Читать книгу Kleine Ewigkeit - null H.Loof - Страница 5

Erste Schritte

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Die Tür aus ihrem Zimmer führte auf einen schmalen Gang. Unwillkürlich fragte Amber sich, wie Berta hier überhaupt durchpasste. Rechts endete er bei einer weiteren Tür. Nach etwa 20 Schritten auf der linken Seite öffnete sich der Gang zu einer Art Galerie und sie hatte einen Überblick über Bertas Gasthaus. Es war tatsächlich ein ausgehöhlter Baum und sie befand sich am oberen Ende. Auf halber Höhe konnte sie eine große Tür erkennen. Am Boden war die eigentliche Gaststube mit einer Bar und einigen Tischen. Sie konnte Berta unten deutlich erkennen. Ihre massige Gestalt war selbst aus dieser Höhe nicht zu übersehen. Die Beleuchtung wurde durch kleine, runde Fenster in regelmäßigen Abständen gewährleistet. Für die Abendstunden konnten auch noch Lampen entzündet werden. Die Treppe führte spiralförmig an der Außenseite des Raumes nach unten. Als Amber bei ihrem Abstieg an der großen Tür vorbei kam, bemerkte sie, dass dies wohl der Eingang war. Kurzer Hand entschloss sich Amber auf eigene Faust die Waldstadt zu erkunden.

Der Anblick außerhalb Bertas Gasthauses war für sie überwältigend. Alle Gebäude der Stadt waren scheinbar auf oder in den Bäumen errichtet worden. Große Äste dienten als Gehwege und wo diese nicht weiter führten, wurden die Wege mit Hängebrücken verlängert. Langsam setzte sich Amber in Bewegung, um sich diese wunderbare Stadt anzusehen.

Sie ging über die Wege, an den Unterkünften vorbei und genoss die warme Frühlingsluft. Es war ein sonniger Tag, der die trüben Gedanken vertreiben konnte.

So etwas wie diese Waldstadt hatte Amber noch nie gesehen. Wenn sie so darüber nachdachte, war ihr Leben vor dem Treffen mit Kerwin ereignislos. Sie hatte bisher nur in ihrem kleinen Dorf gelebt und war auch nur ein einziges Mal zum nahe gelegenen Nachbarort gereist und dieser hat sich kaum von ihrem eigenen Dorf unterschieden.

Staunend lief sie über die Äste und Brücken bis sie zu einer kleinen Plattform kam, die etwa 3 Meter über dem Boden an einem Baum befestigt war. Von hier aus hatte man einen guten Überblick über die nähere Umgebung. Fasziniert lehnte Amber sich auf die Brüstung und betrachtete verträumt die Landschaft.

Nach einer Weile hörte sie eine Stimme neben sich: „Der Anblick ist immer wieder schön, man könnte stundenlang einfach nur hier stehen und die Natur betrachten.“

Ein Blick zur Seite zeigte ihr, dass neben ihr ein junger Mann stand, der nicht viel älter sein konnte als sie selbst. Er hatte sich ebenfalls auf die Brüstung gelehnt und blickte auf die umstehenden Bäume.

„Der Wald sieht heute so friedlich aus. In solchen Momenten kann man kaum glauben, dass von dort eine tödliche Gefahr ausgeht.“, mit diesen Worten drehte er sich zu Amber und lächelte sie an. „Ich habe Dich hier noch nie gesehen und ein so hübsches Mädchen wäre mir doch aufgefallen. Bist Du erst kürzlich angekommen?“

Die Art von ihm gefiel Amber auf Anhieb.

„Ich bin noch nicht lange hier. Es ist sogar das erste Mal, dass ich mich hier umschauen kann. Ich heiße übrigens Amber und wer bist Du?“

„Oh wie unhöflich von mir, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Gideon. Ich bin der Gehilfe von Meister Gerloff. Er hat hier einen kleinen Laden, in dem alles Mögliche verkauft wird. Und was machst Du so?“

Amber überlegte eine Weile, was sie darauf antworten sollte. Was machte sie denn wirklich hier und was machte Kerwin? Sie wusste es einfach nicht.

Gideon bemerkte ihr zögern: „Du musst darauf natürlich nicht antworten, wenn Du nicht willst.“

„Nein das ist es nicht.“, antworte Amber: „Es ist nur so, dass ich es selber nicht genau weiß. Mein Vater hat mich erst vor kurzem meinem jetzigen Begleiter mitgegeben. Ich weiß noch gar nicht, was er so macht und welche Aufgabe ich bei ihm habe.“

„Dein Vater hat Dich doch nicht etwa an einen Fremden verkauft?“, brachte Gideon ungläubig heraus.

„Nein so ist das nicht. Mein Vater ist sehr krank und bat daher Kerwin sich um mich zu kümmern. Er ist wohl so was wie mein Mentor.“

„Das hört sich schon ganz anders an.“, aus der Stimme von Gideon war eindeutig Erleichterung herauszuhören.

Amber hatte das Gefühl, dass sie endlich jemanden begegnet war, mit dem man normal reden konnte. Dann erinnerte sie sich an die ersten Worte von Gideon und zog ihre Stirn kraus.

