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Kapitel 1 - Wie Yosy in den Stall verbracht wird
ОглавлениеAm Ende meiner Kindheit wurde ich, Yossef Pahlke, genannt Yosy, in den Stall verbracht. Es war Sommer und grün, die Säulenpappeln rauschten und man holte mich vom Spielplatz, für den ich zu alt geworden war. Zwei Männer trieben mich mit einer Rute zur Kirmeswiese am Rande unserer Wohnsiedlung. Da stand ein kleiner, rot lackierter Transporter mit offener Ladefläche. Der Fahrzeugtyp war mir unbekannt. Die Fahrerkabine gedrungen, die Kotflügel bauchig, vielleicht ein Oldtimer oder ein osteuropäisches Modell. Und hintendran ein mehrfach geflickter Pferdehänger aus Blech und Holz. Ich sah meine Eltern, die sich mit einem rauchenden Mann unterhielten, offenbar der Fahrer des Wagens. Sein dicker Schnurrbart, die glänzende Seitenscheitelfrisur und die abgewetzte rote Lederjacke wirkten auf mich genauso exotisch oder altmodisch wie sein Fahrzeug.
Der Motor lief bereits.
Ich musste meine Kleidung ablegen. Die zwei Männer, die mich geholt hatten, stießen mir dabei immer wieder den Stock zwischen die Schultern, nicht feste, aber doch unmissverständlich. Es blieb nur wenig Zeit für ein paar kurze Umarmungen; meine Mutter lächelte tapfer, jedoch unter Tränen, und mein Vater, kaum weniger gerührt, kniff mir in die Wange.
Im Hänger musste ich runter auf alle Viere, und man verbot mir, mich jemals wieder aufzurichten. Als ich es dennoch versuchte, legten sie einen Strick um meinen Hals und wickelten Gurte um meinen Bauch, die sie links und rechts an den Wänden vertäuten. Gurte und Strick waren grau, ebenso die Blechwände und sogar das Holzmehl, mit dem der Boden ausgestreut war. Alles war grau.
Mir war grau.
Yosy hätte sich, wenn er schon nicht stehen durfte, gerne hingelegt. Aber die Fesselung hinderte ihn daran. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf Knien und ausgestreckten Händen still zu hocken und seine Situation zu überdenken. Einer der Männer - auch der war grau - gab ihm einen Klaps auf den Rücken, dann wurde die Rampe hochgeschlagen und von außen verriegelt. Yosy war allein.
Ein kleines offenes Fenster vor ihm, zu hoch um durchzusehen, war die einzige Lichtquelle in der Kabine. Yosy starrte mit hängendem Kopf auf seine Hände, die ihre Farbe verloren hatten und ihm seltsam groß erschienen. Die Finger waren lang geworden, lang und knochig und die Zwischengelenke wie angeschwollen. Er hob die Linke vorsichtig an, betrachtete sie, krümmte sie. Wann hatte er das letzte Mal seine Finger angeschaut? Und wann das letzte Mal gekrümmt? Es tat weh, aber das Wehe war auch angenehm, wie die Entspannung nach einem Krampf.
Das Motorenbrummen wurde lauter, ein dumpfer Schlag, als der Gang eingelegt wurde, dann wackelte der ganze Hänger. Yosy verlor das Gleichgewicht, rutschte nach vorne und drückte unwillkürlich seine Klauen in die Späne. Die Gurte verhinderten, dass er zu Boden fiel, aber seine Gelenke knackten, und es klang, als würden sie wie Teile eines Steckpuzzles erst jetzt richtig einrasten. Als Yosy sich wieder gefangen hatte, hob er die flach gepresste Faust erneut vors Gesicht, drehte sie und betrachtete die Haare, die sich auf seinem Handrücken kräuselten. Das Öffnen der Finger war noch schwerer als das Schließen; erst durch Scharren und gleichzeitiges Drücken auf den Boden zog sich die Hand wieder in die Länge.
Das anfängliche Ruckeln, Neigen, Bremsen und Beschleunigen ging bald in ein gleichmäßiges Brummen über. Fahrtwind strich von oben über Yosys Kopf und verfing sich in seinen verfilzten Locken. Ach Mutter, dachte er, ich bin seit Monaten nicht beim Friseur gewesen.
Nach einer Weile schmerzten seine Knie, auf denen sein ganzes Gewicht lag. Yosy sah prüfend an sich hinunter, wollte feststellen, wie viel Spiel seine Beine noch hatten. Stämmig, muskulös, sehnig und drall waren die Oberschenkel geworden, verschwitzt glänzten sie unter drahtigen Haaren wie reife Keulen. Wie graue Keulen. War es das schwache Licht oder war etwas mit seinen Augen? Sein Körper war so grau wie alles.
Yosy verlagerte sein Gewicht nach vorne, stützte sich auf die flachen Riesenhände und zog das rechte Knie an, bis er dahinter seine Zehen erkennen konnte. Die schleppten sich krümmend und spreizend durch die Späne als wären es eingespannte Riesenmaden, die den restlichen Fuß wie einen urzeitlichen Karren hinter sich herzogen. Schließlich hockte Yosy erst rechts und dann auch links auf seinen Ballen, die Fersen hinten hochgezogen.
Er fragte sich, seit wann er so gewaltige Füße hatte. Sprungfüße, mit einem lang gebogenen Spann und haarig. So haarig, wie überhaupt sein ganzer Körper viel behaarter war, als er in Erinnerung hatte. Dabei waren Yosy schon seit einiger Zeit Veränderungen an sich aufgefallen. Und er hatte gewusst, dass die Kindheit zu Ende gehen würde, seine Eltern hatten ihn immer wieder darauf hingewiesen. Aber dass dieses Ende so abrupt sein würde, damit hätte er nie gerechnet. Und dass man ihn dann holen würde, davon war nie die Rede gewesen. Und wenn doch, dann nur zum Spaß, oder als erzieherische Drohung, »du kommst ins Heim!«, oder etwas in der Art, wenn er abends zu lange ausgeblieben war.
Bis heute hatte er immer gedacht, ein durchschnittlicher Junge in einer durchschnittlichen Familie zu sein, die in einer durchschnittlichen Kleinstadt lebte. Einer Stadt im Ruhrgebiet, mit Fußgängerzone, Schlackeberg und Zeche, in der sein Vater arbeitete. Sie bewohnten ein dunkelrotes Reihenhäuschen in einer dunkelroten Reihenhäuschensiedlung neben einem hohen Deich; und dahinter ein müder, schmutziger Bach oder Fluss, den man 'Emscher' nannte, und der immerzu wie altes Obst roch. Yosys Schule war ein riesiger, aber nicht ungewöhnlicher Waschbetonkomplex, nicht anders als andere Schulen, mit farbigen Fensterrahmen und einer Mensa, in der es Hühnerfrikassee und Dampfnudeln gab.
