach 597 dann durch die Mission des heiligen Augustinus von Canterbury, der in römischem Auftrag handelte. Bei den „Westwalisern“ waren diese Jahre zudem eine Blütezeit der keltischen Heiligen, die in ihren Coracles und curraghs – leichten Fell- oder Lederbooten – kreuz und quer über den Ozean fuhren, um die frohe Botschaft des Christentums in eine überwiegend heidnische Gesellschaft zu tragen. Nur wenige dieser Heiligen sollten in ihrer Heimat wirken und sterben, weshalb denn auch große Teile ihrer hagiografischen Heiligenviten und -legenden von Abenteuern auf hoher See handeln. Der heilige Piran beispielsweise, später der Schutzpatron der kornischen Zinnbergleute, war ein gebürtige Ire, der in seiner Heimat Ciaran oder Kieran geheißen hatte. Nachdem er von Irland nach Cornwall gesegelt war und dort das Kloster Lapiran gegründet hatte, lieh er seinen Namen auch noch der – inzwischen von einer Wanderdüne begrabenen – Kirche St. Piran in the Sands im nahen Perranzabuloe sowie dem Sankt-Pirans-Kreuz der kornischen Flagge (weißes Kreuz auf schwarzem Grund).17 Der heilige Pedroc (oder Pedrog), gestorben um 564, war der Sohn eines walisischen Fürsten. Er studierte in Irland und wirkte in der Bretagne, bevor er im kornischen Bodmin eine Klostergemeinschaft gründete.18 (Der Name „Bodmin“ geht auf das kornische Bos Menegh zurück, was „Haus der Mönche“ bedeutet.) Der heilige Samson von Dol, ebenfalls um 564 gestorben, war ein weiterer Waliser (aus Glamorgan); er gründete die Abtei von Dol in der Bretagne und exkommunizierte angeblich den König Konomor von der Domnonée. Der heilige Brendan, genannt „Brendan der Reisende“ (gestorben 575) soll eine der großen Entdeckungsfahrten der Menschheitsgeschichte unternommen haben, als er über sieben Jahre hinweg von Irland nach Island, Grönland und möglicherweise sogar bis nach Nordamerika segelte.19 Begleitet wurde er von einem Britonen, dem heiligen Aaron, der sich später auf der Insel Cézembre in der Bretagne zur Ruhe setzte, nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt, der sein walisischstämmiger Anhänger Machutus („Saint Malo“) später den Namen geben sollte.

Ein echter keltischer Heiliger ist ohne Wunder nicht vorstellbar. So trieb Sankt Petroc mit einem Mühlstein um den Hals über die Keltische See und der heilige Budoc segelte in einem Fass umher – aber übertroffen wurden sie alle von der heiligen Ia (auch „Hya“ oder „Ives“ genannt), einer irischen Prinzessin und Begründerin von St. Ives, die auf dem Blatt eines Baumes über das Meer schipperte. Die Liste der keltischen Heiligen ließe sich fast endlos fortsetzen: St. Austell, St. Blazey, St. Cai, St. Goran, St. Just, St. Kew, St. Laudus, St. Levan, St. Mabyn, St. Nest und St. Pol …20 Alle zusammen lebten sie in einer kulturell eng vernetzten, einer „pankeltischen“ Welt. Und den Mittelpunkt dieser Welt – keineswegs ihr „Ende“ – bildete Penn an Wlas, heute als „Land’s End“ bekannt, das aber aus keltischer Perspektive nicht irgendwo am westlichen Rand, sondern im Zentrum des Geschehens lag.

Allzu viele, die über die Frühgeschichte von Kerno schreiben, geben sich leider nur wenig Mühe, Mythen von historischen Fakten zu trennen. Keinem von uns wird dies jemals vollkommen gelingen – aber manche scheinen nur zu begierig, ohnehin kaum gesicherte Fakten mit verführerischen Fiktionen zu vermischen, bis die zwei fast nicht mehr zu unterscheiden sind:

Die Geschichte von Artus ist eigenartig verflochten mit der eines anderen kornischen Königs, der möglicherweise ein Zeitgenosse von ihm oder sein Nachfolger war. Marke, oder Marcus, war im 6. Jahrhundert oder früher König; Castle Dor, einst die Hochburg des Stammesführers Gorlois, war seine Festung. In der Artus-Sage wird Gorlois ermordet und Igraine, seine Frau, von Uther Pendragon verführt und so Artus’ Mutter. Später, als Artus Stammesführer ist oder König, wird seine Frau Guinevere ihrerseits von Lanzelot verführt, einem Ritter an Artus’ Hof und vom König wohlgelitten. Verführung und Verrat finden sich auch bei König Marke, der seinen Neffen Tristan aussendet, um ihm eine irische Braut zu holen, Prinzessin Isolde. Die Geschichte vom Liebestrank, der dem Paar von Isoldes Dienerin Bronwyn verabreicht wird, als das Schiff die Braut nach Cornwall bringt, ihre hoffnungslose Leidenschaft und König Markes Eifersucht sind weltberühmt, berühmter sogar noch als Artus’ Liebe zu Guinevere …21

Oder noch poetischer:

For he that always bare in bitter grudge

The slights of Arthur and his Table, Mark

The Cornish King, had heard a wandering voice,

A minstrel of Caerleon by strong storm

Blown into shelter at Tintagil, say

That out of naked knightlike purity

Sir Lancelot worshipt no unmarried girl

But the great Queen herself …

Denn ihm, der stets in bitt’rem Groll ertrug

den Spott des Artus und der Ritter Schar,

dem korn’schen König Marke, hatte einst

ein Spielmann aus Caerleon kundgetan

– den starker Sturm nach Tintagel verweht –,

dass Lanzelot, der edle Herr und Held,

aus ritterlicher Reinheit keiner Magd,

sondern der großen Kön’gin selbsten Minne trug …22

*

Ich bin kein Experte für das zauberhaft-verführerische Land Kerno. Aber ich stelle es hier an den Anfang, weil mir von den Fragen und Problemen, die die kornische Geschichte aufwirft, viele auf meiner Reise um den Globus wiederbegegnet sind. Die Frühgeschichte von Kerno/Cornwall liefert ein hervorragendes Beispiel für die anhaltenden Probleme, mit denen sich indigene Völker auf der ganzen Welt in ihrem Kampf gegen raffgierige Eroberer, Eindringlinge und Ausbeuter konfrontiert sehen. Manchen mag das weit hergeholt erscheinen; aber es verdeutlicht doch einen heimtückischen historischen Prozess, den man, wie inzwischen vielerorts anerkannt wird, durchaus als „kulturellen Genozid“ beschreiben könnte. Diese Bezeichnung geht letztlich auf den Juristen Raphael Lemkin zurück, der 1944 den Begriff „Genozid“ prägte; allerdings wurde die weitere, kulturell bestimmte Verwendung von „Genozid“ erst 1994 in die Erklärung der Vereinten Nationen zu den Rechten indigener Völker aufgenommen. Dennoch ist die Praxis, die sie beschreibt, wohl fast so alt wie die Menschheit selbst. In unserer Zeit war es der Dalai Lama, der immer wieder auf sie hingewiesen hat, was nach und nach zu einer wachsenden Besorgnis um das weitere Schicksal Tibets geführt hat. Was den Tibetern heute droht, ist dasselbe Schicksal, dem einst Dutzende von europäischen Völkern ins Auge blicken mussten, von den Bewohnern Kernos bis zu den alten Prußen.23 Deshalb wird es den Engländern nicht schaden, ihre eigene Rolle in der Geschichte einmal in Analogie zu jener der Han-Chinesen im Zentralasien der Gegenwart zu betrachten.

Nun klingt die Bezeichnung „kultureller Genozid“ ein wenig nach politischer Effekthascherei; vielleicht ist sie nicht gerade die beste Möglichkeit, das betreffende Phänomen zu beschreiben. Da „Genozid“ und sein Synonym „Ethnozid“ zu einer Gruppe von Wörtern gehören, mit denen wir Tötungsdelikte und damit besonders schlimme Verbrechen bezeichnen – vom Matrizid bis zum Infantizid –, zieht ihre Verwendung im Zusammenhang mit einer ganzen Kultur schnell den Vorwurf einer billigen politischen Pose auf sich. Und doch geht es hier um eine bittere historische Realität, die über Jahrhunderte nicht infrage gestellt wurde, gerade weil es sich dabei um eine zwar gewohnheitsmäßige Gewaltausübung handelte, die vor einem groß angelegten Morden, einer tatsächlichenen Ausrottung jedoch stets zurückschreckte. Tatsächlich hat man eine solche kulturelle Verdrängung lange Zeit als „ganz natürlich“ betrachtet, in demselben Darwin’schen Sinne, in dem man die Ausrottung bestimmter Tierarten für natürlich hielt. Besonders gefährlich ist zudem, dass die Auslöschung einer Kultur ganz allmählich vonstatten geht. Heute sollte man daher offen aussprechen, worum es sich dabei handelt: um eine Form von Zwang, durch die Schwächere von Stärkeren unterdrückt werden.

Derartige Denk- und Handlungsweisen waren in den Köpfen der Imperialisten aus dem 19. Jahrhundert fest verankert, aber auch in denen der totalitären Führer des 20. Jahrhunderts, ganz gleich, ob sie nun Faschisten oder Kommunisten waren. Typischerweise sind kulturelle Genozide immer von denen betrieben worden, die meinten, ihre persönliche Bereicherung sowie die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen sei mit einer „Verbreitung der Zivilisation“ identisch; sie florieren dort, wo mächtige und weniger mächtige Gemeinschaften aufeinanderprallen, sei es auf den Prärien Nordamerikas, im australischen Outback oder in den umkämpften Territorien Europas und Afrikas. Das Resultat ist stets dasselbe: Das Land und die Ressourcen der schwächeren Gruppe werden enteignet. Die stärkere Gruppe entsendet jede Menge Soldaten, Siedler, Verwaltungsbeamte, Kaufleute und Lehrer in das betreffende Gebiet. Dessen angestammte Bewohner verlieren die Kontrolle über ihren Besitz und ihre Kinder. Ihre Sprache verschwindet, zusammen mit dem historischen Erinnerungsschatz, den jede Sprache in sich trägt. Ihre Kultur zerfällt und ihre eigene Identität geht in den Fluten unter. Als letzte Demütigung verliert ihr Land seinen ursprünglichen Namen.24 Es ist kein Zufall, dass ehemalige Kolonien nach Erhalt ihrer Unabhängigkeit nicht selten darauf bestehen, wieder ihren vorherigen Namen zu tragen: So wurde Neuspanien wieder zu Mexiko; aus Irland wurde Eire; Indochina zerfiel in Laos, Kambodscha und Vietnam; Südrhodesien wurde zu Zimbabwe, Niederländisch-Indien zu Indonesien und Birma zu Myanmar.