„Am Anfang hast Du gesagt, dass der Wald tödlich ist oder so ähnlich. Was hast Du denn damit gemeint?“

Gideon schien sie etwas ungläubig anzusehen, darum beeilte sich Amber hinzuzufügen: „Ich bin neu hier und kenne mich in dieser Gegend nicht aus.“

Etwas schleppend setzte Gideon zu einer Antwort an: „Nun es gibt im Wald einige Tiere, die uns gefährlich werden können. Erst kürzlich ist ein Wachposten von einem Marder getötet worden. Es wird vermutet, dass er während der Wache eingeschlafen war. Man fand am Morgen nur noch ein paar Überreste.“

Amber schaute sich unwillkürlich um. Als sie wieder Gideon ansah, konnte sie erkennen, dass er etwas schmunzelte.

„Am Tage ist es hier sehr sicher. Wenn es allerdings dunkel wird, sollte man vorsichtig sein und auf den beleuchteten Wegen bleiben. Aber wir sollten nicht über so unangenehme Dinge sprechen. Du sagtest, dass Du das erste Mal hier bist. Ich würde mich freuen einer so bezaubernden jungen Frau unser kleines, bescheidenes und doch wunderschönes Dorf zu zeigen. Also wenn Du nichts dagegen hast, führe ich Dich etwas herum.“

Nur zu gerne nahm Amber dieses Angebot an.


An diesem Nachmittag lernte Amber eine Menge über die Waldstadt, wie sie die Bewohner einfach nannten. Sie existierte noch nicht sehr lange, erst ca. 10 Jahre und war aus einer kleinen Jagdunterkunft entstanden. Inzwischen lebten hier mehr als 100 Menschen. Die meisten von ihnen hatten irgendwelche Schwierigkeiten gehabt, weswegen sie sich hier niedergelassen hatten. Die Gesetze des Reiches und der Kirche hatten in der Waldstadt keine Gültigkeit. Man sprach nicht gerne über die Vergangenheit und es war jeder willkommen, solange er sich hier ordentlich benahm. Mit dem Wachsen der Stadt wurden auch einige Händler angezogen. Darunter war auch der Händler Gerloff, der hier ein Geschäft aufmachte. Vorwiegend kaufte er hier Felle auf und verkaufte diese dann weiter. Gideon war sein Gehilfe, der auch das Geschäft führen musste, wenn Meister Gerloff auf Reisen war, um Waren zu kaufen und zu verkaufen.


Die Dämmerung setzte schon ein, als Amber zu Bertas Gaststätte zurückkehrte. Gideon hatte sie noch bis hierher begleitet und sich dann verabschiedet. Nachdem Amber die große Eingangstür passiert hatte, schaute sie sich eine Weile das Treiben an. Es waren nicht sehr viele Gäste da. Bertas ausladende Statur konnte man von oben natürlich gut erkennen. Sie stand hinter der Bar und verteilte Getränke. Die meisten Gäste waren auch dort. Eine kleine Gruppe saß unten am Treppenabsatz an einem Tisch und schien sich lauthals zu unterhalten. In der hinteren Ecke war eine dunkel gekleidete Person ausmachen, die alleine an einem Tisch saß und aß. Beim genaueren Hinsehen konnte Amber erkennen, dass es sich um Kerwin handelte. Sie überlegte ob sie hingehen sollte. Im Grunde hatte sie keine Lust mit dem komischen Kerl zu reden, andererseits musste sie sich früher oder später doch mit ihm unterhalten und außerdem war sie auch zu neugierig, wie es jetzt weitergehen sollte. Also entschloss sie sich nach unten zu gehen.

Am unteren Ende der Treppe angekommen, wollte sie zu Kerwin hinübergehen, als sich ihr ein großer, kräftiger Mann in den Weg stellte. Amber konnte deutlich die Alkoholfahne riechen, die sich mit einem unangenehmen Schweißgeruch verbunden hatte.

„Wen haben wir denn da! Wenn das nicht ein kleiner süßer Käfer ist, richtig zum Anbeißen!“, brachte der Mann mit einem schmierigen Grinsen heraus.

„Ja, da bekommt man doch glatt Appetit“, kam es aus einer anderen Richtung.

Hastig schaute sich Amber um. Sie war von drei Männern umringt, die sie lüstern anstarrten. Der Bär von einem Mann, der ihr den Weg verstellte hatte, kam noch näher heran und streichelte ihr mit einer Hand über die Wange. Amber fing an zu zittern und konnte sich vor Angst kaum noch bewegen.

„Schaut mal, wie blutjung sie ist. Und sie wird auch noch richtig rot.“, sprach er mit einem immer breiter werdenden Grinsen im Gesicht.

„Ich glaube, wir sollten ihr mal zeigen, was richtige Männer mit einer Frau so alles anstellen können.“

„Und ich überlege mir gerade was ich mit Dir anstelle. Vielleicht sollte ich Dir die Zunge rausschneide für Deine Bemerkung.“, kam eine Stimme aus dem Hintergrund.

„Wer wagt es“, setzte der Riese an, zog dabei ein Schwert und wirbelte herum.