Nie war einer seiner Klassenkameraden abgeholt worden.
Doch als er genauer darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass SEINE Kindheit durchaus anders verlaufen war. Anders als die der Anderen. DIE hatte er nämlich gemieden, selbst auf dem Spielplatz, wo er immer in sicherer Entfernung geblieben war. Er war immer randständig gewesen, ohne sogenannte »Freundschaften« oder das, was sein Politiklehrer »soziale Kontakte« nannte. Aber wie die anderen war er jeden Morgen im Unterricht erschienen, und jeden Abend am Esstisch; er hatte in seinem Jugendbett geschlafen oder die Eltern nachts vor dem Fernseher beobachtet.
Es wurde heiß. Durch die Fensterluke kam eine drückende, feuchte Luft, die ihn müde und benommen machte. Als der Wagen anhielt, fiel er nach vorne und hätte sich fast mit dem Hals im Strick verfangen. Die Heckklappe wurde entriegelt und Yosy, der Mühe hatte, nach hinten zu schauen, roch plötzlich rohes Fleisch. Ein nasser Klumpen streifte seinen Schenkel und plumpste in den Staub. Dann zwickte etwas seinen Hintern und zwang ihn, den Kopf zu drehen - gerade so, dass er mit dem linken Auge die Silhouette eines der Männer erkennen konnte. Der eklige, zugleich aber auch seltsam aufregende Geruch drang tief in Yosys Nase. Er spürte den Hunger, den flauen Magen und die allgemeine Schwäche in den Knochen. Den ganzen Tag hatte er noch nichts gegessen, nur zum Frühstück bei den Eltern ein paar Haferflocken in Milch. Der Mann schob den feuchten Klumpen mit dem Bambusstab weiter in seine Richtung und schnalzte mit der Zunge, so, als müsste er Yosy noch ermuntern. Dabei war das nicht nötig, Yosy hätte sich gerne das Stück geschnappt, er war ganz gierig danach. Aber der Strick und die Enge und seine ganze Haltung hinderten ihn daran. Das ließ ihn resignieren, er wollte am liebsten aufgeben, aber der Duft machte seinen trockenen Mund ganz schaumig. Seine schrecklich lange Nase, deren stumpfes Ende er mit beiden Augen sehen konnte, hatte die Nüstern aufgeblasen und schnaubte so sehr, dass Staub aufwirbelte. Diese ihm noch völlig fremde Veränderung betraf im Übrigen nicht nur die Nase. Auch seine Lippen schienen ein ganzes Stück vorgeschoben zu sein. Tatsächlich war sein Gesicht so lang geworden, dass er damit, wenn er den Kopf nur weit genug nach hinten streckte, das Fleisch berühren konnte. Yosy streckte sich also, bis ihm der Strick in den Hals schnitt, und presste seinen Mund in die kühle, weiche Masse. Er drückte sie nieder und zog dann den Kopf sachte zurück, schleifte so das staubige Stück wie einen nassen Lappen durch die Späne. Er musste mehrmals nachhaken, bis er seine vordersten Zähne - winzige, nadelspitze Zähnchen - hineinbohren und den ganzen Klumpen mit einem Ruck heranziehen konnte. Das genügte dem Mann. Er schlug die Klappe wieder hoch und gleich darauf hörte Yosy das schon vertraute Motorbrummen. Diesmal vermochte er sich wesentlich sicherer gegen das Wackeln beim Anfahren zu stemmen.
Das Fleisch, es handelte sich um ein Rippenstück, war längst nicht so frisch, wie er es sich erhofft hatte. Aus der Nähe roch es nach einsetzender Verwesung, und am Fettrand hingen kleine, weiße Maden. Die Enttäuschung wurde größer, als Yosy feststellen musste, dass seine Schnauze kaum in der Lage war, mundgerechte Portionen abzubeißen. Diese wulstigen Lippen waren immer im Weg, und was waren das nur für Zähne?
Die mürbe Konsistenz seiner Mahlzeit machte es immerhin möglich, durch Festbeißen und Hin-und-Her-Schleudern kleine Fetzen herauszureißen. Der erste Bissen war dennoch zu groß, Yosy würgte und kam nicht dazu, auf den Geschmack zu achten. Erst als die ungekaute Masse die Speiseröhre hinunterglitt, empfand er so etwa wie Wohlbehagen. Damit der Rest nicht durch das Geschleuder verloren ging, klemmte ihn Yosy zwischen seine Vorderpfoten. Als er das zweite Mal zubiss, fühlte er die auf dem Fleisch klebenden, trockenen Späne in seinem Speichelschaum. Und er schmeckte das Faulige heraus, was aber nicht so schlimm war, wie befürchtet. Im Gegenteil, gerade DAS war ein - allerdings schauerlicher - Genuss. Sollte er zum Aasfresser geworden sein? Nicht aus Widerwillen, sondern vielmehr wegen dieser ungeheuerlichen Vorstellung beendete er die Mahlzeit nach wenigen Bissen. Den Rest schleuderte er mit einer scharrenden Bewegung der Pfoten nach hinten.
Yosy döste ein, wurde aber jedes Mal wieder wach, wenn sich sein langsam wund scheuernder Hals im Strick verfing. Der pelzige Nachgeschmack machte ihn durstig, und der zunehmende Verwesungsgeruch des Knochens quälte ihn. Ihm wurde schlecht. Er streckte seine Schnauze so gut es ging nach oben; hin zu der Fensterluke, durch die ein heißer, aber wenigstens nicht übel riechender Wind hereinblies. Es gelang ihm, trotz Gurten und Strick, sich so zu dehnen, dass die Spitze seiner Nase die untere Kante der Öffnung berührte. Mit weiteren Anstrengungen schoben sich die Nasenlöcher darüber hinaus, sodass er dem Gestank schließlich entkam. Diese Haltung war schmerzhaft. Seine Hände konnten sich nur auf die Fingerkuppen stützen, sein Rückgrat verspannte und das Fensterblech drückte sich in die Haut zwischen Oberlippe und Nasenansatz. Yosy streckte sich noch mehr, strapazierte Finger und Nacken, bis sich sein Mund ebenfalls aus dem Fenster schob. Dabei zogen sich aber seine Lippen zurück, und der ganze heiße Fahrtwind fegte ihm in den offenen Rachen, kaum gebremst von seinen schmalen Mäusezähnen. Dennoch hielt er es eine Weile aus. In dieser Position konnte er sogar einen winzigen Ausschnitt des grauen Himmels erkennen, und Wolkenfetzen, die über ihn hinweghuschten.