Die Zeitspanne derartiger Prozesse kann sich über Jahrhunderte erstrecken. Die Angelsachsen erlangten in Kerno bereits im Lauf des 9. Jahrhunderts eine Vormachtstellung, aber die entscheidenden Schritte wurden erst von König Athelstan unternommen, dem Rex Totius Britanniae, der im Jahr 936 die Grenze zwischen Devon und Cornwall am Fluss Tamar festlegte und die britonischen Einwohner von Exeter aus der Stadt vertrieb. Es ist unwahrscheinlich, dass Athelstan durch seine Maßnahmen tatsächlich die Kultur seiner keltischen Untertanen verändern wollte; vielmehr ging es ihm um die wertvollen Zinnminen in der Region, die nun ein Jahrtausend lang florieren sollten. In der Folge verschwand jedoch allmählich der keltische Landesname Kerno und wurde durch den englischen Namen Cornwall ersetzt, der eigentlich abfällig gemeint ist: „Cornwall“ bedeutet so viel wie „Land der kornischen Fremdlinge“. Im Jahr 1337 wurde ein ansehnliches Stück aus diesem Territorium herausgelöst – immerhin rund 55.000 Hektar einschließlich eines Großteils der Scilly-Inseln – und dem neu gegründeten Herzogtum Cornwall zugeschlagen, dessen Erträge seitdem ein üppiges Finanzpolster für die Lebensführung der englischen Thronfolger speisen. Aber obwohl sie unterdrückt und ausgebeutet wurden, leisteten die Bewohner des Landes Kerno erbitterten Widerstand, selbst noch auf dem Weg in den sicheren Untergang. Besonders bemerkenswert unter den zahlreichen Rebellionen gegen die englische Besatzung ist der Kornische Aufstand von 1497, der erst mit der Niederlage der Aufständischen in der Schlacht von Deptford Bridge vor den Toren Londons endete. Auch als später die Tudormonarchen der Reformationszeit die englische Bibel und das Gebetbuch der anglikanischen Kirche in Cornwall einführen wollten, mussten sie dies gegen den Widerstand der Einheimischen durchsetzen. Ein vorerst letztes Rumoren des kornischen Widerstandsgeistes ließ sich 1688/89 vernehmen, nachdem der kornische Bischof von Bristol, Jonathan Trelawny inhaftiert worden war, weil er sich als einer von sieben anglikanischen Kirchenoberen der neuen Gottesdienstordnung König Jakobs II. widersetzt hatte. Seine Sturheit machte Trelawny zum Helden des bald auch vertonten Gedichts The Song of the Western Men („Lied von den Männern im Westen“), das der anglikanische Geistliche und Autor Robert Stephen Hawker im Jahr 1825 verfasste. Heute ist es so etwas wie die inoffizielle Nationalhymne Cornwalls:

A good sword and a trusty hand!

A merry heart and true!

King James’s men shall understand

What Cornish lads can do!

And have they fixed the where and when,

And shall Trelawny die?

Here’s twenty thousand Cornishmen

Will know the reason why.

And will Trelawny live?

Or will Trelawny die?

Here’s twenty thousand Cornishmen

Will know the reason why.

Ein gutes Schwert in treuer Hand!

Ein frohes, reines Herz!

Sagt eurem König von England:

Kornen drohn nicht im Scherz!

Steht denn schon fest der Ort, die Stund’?

Bringt ihr Trelawny um?

Und zwanzigtausend korn’sche Jungs,

die woll’n wissen, warum!

Lasst ihr Trelawny gehn?

Oder bringt ihr ihn um?

Wir zwanzigtausend korn’schen Jungs,

wir woll’n wissen, warum!25

In diesen Worten, die ja erst eine ganze Weile nach den Vorkommnissen der 1680er-Jahre zu Papier gebracht wurden, steckt eine ordentliche Portion dichterische Freiheit. Man erfährt zum Beispiel nicht, dass der Bischof schließlich freigesprochen wurde, ohne dass „zwanzigtausend korn’sche Jungs“ auch nur das Haus verlassen hätten, denn die angedrohte Revolte kam gar nicht erst zustande. Wenn überhaupt, spiegelt Hawkers Gedicht viel eher das Geschehen und die Emotionen im englisch-kornischen Krieg von 1549 wider, der sogenannten „Gebetsbuch-Revolte“, bei der ein kornisches Heer Plymouth eroberte und Exeter belagerte (und an der, nebenbei bemerkt, ein Großvater des Bischofs Trelawny nicht ganz unbeteiligt gewesen war).26 Wie dem auch sei: Hawkers oft gesungene Zeilen verkörpern den Widerstandsgeist in den Herzen von Cornwalls nicht-englischem Bevölkerungsanteil, dessen heimliche Hymne sie genau deshalb geworden sind. Und natürlich gibt es auch eine kornische Fassung:

Verow Trelawny bras

Verow Trelawny bras?