Amber wurde von der plötzlichen Bewegung zu Boden geschleudert, konnte aber das weitere Geschehen genau beobachten. Kerwin der hinter ihrem Angreifer stand, duckte sich und der Schwertstreich ging ins Leere. Gleichzeitig rammte Kerwin mit der linken Hand einen langen Dolch in ein Bein des Gegners, während das Schwert in seiner Rechten den Arm des Angreifers kurz unterm Ellenbogen abtrennte. Der Mann sackte auf die Knie, hielt sich den Armstumpf und schaute ungläubig zu wie aus der Wunde in Schüben das Blut schoss. Er setzte zu einem Schrei an, der aber jäh unterbrochen wurde, als Kerwin ihn durch einen weiteren Schwerthieb enthauptete. Amber konnte deutlich den dumpfen Aufschlag des Kopfes auf dem Boden hören. Dabei schaute sie wie gebannt auf den noch knienden Körper der langsam zur Seite wegkippte. Es kam ihr wie eine kleine Ewigkeit vor, bis auch er auf den Boden auftraf. Selbst dann konnte sie den Blick nicht von der Leiche wenden, aus der unaufhörlich das Blut lief.

In dem Raum war es jetzt totenstill. Nur das Atmen der beiden Männer neben ihr konnte Amber hören. Sie zwang sich den Blick abzuwenden und wieder hochzuschauen. Kerwin stand da, so als wäre eben nichts geschehen. Nur die Waffen in seinen Händen, von denen noch das Blut tropfte, passten nicht zu der scheinbar entspannten Körperhaltung. Bei den beiden anderen Männern konnte sie deutlich die Anspannung spüren, aber keiner von ihnen machte Anstalten eine Waffe zu ziehen.

„Ich denke ihr solltet jetzt gehen und euren Freund mitnehmen.“, unterbrach Kerwin endlich die Stille.

Die Beiden setzten sich langsam und vorsichtig in Bewegung, als befürchteten sie jederzeit angegriffen zu werden. Einer nahm den leblosen Körper, während der Andere die abgetrennten Körperteile aufsammelte.

Amber wurde sich bewusst, dass sie immer noch auf dem Boden lag. Sie beeilte sich aufzustehen. Dabei achtete sie peinlichst darauf nicht mit den Blutlachen in Berührung zu kommen. Inzwischen ist auch Berta hinter ihrer Theke hervorgekommen und hat sich zu Kerwin gestellt.

„Musste das unbedingt sein. Das hätte man doch auch anders regeln können! Die wollten doch nur ein wenig Spaß machen und ich habe jetzt die Sauerei hier!“, giftete sie Kerwin leise an.

„Nun ich habe halt keinen Humor.“, kam die knappe Antwort. „Kannst Du bitte noch etwas zu trinken und zu essen für Amber an meinen Tisch bringen?“

Dann fasste er Amber, die noch immer zitterte, am Arm und führte sie zu seinem Tisch.

Sie setzten sich und Kerwin fing an seine Waffen mit einem Tuch zu säubern, während er zu Amber sprach.

„In Zukunft solltest Du Dich von solchem Gesindel fernhalten und falls das nicht möglich ist, merke Dir folgende Regel: Versuche jede Konfrontation zu vermeiden, aber falls es doch dazu kommt, sei schnell und habe keine Skrupel. Und jetzt solltest Du was essen. Das ist immer gut, um trübe Gedanken zu vertreiben.“

Berta hatte inzwischen etwas Brot und einen Becher mit Wasser vor Amber abgestellt. Nachdem Kerwin seine Waffen gereinigt hatte, steckte er sie wieder weg und fing an zu essen. Amber biss ebenfalls in das Brot und musste feststellen, dass sie von dem ganzen Tag einen Bärenhunger hatte.

Während sie noch kaute, fragte sie: „Du hast einen der drei Männer getötet und die anderen Beiden hast Du einfach laufen lassen. Meinst Du nicht, sie könnten sich rächen wollen?“

„Nun, zum einen glaube ich, dass sie nicht mutig und dumm genug sind, das zu versuchen. Zum anderen widerstrebt es mir Menschen zu töten, wenn es nicht notwendig ist.“, kam die Antwort.

„Berta meinte, es wäre nicht einmal notwendig gewesen überhaupt jemanden zu töten.“, bohrte Amber weiter.

Kerwin schaute zu ihr auf: „Und was meinst Du? War es richtig?“

Amber dachte an den Mann und fasste sich dabei unwillkürlich an die Wange, wo er sie berührt hatte.

„Ich bin froh, dass er tot ist.“, sagte sie schließlich.

Kerwin nickte nur.

Während sie aß, schaute sie sich den Raum näher an. Er war viel größer als es von oben zu sehen war. Der Boden war nicht aus Holz sondern aus Erde. Wenn sie so darüber nachdachte, kam sie zu der Erkenntnis, dass der Raum unterhalb des Baumes sein musste. Die anderen Gäste schauten ab und zu verstohlen zu ihnen rüber. Wenn sie bemerkten, dass sie von Amber dabei beobachtet wurden, ging der Blick schnell in eine andere Richtung.

„Die Leute scheinen sich über uns zu unterhalten“, bemerkte sie.

„Sollen sie ruhig. Es kann nur von Vorteil sein, wenn sich der kleine Zwischenfall rumspricht.“, erwiderte Kerwin mit einem Lächeln: „dann wird es hoffentlich nicht noch mal notwendig sein.“

„Als der Mann mich“, setzte Amber an: „als der Mann mich belästigte, hatte ich einfach nur Angst. Ich wünschte ich wäre so mutig wie Du und könnte auch so gut kämpfen.“

Kerwin schaute in Ambers Gesicht. Es kam ihr so vor, als ob er versuchte ihre Gedanken zu lesen. Gleich wird er sagen wie töricht ich bin. Eine Frau und kämpfen, dachte Amber traurig.