Als es dämmerte, hatte sich die Fensterkante fast bis auf den Unterkieferknochen durchgescheuert, und sein Durst wurde unerträglich. Er zog das Maul über die scharfe Kante zurück in den Hänger. Sein Nacken knackte, als der Kopf abrupt nach unten fiel. Plump landete der seltsame Apparat, der aus seinem Kindergesicht herausgewachsen war, im Staub. Hitze und Durst verursachten nun eine Übelkeit, die Yosy die Sinne raubte. Könnte er sich doch wenigstens hinlegen, dachte er. In dieser Position aber musste er befürchten, das Bewusstsein zu verlieren und sich in dem Strick zu erdrosseln.
Er konzentrierte sich auf die feinen Holzspäne, in denen seine Schnauze lag. Die brannten in der Wunde unterm Kinn und mit jedem keuchenden Atemzug zog er sie tiefer in seine Nasenhöhle hinein. Das damit verbundene Kribbeln beruhigte ihn. Sein Speichel schlug vor den wulstigen, sich immer wieder öffnenden Lippen Blasen, und wenn er mit der Zunge darüber fuhr, schmeckte er die aufgeweichten Späne. Er kaute darauf herum, spuckte sie wieder aus und leckte sie erneut auf. Zugleich machte er mit dem schweren, in die Länge gezogenen Kopf gleichmäßige Kreiselbewegungen, schraubte sich gewissermaßen durch bis zum festen Boden aus ungehobelten Holzplanken. Die rochen moderig - und ein wenig scharf, als hätten sie die Gerüche seiner Vorgänger gespeichert. Yosy drückte die Lippen darauf, bleckte die spitzen Zähne und fing an zu knabbern. Es war leicht, feine Splinte aus dem Holz herauszuschälen, und als er sie mit der Zunge abtastete, spürte er ältere Riefen, von denen er annahm, dass schon andere vor ihm sich mit dem gleichen Spiel die Zeit vertrieben hatten. Er rieb mit Lippen und Nasenflügeln eine kreisrunde Stelle frei, knabberte, leckte, und ab und zu stecke er die Schnauze in den rings umlaufenden Kraterrand aus Staub und Spänen, zog die Luft tief ein, bis es in der Lunge kitzelte, und dann schwenkte er den Kopf zurück und entleerte die Nüstern schnaubend auf dem nackten Holz, was aussah, als würde ein Gewitter über einen Miniaturgebirgssee hereinbrechen. Er wiederholte das unzählige Male, vergaß den beißenden Gestank, die Übelkeit, die Müdigkeit und den Durst.
Ein plötzlicher, stechender Schmerz im Nacken ließ ihn hochfahren. Das Seil spannte um den Hals, Yosy jaulte und schlug unbeholfen mit der Pfote nach der Stelle. Er streifte ein pelziges Insekt, das aus seinem Saugloch herausgerissen wurde und nun panisch zwischen den Hängerwänden umhersurrte. Wie kopflos knallte es von Wand zu Wand, stieß gegen die Decke und gegen Yosys Leib, fand aber weder das Fensterloch noch beruhigte es sich. Yosy gruselte es und die Haare auf seinem Rücken sträubten sich. Er hatte schon als Kind Pferdebremsen nie gemocht, und diese hier war viel größer als alles, was er je gesehen hatte. Diese hier war so fett wie eine ausgewachsene Hummel. Als sie in ihrer Raserei gegen sein Ohr klatschte, wäre er am liebsten davongelaufen.
Doch plötzlich, sie schien unglücklich irgendwo gegengestoßen oder einfach nur erschöpft zu sein, knallte sie direkt vor seiner Nase auf den imaginären Kratersee, lag für eine halbe Sekunde auf dem Rücken, zappelte dann mit ihren Beinchen und versuchte sich durch erneutes Summen wieder aufzurichten. Aber der Brummer schaffte es nicht, schlierte nur wie ein schwarzes Luftkissenboot zwischen den Ufern hin und her und musste immer wieder pausieren. Der Stich im Nacken schmerzte, doch Yosy war auch neugierig, er freute sich geradezu über diese Abwechslung. Durch die Nasenlöcher blies er kräftig aus und verwirbelte das Insekt mit einer ganzen Ladung aus feinem Holzmehl. Nun war es unmöglich zu fliehen, der Staub drückte sich dem Kerbtier zwischen Flügel, Beine, Fühler und Härchen. Aber immerhin stand es jetzt auf den Füßen und versuchte ein paar Schritte. Die Stechfliege durchquerte Yosys Krater und blieb unschlüssig vor dem Rand stehen. Dann begann der Aufstieg, der ihr leichter fiel, als Yosy erwartet hatte. Also blies er ihr erneut seinen Atem entgegen, simulierte gewissermaßen den stürmischen Wind des Hochgebirges. Zudem häufelte er von außen behutsam zusätzliches Material gegen den Ring, drückte dagegen, wodurch die Hänge steiler wurden - und die Fliege schließlich nach unten rutschte und es von Neuem versuchen musste. Systematisch vervollständigte Yosy sein Werk, was nicht ganz einfach war, da - obwohl die Fahrt insgesamt sehr ruhig verlief - auch kleinere Erschütterungen die Berge immer wieder einstürzen ließen. Andererseits schaffte es die Fliege auch nie bis auf den umlaufenen Grat, der scheinbare Wettlauf gegen Yosys Landschaftsgestaltung war also von vorneherein aussichtslos. Und als es ihr doch einmal gelang, blies er ihr etwas Staub vor die Facettenaugen, was sie orientierungslos wieder hinuntertorkeln ließ.
Irgendwann fiel Yosy auf, dass er die Fliege kaum noch erkennen konnte. Seine Spielgefährtin war so erschöpft, dass sie sich nicht mehr bewegte. Es war dunkel geworden. Die Fahrgeräusche hatten sich geändert, es ruckelte, der Hänger neigte sich zur Seite, wurde langsamer, richtete sich wieder auf und stand still.
Yosy beugte den Kopf hinab, bis er mit der weichen Nasenspitze das Holz spürte. Seine Zunge, die ihm nun erstaunlich lang vorkam, strich er behutsam in einer Kreiselbewegung einmal rund um den Kratersee, bis sie die Fliege erfasste, die an seinem halb vertrockneten, klebrigen Speichel hängen blieb. Er rollte die Zunge ein, zog sie zurück, rollte sie im Mund wieder aus und schmiegte das kaum noch strampelnde Insekt sanft gegen den Gaumen, wo er es langsam zergehen lassen wollte.