Mes igens mi a dus Kernow

A woffeth oll an kas.27

Auf den Verlust der politischen Autonomie folgte bald der Niedergang der kornischen Sprache, des Kerneweg, obwohl der entscheidende Augenblick durch eine seltsame Wendung des Schicksals noch lange hinausgezögert wurde. Nach der normannischen Invasion des Jahres 1066 verteilte Wilhelm der Eroberer große Stücke des kornischen Grundbesitzes an die zahlreichen Bretonen in seinem Gefolge. Dies führte dazu, dass – wie man übrigens auch an den Wappensprüchen der betreffenden Familien sehen kann – der Adel des mittelalterlichen Cornwall dieselbe (keltische) Sprache sprach wie das gemeine Volk; das Vordringen des Englischen wurde so lange Zeit zumindest eingedämmt. Das Kerneweg war die traditionelle Sprache der Zinnbergleute und des mittelalterlichen Zinnparlaments, das ab 1204 in Lostwithiel zusammentrat; seine Befugnisse wurden erst 1496 aufgehoben, und tatsächlich abgeschafft wurde es sogar erst 1753. Erst in elisabethanischer Zeit, also um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, setzte der wirkliche Niedergang des Kerneweg ein. Es begann mit der „Zwangs-Anglisierung“ von Gottesdiensten und kirchlich geführten Schulen, als die englische Krone für diese Bereiche die englische Sprache als verpflichtend vorschrieb; ein eigenes kornisches Alphabet, eine eigene Rechtschreibung, Grammatik und geregelter Unterricht waren damit faktisch unmöglich geworden. Nachdem man ihnen diese üblichen Mittel sprachlicher Traditionspflege genommen hatte, sahen sich die letzten kornischen Muttersprachler – vollkommen unnatürlicherweise – auf eine mündliche Überlieferung zurückgeworfen. Die Letzten von ihnen starben im späten 18. Jahrhundert.28 Das Schicksal des Kerneweg veranschaulicht auf eindrückliche Weise die These, dass „Sprachen niemals eines natürlichen Todes sterben, sondern höchstens umgebracht werden“. So wurde die Sprache von Kerno zur Vorläuferin jener dreitausend bedrohten Sprachen weltweit, die nach Ansicht von Experten im 21. Jahrhundert aussterben werden.29

Natürlich ist, bei Licht besehen, nicht ein einziges angeblich „eingeborenes Volk“ schon immer dort ansässig gewesen, wo es heute lebt. Wie moderne DNA-Untersuchungen zweifelsfrei belegen, ist die Menschheit in ihrer Geschichte kreuz und quer über den ganzen Erdball gezogen, zunächst in einer Reihe von prähistorischen Wanderungsbewegungen, durch die sie, ausgehend von einem gemeinsamen Ursprung (vermutlich in Ostafrika), auf alle Kontinente der Erde gelangt ist. Auch die Kelten Großbritanniens stellen keine Ausnahme dar. Obwohl manche von ihnen sich über die „angelsächsische Unterdrückung“ beschweren, müssen ihre Vorfahren doch irgendwann einmal selbst Eroberer gewesen sein, die eine frühere Bevölkerung der Britischen Inseln unterdrückten und schließlich verdrängten. Wir wissen bis heute nicht, zu welcher Ethnie die Erbauer von Stonehenge gehörten, aber eines ist sicher: Sie waren weder Kelten noch Engländer.30 Auch der Name, mit dem man diesen größten prähistorischen Steinkreis Großbritanniens ursprünglich einmal bezeichnet haben mag, ist spurlos und unwiederbringlich verloren. Letzten Endes stammen wir alle von Immigranten ab, und das Konzept eines „ewigen Vaterlandes“ lässt sich – wenn überhaupt – nur als Ausdruck einer imaginären Rekonstruktion der Vergangenheit verstehen.

Tatsächlich spielt die Sache sich doch so ab: Jede neue Welle von Migranten baut, sobald sie in ihrer neuen Heimat in eine dominante Position gelangt ist, eine tiefe emotionale Bindung zu der betreffenden Gegend auf, die sie nun als ihr „angestammtes Vaterland“, ihre patria, betrachtet. So werden vormalige Immigranten im Laufe der Zeit zu neuen „Eingeborenen“, die nun ihren eigenen Patriotismus entwickeln und alles Vorangegangene entweder ignorieren oder abwerten. Im Fall von Kerno/Cornwall konnten deshalb, nachdem die englische Vormachtstellung erst einmal gesichert war, in Cornwall geborene Engländer ihre Liebe zum Land ihrer Herkunft bekunden und den Beitrag Cornwalls zu einem „bunten“, von Diversität geprägten England feiern. Der Gründervater dieser Bewegung in neuerer Zeit war Sir Arthur Quiller-Couch (1863–1944), ein Shakespeare-Forscher, Cambridge-Professor, Verfasser von rund dreißig in Cornwall angesiedelten Romanen und Herausgeber der Gedichtsammlung Oxford Book of English Verse, der auch unter dem schlichten Pseudonym „Q“ bekannt war. 31 Sein eifrigster Nachfolger war der Historiker A. L. „Leslie“ Rowse (1903–1997), Fellow des All Souls College in Oxford und wohl eine der rechthaberischsten und zugleich selbstgefälligsten Figuren in der langen Geschichte der Gelehrsamkeit. „Dieses widerliche zwanzigste Jahrhundert“, stieß Rowse einmal hervor, „ich hasse es wie die Pest!“32 Rowse war so produktiv wie unsympathisch und veröffentlichte in seinem langen Leben mehr als einhundert Bücher – etliche davon, als ein würdiger, wenn auch sehr viel exzentrischerer Nachfolger seines Mentors „Q“, über Shakespeare, noch stärker jedoch beeinflusst von seiner anglozentrischen Sicht auf Cornwall. Unter seinen Büchern finden sich solche einschlägigen Titel wie Tudor Cornwall: Portrait of a Society (1941), The Spirit of English History (1943), A Cornish Childhood (1944), The Contribution of Cornwall and the Cornish to Britain (1969) sowie The Little Land of Cornwall (1986).33

