Читать книгу Wozu ein Himmel sonst? - Norman G. Dyhrenfurth - Страница 10
ОглавлениеDort, auf 8250 Meter über dem Meeresspiegel, steht das Sturmlager der Schweizer am 27. Mai 1952: ein winziges Zelt am Südostgrat, an der Grenze zwischen Nepal und Tibet. Raymond Lambert, Bergführer aus Genf, und Sherpa-Obmann Tensing Norgay aus Darjeeling sind die einzigen Insassen. Ihre Kameraden sind zum Südsattel abgestiegen, hier oben ist kein Platz für sie. Ohne Luftmatratzen, ohne Schlafsäcke, ja sogar ohne Kocher bedeutet Lager 7 nicht viel mehr als ein Notbiwak. Trotzdem hat Tensing vorgeschlagen, eine Seilschaft solle hier bleiben und am nächsten Tage zum Gipfel vorstoßen.
Die Sonne verschwindet hinter dem Everest; es wird bitterkalt, die Außentemperatur sinkt auf minus 30 Grad Celsius. Von Westen her ziehen dunkle Wolken auf, bald wird der gefürchtete Monsun seinen Einzug halten. Schlotternd vor Kälte sitzen die Gefährten auf dem bloßen Zeltboden. Es gibt fast nichts zu essen, ein bisschen Käse, ein Würstchen, das ist alles. Über einer Kerze wird etwas Schnee geschmolzen. Bei quälendem Durst verstreichen die Stunden nur langsam. An Schlaf ist nicht zu denken. Endlich beginnt es zu dämmern, die beiden einsamen Kämpfer machen sich fertig. Es ist der 28. Mai.
Der Aufstieg über den Südostgrat ist hier, in seinem mittleren Abschnitt, technisch leicht, aber für jeden Schritt braucht es drei Atemzüge. Beim Spuren lösen sich Lambert und Tensing häufig ab und bleiben immer wieder stehen, um sich auszuruhen. Das Wetter verschlechtert sich zusehends, sie kommen nur schrecklich langsam vorwärts. Die ungenügend erprobten Sauerstoffgeräte liefern viel zu wenig von dem lebensspendenden Gas. Die Beine werden schwer wie Blei. Wollen und Denken sind wie gelähmt. Nebelschwaden ziehen um die Grate, es beginnt zu schneien. Nun sind sie bei 8500 Metern, rund 260 Meter unter dem Südgipfel, 350 Meter unter dem höchsten Punkt der Erde. In der letzten Stunde haben sie nur noch 40 Höhenmeter gewonnen. Das hieße also noch neun Stunden bis zum Hauptgipfel, und es ist bereits 11:30 Uhr. Der Wind wird immer stärker, Schnee peitscht das Gesicht. Es ist den Männern klar, dass sie niemals mit dem Leben davonkommen werden, wenn ein wirklicher Sturm losbricht. Sie haben das Menschenmögliche geleistet, aber nun ist es höchste Zeit umzukehren. Das einsame Zelt auf 8250 Meter wird zurückgelassen, die beiden steigen zum Südsattel ab. Sie sind gänzlich „fertig“. Über eine kleine Gegensteigung in der Passmulde kommen sie nicht mehr hinweg. Ihre Kameraden Aubert und Flory müssen sie in die Zelte vom Südsattel-Lager hereinholen. Die beiden waren wirklich an der äußersten Grenze des Möglichen gewesen. Wären Lambert und Tensing noch ein kleines Stück weitergegangen – sie wären nicht mehr lebend heruntergekommen …