»Boah, stinkt dat hier!«, tönte plötzlich die Stimme eines der Männer. Sie hatten die Heckklappe heruntergelassen und stiegen ein; zu zweit, einer links, einer rechts, und vorsichtig, als befürchteten sie, er könnte ausschlagen, lösten sie seine Fesseln. Die Schlinge blieb an seinem Hals, sodass der eine ihn halten und führen konnte. Langsam drängten sie ihn rückwärts hinaus. Auf allen Vieren kroch Yosy, was zwar in den steif gewordenen Gelenken schmerzte, aber letztlich besser ging, als er angenommen hatte. Als er schon auf der Rampe stand, sah er aus seinem rechten Augenwinkel im Holzstaub den Rest seiner Mahlzeit: den Knochen, jetzt voller Maden, die sich, vom Mondlicht gestört, hin und her wanden.
Dann war er draußen, streckte seinen Hintern hoch und seine Arme nach vorne. Er gähnte und schüttelte sich wie ein Hund. Sie führten ihn zu einem Feuer, das der Fahrer gerade vor einem liegenden Baumstamm entzündet hatte. Es war später Abend oder schon tiefe Nacht, sie hatten irgendwo angehalten und den inzwischen nur noch dunkelgrauen Wagen neben der Landstraße abgestellt, auf einer sandigen Lichtung zwischen windschiefen, niedrigen Kiefern, die so grau waren wie alles hier. Das Fehlen des Motorengeräuschs machte die Nacht still, selbst das Knistern des Feuers hatte etwas Gedämpftes. Man stellte zwei Campingstühle auf, in die sich die Männer setzten, während der Fahrer auf dem Baumstamm blieb und seine Lederstiefel vor die weißen Flammen hielt. Yosy zwängte sich ungefragt in die Lücke zwischen den Stühlen, hockte seinen Hintern auf den Boden und stützte die Hände in den grauen Sand. Er bedauerte zwar, dass man ihm keinen Stuhl anbot, aber sein Körper wäre wahrscheinlich zu breit gewesen, vielleicht auch zu schwer. Wie groß war er geworden! Selbst in dieser Position war er auf Augenhöhe mit den Männern.
»S'saufen musst, eh ...?«, sagte der Fahrer mit einer quäkenden Stimme und sah erst Yosy und dann den zwei Kerlen in die Augen. Sofort sprang einer Beiden auf, holte einen Eimer von der Pritsche und verschwand in der Dunkelheit. Yosy sah ihm hinterher. Ja, Saufen, dachte er. Sein Atem fiepte, so ausgetrocknet war er, und noch immer fühlte er das sterbende Zucken der Fliege im Mund, die er mangels Speichel weder schlucken noch ausspeien konnte. Der Fahrer kramte in einer hinter dem Stamm stehenden Plastiktüte, zog eine Packung eingeschweißter Würste heraus und drei Flaschen Bier. Mit den Zähnen und einem Klappmesser riss er die Folie auseinander.
»Schatt, geh er mal paar Stöcke holen!«, wies er den stumm neben Yosy sitzenden Mann an, sich auch zu beteiligen. Der stand auf, verschwand ebenfalls in der Dunkelheit des Kiefernwaldes und raschelte irgendwo durchs Unterholz.
»Komm, du Nasentropf, trink Bier, bis die zurück sind!«, sagte der Fahrer und hielt Yosy eine frisch entkorkte Flasche hin. Dankbar umfasste der das kühle, feuchte Glas mit beiden Pfoten und hob es vor die Schnauze. Es gelang ihm auch, mit den wulstigen Lippen irgendwie die Öffnung zu umschließen. Doch als er die spitzen Zähne vorsichtig auseinanderzog, fühlte er die Fliege, die sich mit letzter Kraft durch das so entstandene Gitter aus seinem Mund herauszwängte und dabei von seiner Zunge unwillkürlich in den Flaschenhals hineingedrückt wurde. Zwar kippte Yosy, in der Hoffnung, sie so wieder einfangen zu können, das sprudelnde Gebräu nun schnell in sich hinein, aber irgendwie gelang es der Fliege, noch im Tod Oberwasser zu behalten. Yosy trank, gierig und froh, endlich diesen elenden Durst zu löschen, drei, vier, fünf lange Schlucke, leerte die halbe Flasche, und gab sie zurück. Er hoffte, dass man den im Schaum schwimmenden Fliegenkadaver nicht bemerken würde.
»Durst hatter!«, sagte der Fahrer und trank nun selber aus der Flasche.
»Hätten dir längst was geben sollen, die ... die ... ungebildete Stallburschen, denen kannste' noch erzählen.«
Yosy wollte etwas sagen, irgendwie Dankbarkeit für diese unverhoffte Zuwendung äußern, doch er brachte nur ein gutturales Stammeln heraus, worüber er so erschrak, dass er gleich wieder den Mund hielt. Das Bier, dachte er, viel Erfahrung hatte er damit nicht, eigentlich gar keine, er hatte nie mit den Anderen getrunken, und dass es einem so gründlich die Sprache verschlug, das war erschreckend.
»Bin ja dagegen, euch so an die Kandare nehmen. Seid zwar versorgt, das ganze Leben, aber ...«, der Mann trank erneut, schien aber noch immer nicht mit der Fliege in Berührung gekommen zu sein, »aber nicht alle werden gut behandelt, das glaub mal wohl!«
Er beugte sich vor, Yosy entgegen, wobei er ihn mit dem Halsstrick an sich heranzog. Man hörte schon die Kerle zurückkommen, sodass der Fahrer nur noch leise zischte: »Pass vor die Frauen auf! Echt! Pass da man auf. Die tun nur so. Sind aber die Schlimmsten, besonders ...«
Die letzten Worte konnte Yosy nicht verstehen, weil der Mann schon wieder zurückwich und den Strick losgelassen hatte.
Yosy bekam einen randvoll gefüllten Eimer vor die Pfoten gestellt. Der Mann namens Schatt gab dem Fahrer ein paar dünne Äste, die der durch schnelle Schnitte seines Messers anspitzte und mit Würsten bestückte. Das Wasser roch brackig, aber der Eimerrand warf im blassen Schein des Feuers einen schwarzen Schatten auf die Oberfläche, sodass Yosy nicht erkennen konnte, wie trübe es wirklich war. Und weil der Geruch letztlich nicht so schlimm war, viel schlimmerer war ja sein kaum vom Bier gestillter Durst, tauchte er seinen ganzen langen Schädel hinein und soff und soff und soff. Erst als er mit seiner Zunge den Schlick am Boden ertastete, hörte er auf, zog den Kopf wieder hoch, prustete und hechelte und war zufrieden.