Die Schriftstellerin Daphne du Maurier (1907–1989), die den größten Teil ihres Lebens in Cornwall verbrachte, hat die Palette der Cornwall-Literatur stark erweitert. Alle ihre Erfolgsromane – Jamaica Inn (1936), Rebecca (1938), Frenchman’s Creek (1941; dt. Die Bucht des Franzosen), Meine Cousine Rachel (1951) und The House on the Strand (1969; dt. Ein Tropfen Zeit) – spielen in Cornwall. Für die Autorin und ihre Leserschaft handelt es sich dabei um ein Land der Schmuggler, die Schiffbrüche provozieren und dann zu Plünderern werden; ein Land der Geheimnisse und der „düsteren Legenden“. Das von du Maurier geprägte Genre wurde von ihrem kaum weniger berühmten Altersgenossen Winston Graham (1908–2003) aufgegriffen und weiter ausgeschmückt. Grahams historische Poldark-Romane sind gleich zweimal zu erfolgreichen Fernsehserien verarbeitet worden.34 Sowohl du Mauriers Roman Rebecca als auch eine ihrer Kurzgeschichten, Die Vögel (1952), wurden von Alfred Hitchcock als Thriller verfilmt, genauso wie Grahams Roman Marnie (1961). Die besondere Spezialität von Daphne du Maurier war jedoch die literarische Darstellung von Eifersucht, und sie schrieb generell in einem sehr eigenen, überaus poetischen Stil. Der berühmte Eröffnungssatz von RebeccaLast night I dreamt I went to Manderley again („Gestern nacht träumte mir, ich sei wieder in Manderley“) – ist im Englischen ein perfekter sechshebiger Jambus, und der Schlusssatz des Romans ist kaum schlechter: And the ashes blew towards us with the salt wind from the sea („Und der salzige Seewind trieb uns die Asche entgegen“). „Menschen, die reisen“, heißt es in Die Bucht des Franzosen einmal, „sind immer auf der Flucht.“35

Du Mauriers letzter Roman Rule Britannia (1972; dt. Die standhafte Lady) schlug einen vollkommen neuen und – wie manche inzwischen wohl sagen würden – einen sehr hellsichtigen Kurs ein. Es handelt sich bei dem Buch um eine politische Satire, die einige Jahrzehnte in der Zukunft spielt; in der Ära des Brexit hat sie nun eine fast unheimliche Relevanz bekommen. In du Mauriers Zukunftsvision sind die Beziehungen Großbritanniens zur Staatengemeinschaft des europäischen Festlandes zerrüttet. Die britische Regierung ist in Auflösung begriffen. Bei einem Referendum stimmt eine Mehrheit der Bevölkerung für einen Austritt aus der Wirtschaftsgemeinschaft; es kommt zu Hyperinflation und sozialen Unruhen. Das Land ist gespalten, der Ausnahmezustand wird ausgerufen. Als letzter Ausweg aus der politischen Sackgasse marschieren – auf Einladung der britischen Regierung – amerikanische Truppen auf der Insel ein, um den neuen Staat „USUK“ zu proklamieren. (Das spricht man wie die amerikanische Beschimpfung You suck! und heißt also etwa „Ihr seid sch…ße!“) Die Queen und der amerikanische Präsident treten gemeinsam an die Spitze des neu geschaffenen Staates. Und wieder einmal sind es die Einwohner Cornwalls, die den Widerstand anführen …36

Die Alpenkrähe (Pyrrhocorax pyrrhocorax), der kornische Nationalvogel mit dem charakteristischen leuchtend roten Schnabel, gehört zur Familie der Rabenvögel. Ihre nächste Verwandte ist die Alpendohle (Pyrrhocorax graculus), die jedoch einen gelben Schnabel hat. (Auf Englisch heißen die beiden Arten denn auch Cornish oder red-billed chough beziehungsweise Alpine oder yellow-billed chough.) Das Verbreitungsgebiet der Alpenkrähe in Westeuropa erstreckt sich über felsige Küstenabschnitte von Irland bis in die Bretagne (wo ihr französischer Name crave à bec rouge lautet) und weiter bis nach Nordspanien. Weiter östlich findet man sie auch auf gebirgigem Terrain in Osteuropa und Zentralasien; sogar an den Hängen des Mount Everest ist sie gesichtet worden. Ihren englischen Namen Cornish chough hat die Alpenkrähe erhalten, weil sie im mittelalterlichen Wappen des Herzogtums Cornwall über dem Wappenschild thront oder – als sogenannter „Schildhalter“ – links und rechts daneben platziert ist. Auf Kornisch heißt sie palores, das bedeutet „Grabevogel“, vermutlich, weil sie gern „feldert“, wie die Vogelkundler sagen, also mit ihrem Schnabel im Erdreich nach Würmern und Insekten pickt.37