Nach einer kleinen Ewigkeit erwiderte er schließlich: „Nun, ich habe Deinem Vater versprochen, dass ich Dich in meine Obhut nehme und gut auf Dich aufpasse. Dein Vater kannte mich gut. Ich glaube, dass er wollte, dass ich Dir beibringe Dich zu verteidigen. Und .. Angst ist etwas ganz Normales. Du musst nur lernen, sie so weit unter Kontrolle zu halten, dass sie Dein Handeln nicht beeinträchtigt.“

Amber konnte es kaum glauben: „Das heißt, Du wirst mir beibringen wie man kämpft?“

„Soweit ich das kann, werde ich es tun. Allerdings wird es nicht einfach werden. Vielleicht wirst Du mich dafür sogar noch hassen.“

Nachdem sie aufgegessen hatten, brachte Kerwin Amber hoch zu ihrem Zimmer.

Als sie die Tür hinter sich schloss, stand er noch nachdenklich davor und murmelte leise: „So mutig wie Du glaubst, bin ich nicht.“

Dabei schaute er auf seine Hand, die kaum merklich zitterte.

Schweißgebadet wachte Amber aus einem Alptraum auf. Sie brauchte einige Sekunden bevor sie wusste wo sie war. Nachdem sie sich etwas gefangen hatte, bemerkte sie das laute Klopfen an ihrer Tür.

„Raus aus dem Bett, wir haben heute noch viel vor!“, war die Stimme von Kerwin zu hören.

Missmutig stand Amber auf und begann sich anzuziehen.

„Ich komme ja schon!“

Gemeinsam gingen sie nach unten, um zu frühstücken. Bis auf einen dunklen Fleck auf der Erde, der wohl von dem vielen Blut stammte, war nichts mehr von dem gestrigen Geschehen zu sehen. Die dicke Berta war schon da und begrüßte sie froh gelaunt. Amber fragte sich, wann Berta überhaupt schlief.

Es gab ein reichhaltiges Frühstück.

„Lang ruhig ordentlich zu. Es wird noch ein anstrengender Tag werden. Du willst doch immer noch, dass ich Dir beibringen wie Du Dich wehren kannst?“, fragte Kerwin.

„Ja, bring mir das Kämpfen bei!“, kam prompt die feste Antwort von Amber.

Nachdem die beiden ausgiebig gegessen hatten, machten sie sich auf den Weg nach draußen. Das war in der Waldstadt gar nicht so einfach. Zuerst mussten sie wieder zum Ausgang von Bertas Baum aufsteigen, um dann über mehrere Brücken und andere Bäume zu einer großen Plattform zu gelangen. Von hier konnte man über eine einholbare Strickleiter nach unten klettern. Neben der Strickleiter war noch eine Vorrichtung, eine Art Fahrstuhl, um größere Gegenstände in die Waldstadt zu befördern. Der scheinbar einzige Eingang zur Waldstadt wurde von zwei Männern bewacht, die aussahen als ob sie keinen Spaß verstanden. Kerwin trat an einen der beiden heran und sprach kurz mit ihm. Anschließend ging er mit Amber zu der Strickleiter.

„Wir treffen uns unten. Ich werde als erster die Leiter benutzen.“

Amber schaute zu, wie Kerwin geschickt die Strickleiter herabstieg. Als sie so in die Tiefe blickte, breitete sich ein seltsames Kribbeln in ihren Händen und Füßen aus. Der Waldboden musste mindesten 5 Meter entfernt sein. Nachdem Kerwin unten angekommen war, machte sie sich daran herabzusteigen. Mit verkrampften Händen und etwas unsicher benutzte sie die Strickleiter. Sie spürte genau, wie sie von den beiden Wachen und von Kerwin dabei beobachtet wurde und sie wollte nicht als plumpes kleines Mädchen angesehen werden. Deshalb nahm sie sich zusammen und absolvierte den Abstieg in recht kurzer Zeit.

Unten angekommen, wurde sie von Kerwin mit den Worten begrüßt: „Nun, Klettern scheinst Du ja einigermaßen zu können. Nicht alle schaffen die Strickleiter beim ersten Mal so problemlos.“

Amber konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Als sie dann aber Kerwin folgen wollte, der schon wieder unterwegs war, merkte sie, dass sich ihre Knie butterweich anfühlten. Die ersten paar Schritte musste sie sich stark konzentrieren, damit sie sich überhaupt auf den Beinen halten konnte. Amber hoffte, dass Kerwin nichts mitbekam. Als sie ihn verstohlen beobachtete, konnte sie zumindest keine Reaktion erkennen.

Sie liefen, bis sie außer Sichtweite der Waldstadt waren. Dann hielt Kerwin inne und drehte sich zu Amber um.

„Ich denke, hier wird uns keiner stören.“, sagte er, schaute sich um und sammelte einen etwas dickeren Zweig auf, den er in drei handliche kleinere Teile zerbrach.