Die drei Männer hielten schweigend ihre Spieße über das Feuer und der Geruch der brutzelnden, zischenden Würste stieg in Yosys Nase. Er zog seine Nüstern hoch, schnüffelte vernehmlich und sah dem Fahrer unter die buschigen Augenbrauen. Der sprach zu den Burschen: »Habter nix für den?«, und als die nur die Köpfe schüttelten: »War der Knochen alles, nix habter mehr?«
Der neben Yosy tätschelte ihm auf den gekrümmten Rücken, befühlte mit den Fingern Haare, Haut und Speck und sagte dann: »Der ist gut im Futter, wurde uns schon vorher gesagt. Am Knochen war viel Fleisch dranne, und wir woll'n den ja noch nicht schlachten, was?!«
Mit dem letzten Wort lachte er heiser und klatschte Yosy kumpelhaft auf die Schultern. Der andere Kerl lachte auch, der Fahrer aber brummte nur und fingerte in dem Folienpäckchen, bekam eine Wurst zu fassen und warf sie vor Yosys Füße.
Yosy senkte den Kopf, hätte vielleicht lieber so eine gebratene gehabt, aber diese hier war auch gut. Mit der Zunge strich er über die Pelle, auf der jetzt Sand klebte, wollte sie erst etwas säubern, aber dann war es ihm auch egal. Noch etwas ungeübt bearbeitete er mit Lippen, Zunge und Zähnen wie mit fremdartigen Gerätschaften die Wurst. Sein Gefühl mahnte ihn, die Hände auf dem Boden zu lassen, es kam bei den Burschen sicher nicht gut an, wenn er seine Extremitäten für etwas anderes als Laufen oder Kratzen verwendete. Bei dem Fahrer wären die Hände erlaubt gewesen, der schien ja auf seiner Seite, aber bei den beiden Kerlen? Letztlich war es auch egal, irgendwie gefiel Yosy sogar diese Art zu essen, die Finger zu schonen und sich vom knirschenden Sand nicht beirren zu lassen.
Den Rest des Mahls verbrachte man schweigend und rauchend. Yosy bekam keine Zigarette angeboten, obwohl er auf dem Spielplatz oft geraucht hatte, er sich also aufs Rauchen verstand. Aber woher sollten die das wissen?
Er konnte nach einer Weile nicht mehr still sitzen, seine Blase füllte sich und er wollte sie nicht im Inneren des Hängers entleeren. Unschlüssig, wie viel Eigeninitiative ihm eigentlich gestattet war, versuchte er durch ein »Hoiette, huss 'aal o hoiette!« seinen Drang zu äußern. Die drei Männer grinsten. Yosy richtete sein Hinterteil in die Höhe, wackelte damit auf und ab, wippte mit dem ganzen Körper unglücklich hin und her, und als das nur ein raues Gelächter auslöste, machte er eine langsame, schwerfällige Drehung und stapfte auf Händen und Füßen davon.
Der Mann namens Schatt brummte nun verärgert, stand aber auf und packte ihn am Strick, ging neben ihm her und führte ihn zum nächsten Baum. Doch als Yosy sich in alter Gewohnheit aufrichten wollte, bekam er einen sanften, aber unmissverständlichen Klaps auf den Hinterkopf und er wusste, er hatte auch dieses Geschäft auf allen Vieren zu verrichten. Aber wie? Ohne jegliche Erfahrung oder Anleitung musste er sich an ungenaue Erinnerungen halten, an Techniken und Stellungen, wie er sie von Hunden oder Pferden kannte.
Yosy hob sein rechtes Bein und balancierte den schweren Körper auf den übrigen Gliedmaßen aus. Dann fuhr er sein ... sein ... sein was auch immer das jetzt war, was da wie ein Schlauch zwischen den Beinen hing, ein Stück aus - auf eine Art, wie er es noch nie zuvor probiert hatte. Das angehobene Bein strengte ihn reichlich an, und die Ungeduld des Mannes an seiner Seite wirkte wie ein Pfropfen in der Harnröhre. Aber dann begann es doch zu tröpfeln, zu fließen, und schließlich schoss ein Strahl aus ihm heraus, fingerdick und so gewaltig, dass es vom Baumstamm zurückspritzte und dem Mann Hemd und Hose einnässte. Der fluchte, sprang einen Schritt zurück und fluchte noch mal, was Yosy so belustigte, dass er unartikuliert kichern musste. Es klang wie »Äh! Ä-ä-äh! Äääh-ä-ä-äh!« und verärgerte den Burschen so sehr, dass der ihm einen Tritt in den Hintern verpasste. Yosy verstummte sofort, hatte Mühe, sein dreibeiniges Gleichgewicht zu halten, denn er war ja noch nicht fertig. Aber irgendwie schaffte er es und war schließlich ganz erstaunt, weil der Mann ihn umarmte, ihm wohlwollend über die Hinterbacken rieb und ein paar erschrockene Worte der Entschuldigung murmelte.
Als sie zurück zum Feuer kamen, versuchte der Fahrer gerade, den letzten Rest Bierschaum aus seiner Flasche zu saugen. Er schmatzte, und auch als er kauen musste, schien ihn das nicht weiter zu irritieren. Doch ganz plötzlich hielt er inne, riss den Mund auf und spie alles auf den Boden: einen grauen Brei aus Bierschaum, Wurstresten und zerkleinerten Teilen eines Insektenkörpers. Der Mann erbleichte und verzog sein Gesicht zu einer bitteren Fratze, spuckte und spuckte noch mal, spuckte immer wieder, und dann beugte er den Kopf in die auf den Knien verschränkten Unterarme und grunzte, wie um sich selbst zu beruhigen.
Yosys Begleiter kraulte Yosy im Nacken und rief dem Fahrer zu: »Bisse müde ...!? Kanner noch fahr'n? Oder wer ...?«
Der Angesprochene röchelte nur.
Da warf der andere Mann einen etwas scheuen Blick in die Runde und sagte: »ICH fahr!«
Der Schatt genannte zuckte unmerklich zusammen, erwiderte den Blick des Anderen mit einem kurzen, verächtlichen Hochziehen der Oberlippen, sagte aber nichts, sprach nur zum Fahrer: »Schläf'sse' im Hänger. Der hier kann auch bei uns sitz'.«
So kam es, dass Yosy, dem man ein altes Hemd und eine kurze Freizeithose angezogen hatte, wenige Minuten später zwischen den Männern auf der breiten Bank in der Fahrerkabine saß, während der Fahrer hinten im weichen Bett aus Sägespänen versuchte, seine Übelkeit wegzuschlafen. Die aufrechte Haltung war Yosy bereits ungewohnt. Es fiel ihm schwer, die Hände länger als nötig freizulassen, und die Füße wollten immer wieder fast automatisch hoch auf die gepolsterte Bank. Aber das ging nicht, sogar angeschnallt hatte man ihn, und so war es noch das Bequemste, die Finger oben gegen die Hutablage zu stützen und sich dort wie ein Affe einzuhängen.
