Читать книгу Wozu ein Himmel sonst? - Norman G. Dyhrenfurth - Страница 14
Der Weg zurück
ОглавлениеDichter Regenwald weicht offenen Grashängen. Der schmale Pfad verliert seine Steilheit. Gabriel Chevalley und ich wandern am Ende der Kolonne. An diesem Morgen, als die Sonne über einem Wolkenmeer aufstieg und die Berge von Solu Khumbu in markantem Relief erscheinen ließ, haben wir das Kloster von Taksindu hinter uns gelassen.
Es ist der 7. Dezember 1952, ein klarer, wunderschöner Tag im Himalaya, wie geschaffen zum Vor-sich-hin-Träumen. Unsere Füße bewegen sich in monotonem Rhythmus, wie die wohl geschulter Lasttiere. Sie haben dieses Jahr viel geleistet und große Distanzen hinter sich gebracht.
Eine verwitterte Mani-Mauer kommt in unser Blickfeld. Gabriel hält plötzlich an. Beinahe laufe ich in ihn hinein, denn meine Gedanken sind weit weg. Unter uns wogen sanfte Hügel bis zum Horizont. Immer höher und wilder werden sie bis zu den großen Gipfeln mit ihren schimmernden Gletschern und kühnen Graten: Jugal und Langtang Himal, Gaurisankar, Cho Oyu und viele andere. Und dahinter schließlich unser Berg, dunkel, abweisend und fern, in endgültiger, souveräner Geste nach dem Himmel greifend: Chomolongma, die Göttin-Mutter des Landes!
Still nehmen wir unsere Rucksäcke ab und rasten inmitten von Bergblumen. Die weichen, braunen Moospolster sind ein willkommenes Lager nach den windgepeitschten Flanken des Mount Everest. Es ist schön, am Leben zu sein. Wir starren zum fernen Horizont und durchleben noch einmal die vergangenen Wochen und Monate. Es war ein harter Kampf. Und nun liegt all das hinter uns.
Ich erinnere mich nicht, wie lange wir auf jenem Hügel unter der Mani-Mauer verweilten, den wärmenden Sonnenschein genossen und auf eine frühere Phase unseres Lebens zurückblickten. Da war der Everest: dunkel, fern und unwahrscheinlich hoch. Sogar aus dieser Entfernung konnte man deutliche Zeichen wilder Höhenstürme sehen. Die berühmte Schneefahne erstreckte sich kilometerweit gegen Osten. Und dennoch blickten wir auf „unseren“ Berg mit unendlicher Sehnsucht. Er war ein schrecklicher, übermächtiger Gegner, aber jetzt, da wir ihn verlassen mussten, konnten wir uns der Tränen kaum erwehren. Keiner sagte etwas – jeder war allein mit seinen Gedanken.
Im folgenden Jahr, 1953, waren die Briten an der Reihe. Ihre Erfolgsaussichten waren gut. Aber selbst wenn ihr Besteigungsversuch scheitern sollte, hatte die Regierung von Nepal das Jahr 1954 bereits für die Franzosen reserviert.
„Les avant-premières à l’Everest – c’est tout, on n’aura plus de chance.“
Gabriels leise, traurige Worte entsprachen meinen eigenen Gefühlen. Wir waren tatsächlich nur Vorläufer, und nun würde es jemand anderem vorbehalten sein, die Endrunde zu laufen. Es war wie ein Staffellauf, bei dem der Stab von einer Mannschaft an die andere weitergegeben wird. Und so soll es wohl auch sein.
„Eh bien, mon cher, on-y-va?“
Es war schon spät, als sich zwei müde Männer zum Weitergehen aufrappelten. Das Ende eines großen Abenteuers war nahe. Nur noch zehn Tage auf dem Weg nach Kathmandu, dann der lange Rückflug in die Heimat, in das „andere“ Leben. In diesem Augenblick schien es beinahe unerträglich, daran zu denken. Ein letzter Blick – dann war der Everest nicht mehr zu sehen. Wir waren auf dem Heimweg.
Aber ich wusste schon damals, dass ich wiederkommen würde.