Heute jedoch ist die Alpenkrähe zunehmend bedroht; die britische Vogelschutzvereinigung Royal Society for the Protection of Birds (RSPB) führt sie auf ihrer „gelben Liste“ derjenigen Arten, deren Bestände, wiewohl noch nicht vom Aussterben bedroht, in den letzten Jahrzehnten merklich geschrumpft sind. Zwar nisten an verschiedenen Orten auf den Britischen Inseln noch mehrere Hundert Brutpaare, aber aus ihrer angestammten Heimat Cornwall ist die Alpenkrähe inzwischen – nach einem langen Populationsrückgang – vollkommen verschwunden. Das letzte Alpenkrähenpaar ist in den späten 1960er-Jahren an der kornischen Nordküste beobachtet worden. Als das Weibchen gestorben war, patrouillierte das einsame Männchen noch einige Zeit über die Felsen, bis es schließlich 1974 ebenfalls das Zeitliche segnete. Dieser traurige Vorgang inspirierte ein Wiederansiedlungsprogramm unter dem Titel Operation Chough („Operation Alpenkrähe“), in dessen Hauptquartier Paradise Park in Hayle an der Bucht von St. Ives zunächst Alpenkrähen in Gefangenschaft nachgezüchtet und schließlich wieder in die Freiheit entlassen werden sollen.38 Und dieses Vogelschutzprojekt lieh dann wiederum jener anderen, oben erwähnten „Operation Alpenkrähe“ den Namen, mit der kornische Aktivisten die „Überheblichkeit“ von English Heritage bekämpfen wollten.

Nichts veranschaulicht besser die Parallele, die man zwischen der weltweiten Bewegung zum Schutz indigener Kulturen und dem (allzu späten) Aufstieg von Ökologie und Umweltschutz ziehen kann. Solange die Ressourcen unseres Planeten schier unerschöpflich schienen, spielten solche Themen wie nachhaltiger Konsum oder Artenvielfalt im öffentlichen Bewusstsein kaum eine Rolle. Genauso wenig interessierte man sich für Fragen der „Menschenvielfalt“ oder für das Überleben vom Aussterben bedrohter Kulturen. Noch in den 1970er-Jahren riss man in Australien die Aborigines-Kinder der „Gestohlenen Generationen“ (Stolen Generations) aus ihren Familien, um sie zu ihrer „Kultivierung“ in staatliche oder private, jedenfalls „weiße“ Obhut zu geben.39 In kanadischen Internaten gab es ähnliche Programme, bei denen die Kinder der First Nations, der kanadischen Ureinwohner, zu Assimilierungskursen in Internatsschulen verpflichtet wurden, sogar bis 2007.40 Nicht ohne Grund ist Kanada eines der Länder, in denen man das Konzept des „kulturellen Genozids“ am besten zu verstehen scheint.

Die gute Nachricht ist freilich, dass Kultur, insofern sie immateriell ist, gute Chancen auf ein Weiterleben im Jenseits hat. Solange die menschlichen und materiellen Träger der betreffenden Kultur nicht völlig ausgelöscht werden, werden zumindest Überreste ihrer bisherigen Kultur in das kulturelle Feld der neuen Mehrheitsgesellschaft mit einfließen. Man sehe sich nur die Iren an: Nachdem sie ihre eigene Sprache weitgehend verloren hatten, brachten sie zahllose Meister der englischen Sprache hervor. Auch die Waliser pflegen zwar weiter ihr Cymraeg, haben aber zugleich eine parallele Tradition von walisischer Literatur in englischer Sprache. Das Walisertum eines Dylan Thomas, beispielsweise, strahlt triumphal zwischen den (englischen) Zeilen seiner Sprache hervor.

Obwohl das Kerneweg, die traditionelle Sprache Cornwalls, ausgestorben ist, gibt es immer wieder Bestrebungen, es wiederzubeleben.41 Ein solches Revival ist einerseits von Gelehrten wie Henry Jenner betrieben worden, dessen Handbook of the Cornish Language („Handbuch der kornischen Sprache“) schon 1904 veröffentlicht wurde; andererseits sind es patriotischkornische Enthusiasten, die sich bemühen, das Kerneweg im Alltag zu verwenden und auch ihren Kindern beizubringen.42 Im Jahr 1928 wurde zudem – wiederum auf Betreiben von Henry Jenner – der Gorsedh Kernow ins Leben gerufen, eine „Vereinigung der Barden von Cornwall“ nach dem Vorbild des walisischen Eistedfodd. Und selbst, wenn dabei eine ordentliche Portion „erfundene Tradition“ mit im Spiel ist – die kornischen Barden eilen von Erfolg zu Erfolg: „Die eine Generation hat das Kornische wieder auf die Beine gebracht“, hat Morton Nance erklärt, der nach Jenner zweite „Großbarde“ der neueren kornischen Geschichte, „und nun ist es an der nächsten [Generation], dass es auch wieder Laufen lernt.“43