Man fuhr schweigend. Die Männer rauchten ununterbrochen Zigaretten, deren Qualm Yosy in den Augen brannte und sich auf seine Zunge legte. Die Straße führte noch ewig lang durch den Wald, und dann durch eine endlose Prärie aus mondbeschienenen Weizenfeldern, in denen winzig kleine Vogelscheuchen ein beinahe gleichmäßiges Raster schwarzer Punkte bildeten. Sie tankten an einer menschenleeren Tankstelle und fuhren auf die Autobahn, die nicht weniger einsam war als die Landstraße davor. Der Wagen besaß keine Klimaanlage. Die Lüftung war zwar angeschaltet, doch weder konnte sie den Zigarettenrauch vertreiben, noch brachte sie Abkühlung. Die Nacht war wolkenlos und ohne Wind, stickig und heiß. Im Radio lief ein träges Instrumentalstück mit Westerngitarre; ein langsamer Rhythmus, ein blechernes »Ploioioing« - und das über Stunden, als wäre auch dem Moderator zu heiß, nur ein Wort zu sagen.
»Ho'in hahn h'ir?«, fragte Yosy plötzlich. Die Wirkung des Biers sollte längst verflogen sein, aber noch immer lag seine Zunge wie ein dicker, schwerer Wurm in der oberen Gaumenspalte, deren geschwollenen Kämme sie regelrecht einklemmten. Dennoch schien man ihn verstanden zu haben.
»Zum Stall!«, kam die Antwort ohne weitere Erklärung.
»Hel'hen H'all?«, fragte Yosy zurück, aber diesmal sagte keiner was. Die beiden Männer beugten sich nur vor und tauschten vielsagende Blicke aus. Yosy schwenkte seinen mächtigen Kopf erst zu dem Anderen, der fuhr, und dann zu Schatt auf der rechten Seite und wollte nicht so schnell aufgeben. Etwas in dieser fortgeschrittenen Nacht löste in ihm eine ungewohnte Wachheit aus. Fast übermütig wäre er am liebsten aufgesprungen, durch die Felder gejagt und hätte den Mond angeheult. Diese plötzliche innere Energie ließ ihn jauchzen - was wie ein Wiehern klang.
»Stall? Dein Zuhause!«, sagte nun der Mann zu seiner rechten, der, den man Schatt nannte.
Zuhause? Yosy hatte keine Vorstellung von dem, was mit seinem »Zuhause« gemeint sein könnte. Das Haus der Eltern, der Fernseher und der Kühlschrank? Die Straße mit ihren Hecken, Bäumen, Autos? Der Deich? Der süße Duft der Emscher? Nein, das meinte er sicher nicht. Was aber war das Zuhause, wenn die Kindheit um war? Die Arbeit, in der sein Vater lebte? Oder der Himmel, von dem seine Mutter immer gesprochen hatte? Oder nur ein Ort, um Yosy zu schlachten? Nein, der Mann hatte gesagt, schlachten würde man ihn nicht.
»Rooostfluuuch!«, raunte Schatt übertrieben geheimnisvoll und dann lachten die Männer.
Yosy schaute sehnsüchtig zu den Leitplanken, ließ seinen Blick über das pelzige Gewebe der Ähren gleiten.
Zuhause ...
Er verfing sich an einer Vogelscheuche mit einem Hut und einem grinsenden Kürbiskopf, löste sich wieder, trieb weiter und weiter und schwebte bald wie ein geflügeltes weißes Ross über einen mondbeschienenen Teppich. Die Schmerzen in den Gelenken waren verschwunden, sein Körper nicht mehr sperrig und steif. Im Gegenteil, in einer einzigen fließenden Bewegung tauchte er ein in das Getreide, landete sicher auf den Vorderfüßen, die Hinterläufe nachschwingend, aufstützend, anspannend, und ohne Anstrengung stieß er sich vom Boden ab und jagte den ganzen schweren Körper in die Höhe. Seine Hände hatten wieder diese eigenartig gekrümmte Form, wie schon im Hänger beobachtet, aber so war er unempfindlicher, hatte zusätzliche Kraft in jedem Sprung, konnte sich abfedern und mit himmelwärts gerecktem Kopf in die Sterne schießen. Wie der fette Brummer, mit dem er gespielt und den der Fahrer totgebissen hatte, wie vom Wesen des Brummers durchdrungen sauste er den Männern, dem Wagen und sogar den Kornfeldern davon. Ich bin ein Käfer in der Nacht, dachte Yosy, wieherte vor Glück und bekam prompt einen Ellenbogen vor die Rippen gestoßen.
»Is' man gut!«, sagte Schatt.
Nun kroch die Müdigkeit wieder in ihm hoch. Die Glied-maßen schmerzten und Yosy fiel in einen unbequemen Schlaf - sitzend, vom Gurt gehalten, und jedes Mal von seinen Begleitern weggedrückt, wenn er zu sehr nach der einen oder anderen Seite abrutschte. Er träumte, konnte sich aber später nicht mehr an die Träume erinnern; nur noch an gewisse Gefühle, in denen sich Leichtigkeit, vielmehr Flüchtigkeit und eine gleichzeitige elende Schwere zu einem die Kehle einschnürenden Potpourri vermengten.
Es war schon Tag, als er wieder bewusst etwas wahrnahm. Die weiße Sonne brannte in den Augen, im Radio lief ein Interview, vielleicht auch ein Quiz, ein schrilles, unduldsames Gerede über Politik. Sie fuhren eine staubige Asphaltstraße entlang, gesäumt von hohen, undurchsichtigen Wellblechzäunen und grauen Mauern. Dazwischen vereinzelte Hausfronten mit bröckelndem Fassadenputz und zum Teil verbretterten Fenstern. Grau. Südländisch wirkende Frauen in dunkelgrau gemusterten Röcken und Blusen standen vor den lange nicht mehr gestrichenen Sockelmauern eines schief stehenden Gebäudes, das schwarze Haar von grauweißen Tüchern gehalten. Sie sahen auf, als der Wagen sich näherte, riefen etwas ins Haus, und gleich erschienen haufenweise Kinder in einfacher, zerschlissener Kleidung, die dem Fahrzeug einige Meter hinterher rannten und es mit Steinen bewarfen.