„Du bist zweifelsfrei eine Frau, was beim Kämpfen ein großer Nachteil sein kann.“

Als Amber ihn fragend anschaute, sprach Kerwin weiter: „Ein Mann hat in der Regel mehr Kraft als Du. Deshalb musst Du diesen Nachteil irgendwie ausgleichen und darfst Dich nicht in Situationen drängen lassen in denen es auf die reine Körperkraft ankommt.“

Dabei fing er an mit den drei Stöcken zu jonglieren.

„Als erstes sollst Du lernen, Deinen Körper besser zu beherrschen. Wir fangen mit einer einfachen Übung an.“

Mit diesen Worten fing er die drei Stöcker wieder auf und überreichte sie Amber. Sie schaute auf die Hölzer in ihrer Hand und versuchte dann unbeholfen damit zu jonglieren, wobei sie sofort zu Boden fielen.

Als sie Kerwin anschaute, sagte dieser nur: „Übe solange, bis Du es kannst“

Dann setzte er sich auf einen Baumstumpf und schaute ihr zu.

Auch nach 2 Stunden intensivem Übens konnte Amber immer noch kein bisschen jonglieren. Nur ihre Hände begannen immer mehr zu zittern, so dass ihr ab und zu die Stöcker schon beim Aufheben aus der Hand rutschten.

„Ich denke mit dem Jonglieren machen wir morgen weiter.“, meldete sich Kerwin endlich, „jetzt wollen wir mal sehen, wie es mit Deiner Kondition aussieht!“

Daraufhin begann für Amber ein Martyrium, an das sie sich später nur undeutlich erinnern konnte. Der Rest des Tages bestand nur aus Laufen, Springen, Liegestütz und weiteren Grausamkeiten. Nach einer schier unendlich langen Zeit brach Kerwin das Training ab und sie machten sich auf den Heimweg. Während Kerwin noch frisch wirkte, konnte Amber sich kaum noch auf den Beinen halten. Bei der Strickleiter angekommen, machten sie erst mal eine kleine Pause, wobei Kerwin Amber genau beobachtete.

„Schaffst Du es die Strickleiter hochzuklettern?“, fragte er.

Amber schaute sich die Strickleiter an und sie kam ihr viel zu lang vor.

Trotzdem erwiderte sie: „Natürlich, schließlich bin ich kein kleines Kind.“

Gleich darauf begann sie den Aufstieg. Schon nach einem Viertel bereute sie ihre großspurigen Worte. Sie hatte kein richtiges Gefühl mehr in den Armen und Beinen, so dass sie häufiger abzurutschen drohte. Als sie nach unten schaute, konnte sie das besorgte Gesicht von Kerwin sehen. Da sie sich aber keine Blöße geben wollte, erklomm sie mit viel Mühe dennoch die Strickleiter und setzte sich auf die Plattform, dabei war es ihr inzwischen egal, was die anderen Leute von ihr denken mochten.

Kerwin kam kurz nach ihr auf der Plattform an und Amber musste sich wieder aufrichten, um ihm zu Bertas Taverne zu folgen. Dort angekommen, schlug Kerwin den Weg nach unten ein und Amber folgte ihm wortlos. Berta viel wie immer aus dem normalen Rahmen. Ihre Kleider hatte sie diesmal komplett in grün gewählt und ihren Kopf zierte ein Hut in Blattform. Amber hätte am liebsten laut aufgelacht, aber dafür hatte sie einfach nicht mehr die Kraft.

„Kannst Du bitte für mich und Amber ein heißes Bad einlassen?“, sprach Kerwin Berta höflich an.

„Wird gemacht!“, kam die knappe Antwort und Berta gab einem kleinen Jungen, der hinter der Bar Geschirr abwusch einen Wink, so dass er zu ihnen herüberkam.

Bevor Berta zu dem Jungen noch etwas sagen konnte, bemerkte Kerwin noch: „Für jeden ein Bad mit frischem Wasser und bring uns schon mal etwas zu essen.“

Daraufhin ging Kerwin zum nächsten freien Tisch und setzte sich.

Als Amber ihm folgte, konnte sie noch Berta murmeln hören: „Wenn der Kerl nicht mein Freund wäre und gut bezahlen würde, hätte ich ihn schon längst erwürgt.“

Nachdem sie eine kleine Mahlzeit zu sich genommen hatten, war das Bad auch schon fertig. Mit schlurfendem Schritt folgte Amber dem kleinen Jungen in einen Nebenraum. Eine nicht allzu große hölzerne Wanne stand mitten im Raum und das heiße Wasser dampfte verlockend. Nachdem Amber alleine in dem Raum war, entledigte sie sich ihrer Kleidung, wobei sie bei jeder Bewegung schmerzhaft ihre überanstrengten Muskeln spürte. Schließlich setzte sie sich nackt in die kleine Badewanne und genoss es, wie sich ihre Muskeln entkrampften. Dabei wurde sie von einer großen Müdigkeit überwältigt und schlief schließlich ein.

„Du hast sie heute aber ganz schön hart rangenommen.“, sprach Berta Kerwin an.

Er schaute auf die Schlafende: „Sie soll sich möglichst bald an körperliche Anstrengungen gewöhnen und sich auch verteidigen können.“

„Du willst sie also tatsächlich zu einer Kämpferin ausbilden. Meinst Du nicht, sie hätte ein besseres Leben, wenn Du für sie einen netten Ehemann findest?“, fragte Berta.