Diese Ermahnung ist nicht ungehört verhallt. Die Sprachgesellschaft Cornish Language Partnership (deren kornischer Name, Maga, so viel wie „wachsen und gedeihen“ bedeutet) setzt sich mit Eifer für die weitere Verbreitung des Kerneweg ein.44 Das „Zinnparlament von Cornwall“ – vorgeblich eine direkte Nachfolgerin der legislativen Körperschaft gleichen Namens aus dem Mittelalter – hat in letzter Zeit mit den oben erwähnten Protestaktionen gegen English Heritage für Aufsehen gesorgt, ist als kulturelle Interessenvertretung und Lobbygruppe aber schon seit 1974 aktiv.45 Außerdem hat es starke Bestrebungen gegeben, Cornwall in den Kreis eines weiter gefassten Celtic Revival hineinzuführen, das die keltischen Kulturen Westeuropas als Teile eines gemeinsamen Ganzen auffasst. Unter den Büchern, die in der letzten Zeit zu diesem Thema veröffentlicht worden sind, finden sich solche Titel wie Celtic Cornwall („Das keltische Cornwall“), The Celts in Cornwall („Die Kelten in Cornwall“) und West Britons: Cornish Identities and the Early British State („Westbriten: Kornische Identitäten und der frühe britische Staat“).46 An dezidiert kornischen Perspektiven auf die kulturelle Identität Cornwalls mangelt es also nicht – im Gegenteil, sie vermehren sich rapide.47

Und so müssen sich die Verfechter eines Cornish Revival auch keine Sorgen mehr darüber machen, dass man sie als ein isoliertes Grüppchen von Exzentrikern betrachten könnte. Die Wiederbelebung ausgestorbener Sprachen ist ein weltweites Phänomen, das inzwischen sogar seine eigene Wissenschaft hervorgebracht hat, die „revivalistische Linguistik“ oder kurz „Revivalistik“ (revivalistics). Das Paradebeispiel hierfür ist immer noch das Neuhebräische oder Iwrit: Da wurde eine Sprache seit mehr als tausend Jahren nicht mehr gesprochen – zumindest nicht im säkularen Alltag –, und doch gelang es der zionistischen Bewegung, sie erfolgreich wiederzubeleben, sodass das Hebräische heute die Amtssprache des Staates Israel sein kann.48 Auch die hawaiianische Sprache ist inzwischen gerettet worden. Zwar war sie 1980 für tot erklärt worden, doch das stellte sich als vorschnell heraus, obwohl sie von den amerikanischen Schulbehörden fast hundert Jahre lang verboten und unterdrückt wurde. Tatsächlich war sie jedoch nicht tot, sondern hatte nur eine Art „Winterschlaf“ gehalten; die Linguistik spricht in solchen Fällen von dem „komatösen“ Zustand einer Sprache.49 Ein Pionier der Revivalistik, der Anthropologe und Sprachwissenschaftler Mark Turin (*1974) betreut sowohl das Digital Himalaya Project der Universität Cambridge als auch das First Nations and Endangered Language Program an der Universität von British Columbia im kanadischen Vancouver – das belegt eindrucksvoll die weltweite Bedeutung derartiger Sprachrettungsprogramme.50

Ein Resultat der Revivalistik ist die Erkenntnis, dass Einsprachigkeit ein ganz und gar künstlicher und heute nicht mehr zeitgemäßer Zwangszustand ist, die Wucherung eines irregeleiteten Kulturbürokratismus. Der Zustand der Mehrsprachigkeit – oder gar der Vielsprachigkeit – ist in der Menschheitsgeschichte der bei Weitem häufigere und natürlichere gewesen. Wo immer seit den 1960er-Jahren offizielle Zweisprachigkeitsregelungen in Kraft getreten sind – etwa in Wales, aber auch andernorts, in Kanada beispielsweise –, haben sie einen wirksamen Beitrag zur Beendigung teils uralter „Sprachkriege“ geleistet.

An vielen Fronten sieht man also Fortschritte. 2011 wurde der Cornish Pasty, der traditionellen kornischen Fleischpastete, der Status einer appellation contrôlée im Sinne der EU-Gütevereinbarung über geschützte geografische Angaben verliehen. Damit steht die herzhafte Köstlichkeit auf einer Stufe mit Champagner und Parmaschinken. Und im April 2014 wurde der selbstständige Charakter des kornischen Kulturerbes auch von der britischen Regierung offiziell anerkannt: „Die stolze Geschichte, einzigartige Kultur und eigene Sprache von Cornwall“, heißt es in der Verlautbarung, „werden nach Maßgabe des europäischen Regelwerks zum Schutz nationaler Minderheiten vollumfänglich anerkannt.“51 Diese Entscheidung war schon meilenweit von der Haltung jener Richter entfernt, die kaum fünfzehn Jahre zuvor kornische Aktivisten zu drastischen Geldstrafen verurteilt hatten. Begleitet wurde sie von einem nicht unbeträchtlichen staatlichen Zuschuss für die Sprachgesellschaft Maga.