Die Straße war ansonsten leer. Nur wenige Autos meist älterer Bauart parkten am Rand vor dem schmalen Gehweg, und nur einmal kam ihnen ein schmutziger Wagen entgehen, dessen Marke Yosy lediglich als osteuropäisch identifizieren konnte.
»Sin' gleich da!«, murmelte Schatt heiser, »Kann man den jetzt beschlagen!«
»Solln'wa hier ...? Bevor'wa ...?«
»Scheiß drauf!«, brummte Schatt, schien sich aber selbst nicht sicher zu sein.
Der andere lenkte den Wagen durch eine breite Öffnung in einer endlos langen Reihe aus Trapezblechen und parkte vor einer großen Garage, in deren Schatten man zwei oder drei aufgebockte Autos, ölverschmierte Schläuche und einige Männer sehen konnte. Grau.
Schatt sprang hinaus, winkte den Männern und ergriff sofort den Bambusstab von der Pritsche. Damit schlug er, aggressiver als nötig, mehrmals vor die Rückscheibe der Fahrerkabine und brüllte laut: »Raus! Raus! Raus!«
Der Andere, der bis hier gefahren war, sah Yosy mit beinahe ängstlichen Augen an. Yosy ließ sich ebenfalls hinausfallen, landete auf allen Vieren und watschelte, obwohl der heiße Asphalt an seinen Händen und Füßen brannte, nach hinten, wobei er die Hiebe des Stabs eher als Geste der Verbundenheit denn als Feindseligkeit empfand. Dies umso mehr, als plötzlich die Männer aus der Werkstatt den Platz betraten. Sie waren alle, Yosy zählte in den Augenwinkeln vier oder fünf, gut genährt, geradezu fett und zugleich ziemlich muskulös. Der größte von ihnen, wahrscheinlich der Werkstattleiter, trug eine ärmellose Lederweste und hatte ein mit einer Art Fahrradkette zusammengebundenes schwarzes Haarbüschel auf dem ansonsten kahlen Kopf. Kahl waren auch die anderen Köpfe, und die Gesichter besaßen bizarre Tätowierungen. Jeder der Männer hielt noch das Werkzeug, mit dem er gerade gearbeitet hatte, in den Händen, Schraubschlüssel, Metallsäge oder Stahlrohr, lässig hin und her schwenkend. Fast im Gleichschritt kamen sie näher. Schatt schlug nun mit dem Stab vor den Hänger und rief: »Fahrer, komm raus!«
Er huschte an Yosy vorbei, entriegelte mit hektischem Schlagen die Klappe und ließ sie so laut hinunter knallen, dass die fremden Männer zurückschraken. Dann erschien der Fahrer. Er blinzelte, noch im Hänger stehend, um die Ecke, die Augen fürchterlich gequollen und der Schnurrbart beschmiert. Er versuchte, gleichzeitig wach zu werden und die Situation zu überblicken. Yosy fiel auf, wie bleich, wie grau sein von Dutzenden Einstichen übersätes Gesicht war. Und jetzt roch man auch den Gestank, der mit einer Wolke Fliegen aus dem Anhänger kam und um die Ecke wehte.
Der Fahrer sprang hinaus, torkelte, knickte ein, hielt sich an der Hängerwand fest und versuchte, zum Stehen zu kommen. Dann spuckte er aus, zog seinen Schnodder mit einem schnarrenden Geräusch die Nase hoch und spuckte und spuckte, ließ dicke Rotzfladen auf den Boden klatschen, die dort ein Mosaik aus dampfenden Placken bildeten. Dann nahm er einen Kamm aus seiner Brusttasche, zog noch einmal die Nase hoch, rotzte erneut, doch diesmal in seine Handfläche, und verteilte alles mit geübten Bewegungen in seiner zerzausten Frisur, bis sie wieder ordentlich lag und glänzte.
Die Männer aus der Werkstatt näherten sich und umringten Yosy, Schatt und den schwankenden Fahrer. Einer zerrte an Yosys Hemd und war damit offenbar im Einverständnis mit Schatt, der Yosy sofort einen festen Schlag verpasste und »Ausziehen!« schrie. Das musste Yosy gar nicht selbst machen, die fünf Kerle und Schatt zerrten und zogen an ihm, bis er das Gleichgewicht verlor und zur Seite plumpste. Sie wuchteten ihn hin und her und hatten ihm bald Hemd und Hose entrissen. Der mit dem Haarbüschel schnalzte zufrieden und tätschelte Yosy mit seinem riesigen Schraubschlüssel auf den Rücken, wollte ihn nun offensichtlich dazu bewegen, sich wieder aufzurichten. Aber für den Moment war es Yosy ganz recht, einfach so, mit gestreckten Armen und gekrümmten Beinen auf dem heißen Asphalt zu liegen, obwohl ihm davon die Seite brannte.
Der Fahrer beobachtete alles mit melancholischen Augen, sagte aber nichts, zwirbelte nur an seinem Walrossschnurbart und schien überhaupt mehr mit sich selbst zu tun zu haben. Am Tuscheln und Kichern erkannte Yosy, dass nun auch einige Kinder gekommen waren. Er spürte, wie ihn Fingerchen betatschten, ihn streichelten oder auch zwickten.
»Hoch!«, brummte Schatt und piekste ihm so oft ins Fleisch, bis Yosy sich mühsam, schwerfällig auf seine vier Füße stellte. Die Kinder sprangen zurück - gespielt verängstigt kreischten sie um die Wette.
Die Männer bildeten einen engen Kreis um Yosy. Dann packte der mit dem Zopf Yosys linke Fußhand und bog den ganzen Arm rücksichtslos nach hinten, fast bis über den Rücken, klemmte ihn sich unter seine linke Schulter und drehte sich mit dem Rücken zu Yosys Gesicht.
Und dann sah Yosy aus den Augenwinkeln ein Hufeisen. Einer der Gehilfen reichte es dem Kerl und hielt noch drei weitere fest, außerdem Nägel und einen Hammer.