„Das geht leider nicht.“

„Ich verstehe Dich nicht. Du gibst Dir so viel Mühe und was wird dabei herauskommen? In ein paar Jahren wird sie die Wahrheit über Dich erfahren und dann? Falls sie Dich dann nicht hassen sollte, wirst Du ihrem langsamen Altern und schließlich ihren Tod mit ansehen. Du kennst das doch schon von früher. Warum tust Du Dir das immer wieder an?“

„Diesmal ist es anders. Hast Du Dir die Kleine mal genau angesehen?“, fragte Kerwin.

Als Berta ihn fragend ansah, fuhr er fort: „Sie hat nicht eine Narbe!“

Berta schaute die schlafende Amber mit einem forschenden Blick an: „Vielleicht hast Du recht... Weiß sie es schon?“

„Nein, sie darf es auch noch nicht erfahren. Ich glaube, sie ist noch viel zu sehr in der allgemeinen Lehre der Kirche verwurzelt. Hilfst Du mir sie ins Bett zu bringen?“

Nachdem sie Amber in ihr Zimmer getragen hatten, gingen sie noch mal in die Gaststube, um sich einen gemütlichen Abend zu machen.


Der Tagesablauf in der nächsten Woche war immer gleich. Morgens ging Amber mit Kerwin in den Wald für ihr Training. Dies begann üblicherweise mit einigen Geschicklichkeitsübungen und später folgte dann das anstrengende Ausdauer- und Krafttraining. Am Nachmittag war Amber jedes Mal zu mute, als ob sie gleich zusammenbrechen würde. Sie schaffte es gerade noch in die Taverne, um dann erschöpft in ihr Bett zu fallen und bis zum nächste Morgen zu schlafen. Es kam Amber so vor, als ob sie nur sehr langsam Fortschritte machte. Allerdings stellte sie nach der ersten Woche fest, dass sie schon kräftiger geworden war und auch das Jonglieren klappte schon ab und zu.

Trotzdem sie in dieser Woche viel Zeit mit ihrem Mentor verbrachte, konnte sie ihn immer noch nicht einschätzen. Er war und blieb ein Mysterium für sie. In seiner Nähe fühlte sie sich immer etwas unwohl. Umso mehr freute sie sich darauf Gideon wieder zu treffen. Ihre Gedanken schweiften oft zu ihm ab, auch wenn sie ihn bisher nur ein einziges Mal begegnet war.


Ein paar Wochen später, als Kerwin und Amber gerade von ihrem täglichen Training aus dem Wald zurückkamen, sahen sie mehrere Personen unten an dem Lastenaufzug stehen. Irgendetwas schien damit nicht in Ordnung zu sein. Es hatte am Mittag angefangen zu regnen und bis jetzt nicht aufgehört. Ihre Kleidung war bis auf die Haut durchnässt und Amber sehnte sich nach einem heißen Bad, um Ihre überanstrengten Glieder zu beruhigen. Beim Näherkommen konnte sie erkennen, dass scheinbar das Seil an dem Aufzug gerissen war und die Ladung von großer Höhe abgestürzt sein musste. 5 Männer mühten sich ab, die schwere Kiste anzuheben. Den Grund dafür konnte sie ein paar Augenblicke später erkennen. Ein Mensch war unter der Last eingequetscht. Sie eilten zu den anderen, um ihnen zu helfen. Mit vereinten Kräften schafften sie es nach mehreren Anläufen die Kiste umzukippen und die Beine des Eingequetschten freizulegen. Erschöpft lehnte Amber sich gegen die Kiste und blickte nach unten. Ein Gefühl der Übelkeit überkam sie, als sie die Beine oder vielmehr, das was davon übrig war, sah. Man konnte in der roten Masse nicht einmal mehr im Ansatz erkennen, dass es sich um Beine handelte. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und drehte sie sacht beiseite.

„Danke für Deine Hilfe“, es war Gideon der sie wegführte, während die anderen sich um den Verletzten kümmerten.

Amber schaute zu ihm auf und war trotz allem froh Gideon wiederzusehen.

„Das war doch selbstverständlich“, erwiderte sie schwach lächelnd.

Ein schmerzhafter Aufschrei ließ sie wieder zu dem Verletzten sehen. Er lag inzwischen auf einer Trage und in eine Decke eingewickelt. Sie konnte nur noch das bleiche, schmerzverzerrte Gesicht sehen.

„Wie konnte so was passieren?“, fragte Amber flüsternd.

„Ich bin mit Waren für die Waldstadt zurückgekehrt und als wir sie nach oben transportieren wollten, riss plötzlich das Seil und die Kiste viel herunter. Während ich noch gerade zur Seite springen konnte, hatte Peter nicht so viel Glück. Oh Mann, ich hoffe, dass er wieder gesund wird.“

„Er wird sterben.“, kam ein trockener Kommentar von Kerwin, der sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte.