Kaum weniger überraschend ist, dass im Alter selbst Leslie Rowse milde wurde. Er gab schließlich seinen Posten in Oxford auf und setzte sich in Trenarren an der Südküste Cornwalls zur Ruhe. Ja, er trat gnädigerweise sogar dem Gorsedh Kernow bei, über den er sich früher immer lustig gemacht hatte, und begann, sich die grammatischen Grundlagen des Kerneweg anzueignen:

This was the land of my content.

Blue sea and feathered sky,

Where, after years away, at last

I came home to die.

Dies war das Land, wo Ruh ich fand

nach Jahren in der Fremde,

wo Himmelblau und Wolkenband

mich heimführn an mein Ende.52

Und auch der kornische Nationalvogel, die Alpenkrähe, kehrte in seine Heimat zurück. Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist er aus der Bretagne über das Meer zurückgekehrt.53

Viele Wege führen also zum Erinnern und Gedenken. Es gibt nicht den einen Königsweg, um eine untergegangene Kultur letztlich doch noch dem Vergessen zu entreißen. Viele glauben, die Seele oder der spezifische Geist einer solchen verlorenen Kultur halte sich noch am ehesten in dem schwer definierbaren Genius Loci, der sie einst prägte – der Gegend und dem geistigen Klima jener Orte, an denen sie einst geblüht hat.

Daphne du Maurier zum Beispiel, die sowohl kornischer als auch bretonischer Abstammung war, äußert sich nur am Rande über die „keltische Seele“; von ihrer Existenz scheint sie jedoch überzeugt gewesen zu sein. Sobald es um Steine als stumme Zeugen der Geschichte geht, wird ihr Tonfall geradezu lyrisch:

Unter der Oberfläche des kornischen Charakters schwelt, stets zum Ausbruch bereit, ein hitziger Unabhängigkeitsdrang, ein störrischer Stolz.

Wie viel davon sich den Jahrhunderten der Abgeschiedenheit verdankt, als nach der Eroberung Britanniens durch die Römer der Handel aus dem Mittelmeer nicht mehr den Weg in die Flussmündungen des Südwestens fand, sondern aus dem römischen Frankreich direkt in die weiter östlich gelegenen Häfen des Ärmelkanals gelangte, und wie viel dem Erbe dieser dunkelhaarigen Invasoren mit ihren blauen Perlen und Goldringen, den Erben einer Zivilisation, die schon lange existierte, ehe Rom zum ersten Mal erwähnt wurde, ist etwas, das die Bewohner Cornwalls unter sich ausmachen müssen. Als Außenstehende mit bretonischen Vorfahren möchte ich gerne glauben, dass beide Völker, die beide an der Atlantikküste leben, an der identische Stürme toben und dieselben Nebelschwaden vorbeiziehen, mit den Iren weiter westlich gemeinsame Vorfahren haben.

Der Aberglaube liegt allen drei Völkern im Blut. Felsen und Steine, Hügel und Täler wurden von Männern geprägt, die vor langer Zeit ihre Toten in groben Grabkammern bestatteten und die Erdgöttin anbeteten. … Wie natürlicher Granit trotzten diese Steine den Jahrhunderten. Neben ihnen zu stehen, ob auf den Höhen von West Penwith [oder] zwischen Farnkraut bei Helman Tor … bedeutet tatsächlich, eine Zeitreise zu unternehmen. Die Gegenwart schwindet dahin, Jahrhunderte lösen sich auf, der spöttische Lauf der Geschichte mit all seinen Triumphen und Niederlagen verliert seine Bedeutung. Hier, in dem moosbewachsenen Stein, liegt die Essenz der Erinnerung.54

Der kornische Dichter Norman Davies, der in englischer Sprache schreibt, hat sich darauf spezialisiert, genau die flüchtigen Empfindungen, von denen du Maurier schreibt, auch in seinen Versen einzufangen. Ob nun auf dem Küstenpfad über die Klippen von Morvah oder in der „schmerzlichen Stille“ von Bodmin Moor, immer hört er das uralte Echo:

Pines darkened, dank

in bracts mystery,

stand rank on rank

like – History …

Pipit and lone Bunting

scurry in low scrub.

Buzzards go a-hunting.

Merlin – perching stab

holds a view of conquest

Birds of prey may share.

History holds no inquest –

neither here, nor there.

Morvah soon emerging,

sapphire blue St. Just

Whitesands ever surging

As the ocean must. –

These are but the gleanings,

Lyonesse ablaze.

Cornwall’s hidden meanings

Lost in Kernow’s haze.

Kiefern kalt und klamm,

Rätsel der Dickichte,

stehn wie tausend Mann,

gemahnen an – Geschichte …

Strandpieper und Grauammer

huschen scheu durchs Holz.

Bussarde jagen am Meer.

Der Merlin sitzt, blickt stolz

mit Aussicht auf Ertrag,

Raubvogelbeutefang.

Geschichte fragt nicht nach –

ist selbst ohne Belang.

Schon taucht Morvah auf,

St. Just im Saphirblau,

Whitesands wogt und brandet

wie der Ozean auch. –

Dies sind nur die Reste,

Lyonesse in Brand.

Cornwalls stille Rätsel

deckt Kernos Nebelwand.55

Ins Unbekannte

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