Ein Schlag folgte, ein grauenhafter Schmerz in der Hand, Yosy wollte sie wegziehen, aber es ging nicht, mit brutaler Gewalt hielt der Riese den Arm eingeklemmt. Yosy spürte erst kaltes Metall, dann heißes Blut. Schon wurde der Arm, der sein Vorderbein war, fallen gelassen, Yosy musste sich unwillkürlich darauf stützen, so weh es auch tat, er stand für einen Moment wieder auf allen Vieren, »Klack!«, machte der behufte Vorderfuß, »Klack!«, jedes »Klack!« ein stechender Schmerz, und trotzdem stützte Yosy sich auf das Eisen, es war letztlich auszuhalten, er ließ es geschehen, auch, dass der Riese jetzt seinen rechten Arm in der Mache hatte. Wieder Schläge und Stechen, Yosy zuckte, zerrte an seinem Armbein, aber er schrie nicht einmal, grunzte nur, stöhnte, und er hatte Tränen in den Augen, die ihm bald übers Gesicht liefen.
Wie mit seinen Händen verfuhr man auch mit den Füßen. Nacheinander wurden die Beine angehoben, angewinkelt, zwei, drei Männer hielten ihn fest und der Hufschmied trieb ihm die Nägel ins Fleisch, befestigte an jedem Bein ein Hufeisen.
Als er fertig war, gingen alle einen Schritt zurück und ließen Yosy in ihrer Mitte stehen. Ihm taten die Zähne weh, obwohl sein Wolfsgebiss verschont geblieben war. Zugleich fühlte er sich wie angenagelt auf dem Asphalt, der trotz der Eisen noch heißer war als vorher. Yosy balancierte seinen massigen Körper aus, schwankte wie ein Schiff, ging nach links, dann nach rechts, sogar die Masten knarzten, das waren aber nur die Knochen.
Und schon drangsalierten ihn die Kinder wieder, keiner der Männer scherte sich darum, dass die Gören ihn, seinen nackten, wunden Leib mit kleinen Steinchen und anderen, zufällig aufgelesenen Dingen bewarfen.
Einer spontanen Eingebung folgend richtete Yosy sich plötzlich auf. Er ging in die Höhe wie ein urzeitliches Faultier und überragte alle Anwesenden um eine ganze Haupteslänge. Und dabei stand er nicht einmal gerade, hatte die Beine noch immer angewinkelt und nur den langen Schädel hochgereckt, als könnte er die über ihm treibenden Schleierwolken auflecken. Dann sah er hinab und betrachtete das, was mal seine Hände gewesen waren: vernagelt, die Finger an den mittleren Gelenken umgeschlagen und unter die Hufeisen geklemmt, ebenso der Daumen. Von oben sah man nur noch haarige, weißhäutige Pranken, und von unten Pferdehufe. Vier Nägel pro Hand: je einer am Hufeisenansatz, getrieben in die jeweils linke und rechte Handballenhälfte, und zwei weitere Nägel im Laufe des Bogens, steckten im Knöchelansatz des Zeige- sowie des Ringfingers - soweit man das erkennen konnte. Yosys Pfoten waren nämlich schwarz vor Blut und schwollen zusehends an; Schwellung und Blutkruste lösten die einzelnen Finger regelrecht miteinander auf, eigentlich waren das jetzt nur noch Klumpen, die fürchterlich wehtaten, ebenso die Hinterfüße, aber er konnte nicht lange darüber nachdenken. Schon traf ihn ein Stein am Kopf, »Ey!«, brüllte der Fahrer, die Kinder schrien und Yosy zog die Lippen auseinander.
»Hier glein'hen Cheich'her, Hier Ch... Heiß... Sser!«, jaulte er mit ungelenker Zunge. Die Kinder kreischten noch mehr, warfen nun erst recht Steine und Schrauben und Nägel, die besonders auf der Seite, auf der er gelegen hatte, wehtaten. Erst jetzt sahen auch die anderen seine Verbrennungen, und Schatt schrie mit hoher Stimme: »Ganz rot, rooot! Das gibt Probleme, Probleme, so rot war nicht vereinbart, der ist ja ganz verbrannt!«
Mit einem peitschenden Hieb trieb er Yosy, der sich sofort hinabsenkte, zum Hänger, was kaum noch möglich war, so sehr tat das Laufen auf dem Eisen weh, so müde und schlapp war er auch. Die anderen Männer stellten sich zu beiden Seiten neben ihn, stützten ihn, und als seine beschlagenen Hände und Füße mehr über die Rampe schleiften als gingen, trugen ihn zwölf starke Arme in sein Bett aus Holzmehl.
»Kann den so nicht lass'!«, schnarrte Schatt von hinten, »Sind gleich da, musser angebunden sein, und ...«, er fing an, Yosys wunde Seite mit dem Holmehl einzureiben, »... ma' hoff', dass keiner sieht.«
Über die vielen Fliegen schimpfend befestigte man also wieder die Gurte, ließ nur den Halsstrick lose, sodass Yosy sich, wenn auch unbequem, hängen lassen konnte, ohne zu ersticken. Als die Klappe verschlossen war, fing er an zu dösen. Er hörte kaum etwas vom Abschied da draußen, nur kurze Grüße, eher rau gebrüllte Kommandos. Und dann fuhren sie auch schon weiter, Yosy sanft in den Gurten wiegend. Die hatten jetzt wirklich was Gutes: sie entlasteten seine wunden Füße, ließen den Hufeisen Zeit, bei ihm anzuwachsen. Und immer wenn es zu sehr brannte und pochte, konnte er wechselweise die Beine oder Arme entlasten. Selbst den Verwesungsgeruch nahm er kaum wahr, wohl auch, weil der Knochen von den Maden fast abgefressen war und nun Hunderte dicker, schwarzer Fliegen um ihn herum schwirrten. Doch erst als Yosy schlief, setzten sie sich auf sein schwitzendes Fell, krabbelten an alle, auch die schwer zugänglichen Stellen und begannen mit dem Stechen.
Sein Körper wurde überzogen von einem Raster schmerzhafter Punkte, wie eine mathematische Funktion, ein gleichmäßiges Netz immer dichter zusammenrückender Knoten, gegen das es kein Mittel gab. Yosy sah ein, dass jedes Fuchteln, jedes Treten, Zucken, Strampeln die Stiche bestenfalls hinauszögerte. Er hielt also still, konzentrierte sich auf das Netz der Schmerzen und versank in seiner Mitte, tauchte dazu wie durch seinen eigenen Bauchnabel hindurch tief in sich hinein, tiefer und tiefer, bis er sich nach kurzer Zeit am anderen Ende des Universums wiederfand.
Das war ein Ort jenseits dieser und aller vorstellbaren Schmerzen, ein unbegreiflicher, sozusagen unkoordinierter Punkt unter der Decke des Hängers: Yosy war auf einmal frei, federleicht und unsichtbar und hing wie ein Schemen zwischen den schwirrenden Stechfliegen in der Luft. Und unter ihm war dieses Netz aus brennenden Knoten, die einen baumelnden Körper malträtierten, der nicht mehr sein eigener war.