Als Gideon und Amber ihn sprachlos anschauten, setzte er hinzu: „Ich habe mir die Wunden angesehen, sie sind tödlich. Es wäre am besten, man würde ihn von seinen Qualen erlösen.“

„Nein, keiner rührt ihn an.“, kam prompt die Erwiderung von Gideon und er schaute Kerwin wütend an. „Wir schaffen ihn jetzt in die Waldstadt und werden ihn wieder zusammenflicken.“

Hilflos schaute Amber Gideon und den anderen Männern zu, wie sie den Verletzten wegtransportierten. Sie hatte den Wunsch zu helfen und wusste doch, dass sie nur im Wege stehen würde.

„Wie kannst Du nur so kalt und herzlos sein? Du wolltest ihn wirklich töten, oder?“, wandte sie sich wütend an Kerwin.

„Er wird keine 2 Tage überleben und den kurzen Rest seines Lebens nur noch Schmerzen haben. Glaube mir, ihn zu töten wäre nicht grausam, sondern eine Gnade. Ich habe so etwas schon zu oft erlebt.“

Sie machten sich schweigend auf den Rückweg zu Bertas Taverne. Amber wusste nicht was sie glauben sollte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass man nicht einfach jemanden tötet, aber Kerwin hatte mit einer großen inneren Überzeugung gesprochen. Durch das Grübeln merkte sie kaum, wie sie den Weg in die Taverne fanden. Auch beim Abendessen war sie in Gedanken versunken.

Schließlich sagte Kerwin zu ihr: „Du kannst morgen nachschauen, wie es ihm geht. Wir werden Deine Ausbildung für einen Tag unterbrechen.“

„Danke, ich hoffe Du hast Dich geirrt.“, erwiderte Amber.

Doch der Blick von Kerwin ließ sie frösteln.


In dieser Nacht wurde Amber wieder mal von Alpträumen geplagt. Die kurzen Tiefschlafphasen hatten kaum Erholung gebracht und sie fühlte sich wie gerädert. Mühsam quälte sie sich aus dem Bett und überlegte, ob sie noch frühstücken sollte, entschied sich aber dagegen. Sie hatte keine Ruhe und wollte unbedingt gleich zu Gideon. Daher machte sie sich sofort auf den Weg.

Es war ein düsterer, regnerischer Morgen, der gut zu Ambers Stimmung passte. Der Wind zerrte an den Ästen und das Rauschen der Blätter war überwältigend. Nur mit Mühe konnte sich Amber auf den Ästen bewegen, ohne abzurutschen. Sie schwankten und waren durch den Regen glitschig geworden. Endlich bei Gerloffs Laden angekommen, fragte sie sich, ob sie wirklich eintreten sollte und was der wahre Grund für diesen Besuch war. Ihre Hände kribbelten und sie glaubte nicht, dass sie ihre Nervosität verbergen konnte. Gerade als sie lieber wieder umdrehen wollte, ging die kleine Holztür auf. Ein älterer Herr mit grauen Haaren und einem langen weißen Bart kam heraus und hätte sie beinahe umgerannt.

„Verzeihung, junge Frau. Bei diesem Wetter habe ich nicht mit Kundschaft gerechnet. Aber kommen Sie doch erst mal in meinen Laden.“

Amber bückte sich und folgte ihm durch die niedrige Tür. Im Laden schaute sie sich neugierig um. Er war nicht gerade groß und voll mit Waren des täglichen Bedarfs, sowie einigen anderen Gegenständen, die sie noch nie gesehen hatte.

„Was möchten Sie denn haben?“

Die Frage riss Amber aus ihrer Betrachtung.

"Nun, ähm ..eigentlich wollte ich nicht direkt etwas kaufen", stotterte sie.

„Wie kann ich Ihnen dann weiterhelfen?“

„Ich suche einen jungen Mann. Er heißt Gideon und er hat mir erzählt, dass er hier bei Meister Gerloff arbeitet.“

„Mmh.., Herrn Gerloff haben Sie schon gefunden. Den Meister können Sie ruhig weglassen.“, antwortete der alte Mann freundlich.

„Und ich vermute Sie sind dann Amber. Gideon hat in den vergangenen Tagen viel von Ihnen erzählt.“

Amber hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend und sie bekam etwas Herzrasen.

„Ach ja. Was hat er denn so gesagt?“, versuchte sie möglichst beiläufig zu fragen.

Gerloff lächelte wissend.

„Oh, er schwärmte in den höchsten Tönen. Wie liebreizend Ihr wärt und seit gestern auch über Eure Hilfsbereitschaft.“

Bei diesen Worten musste sie wieder an den Unfall denken. In diesem Augenblick ging die Ladentür auf und Gideon trat ein. Seine blonden Haare hingen ihm in die Stirn. Als er aufblickte und Amber im Laden stehen sah, fingen seine Augen vor Freude an zu funkeln. Wie er so vor ihr stand, mit seinen nassen Haaren, von denen sich langsam die Wassertropfen lösten, hätte sie ihn am liebsten umarmt.

Stattdessen sagte sie einfach nur: „Hallo!“

„Hallo Amber“, antwortete Gideon: „Du kommst wohl, um Dich nach Peter zu erkundigen.“

Bei diesen Worten verfinsterte sich sein Gesicht. „Leider hatte Dein Freund recht.“, fuhr Gideon fort. „Ich komme gerade von ihm. Er ist gestorben.“

Amber wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

Es herrschte eine betretende Stille, bis sie endlich durch Meister Gerloff durchbrochen wurde.

„Du musst doch müde sein Gideon. Komm setz Dich erst mal.“

Amber und Gideon setzten sich an einen kleinen Tisch der im Laden stand, während Gerloff im hinteren Raum verschwand. Nach ein paar Minuten kam er mit drei Bechern und einer Kanne heißem Tee zurück. Amber war froh, dass sie sich jetzt auf den Tee konzentrieren konnte und nicht gezwungen war, sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Nach einer Weile stand sie auf und verabschiedete sich. Gideon umarmte sie noch und Amber merkte, wie gut ihr das tat.

Der Regen hatte inzwischen aufgehört und die Sonne kam hinter den Wolken vor. Amber ging langsam über die Wege der Waldstadt bis sie zu der Plattform kam, auf der sie das erste Mal Gideon getroffen hatte. Sie setzte sich einfach auf den Boden, ließ ihre Beine herunter baumeln und schaute in den Wald. In Gedanken sah sie immer wieder Gideon vor sich stehen, mit seinen nassen Haaren und durchweichten Kleidern. Wenn sie an seine Umarmung zum Abschied dachte, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Irgendwie wusste sie nicht, was sie wirklich für ihn empfand.

Erst als es wieder anfing zu regnen und die Nässe sich langsam einen Weg in ihre Kleidung suchte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Sie schaute auf, aber von ihrem Platz konnte sie den Himmel kaum sehen. Der Regen wurde immer stärker, daher entschloss sich Amber zurück zu Bertas Taverne zu gehen.

Die Waldstadt war bei diesem Wetter wie ausgestorben. Jeder schien sich in seiner Hütte oder Baumhöhle aufzuhalten und nicht herauszutrauen. Amber war dies ganz recht, so konnte sie noch etwas allein mit ihren Gedanken sein. Als sie dann endlich bei Berta ankam, war sie völlig durchnässt. Normalerweise würde sie sich ein paar trockene Sachen anziehen, allerdings störte sie die Nässe im derzeitigen Zustand nicht. Also entschloss sie sich in den Schankraum runter zu gehen.

Es war inzwischen fast Mittag. Trotzdem saßen nur eine Handvoll Leute an den Tischen. Amber schaute sich unschlüssig um, entschied sich dann aber zu Berta an die Bar zu gehen.

„Was ist denn mit Dir passiert“, begrüßte Berta sie.

„Wie? Was? Ach so, Du meinst weil ich etwas feucht geworden bin.“, antwortete Amber.

„Alles klar!“, dabei schaute Berta demonstrativ auf die Pfütze, die sich zu Ambers Füßen gebildet hatte. „Was ist mit Dir denn nun wirklich los? Du bist so nachdenklich.“

Amber zögerte etwas mit ihrer Antwort: „Ich weiß auch nicht so recht. Es ist nur .. alles so seltsam. Vor ein paar Wochen war ich noch in meinem Dorf und nun das hier.“

„Was meinst Du denn damit? Wo warst Du denn überhaupt heute?“, fragte Berta.

„Ich war bei Meister Gerloff und Gideon und wollte mich nach dem Zustand von diesem Peter erkundigen. Du weißt doch, der Mann, der gestern verunglückt ist.“

„Und wie geht es ihm?“, fragte Berta weiter.

„Er ist tot.“

„Das macht Dir also zu schaffen. Solche Unglücke passieren immer mal wieder. Darüber solltest Du nicht weiter nachdenken. Es ist jetzt sowieso nicht mehr zu ändern.“

„Nein, das ist es nicht. Es ist etwas anderes. Sag mal Berta, kennst Du Gideon, den Gehilfen von Meister Gerloff? Was hältst Du von ihm?“, wollte Amber wissen.

Berta fing an zu lächeln: „Also daher weht der Wind. Du scheinst Dich in den Jungen verliebt zu haben.“

„Nein! Er interessiert mich nur. Er ist so ganz anders als die Anderen hier. So nett, lächelt immer und hat für jeden ein paar freundliche Worte.“, entrüstete sich Amber.

Aber ganz sicher war sie sich nicht, dass vielleicht doch ein bisschen Wahrheit in der Vermutung von Berta steckte. War sie vielleicht gerade auf dem Weg sich in Gideon zu verlieben?

„Du hast mir immer noch nicht auf meine Frage geantwortet.“, setzte sie erneut an.

Bertas Lächeln verbreiterte sich etwas: „Eigentlich weiß ich nicht allzu viel von dem Knaben. Als Gerloff vor einem viertel Jahr von einem seiner Reisen wiederkam, hatte er den Jungen dabei. Er erzählte mir, dass er Ihn unterwegs getroffen hatte. Da er gerade etwas Hilfe benötigte, und sich Gideon wohl nicht dumm anstellte, hat er ihn gleich als Gehilfen eingestellt. Ansonsten kann ich nicht viel zu ihm sagen. Er ist wirklich etwas anders als die Anderen hier. Die meisten Leute kommen in meine Schänke um sich die Zeit zu vertreiben und auch mal ordentlich einen zu Trinken. Gideon war höchsten 2-mal hier und hat dann auch nicht einmal ein Glas Alkohol angerührt. Fast alle scheinen ihn zu mögen, was aber nicht unbedingt für Kerwin gilt.“

„Meinst Du Kerwin könnte mir verbieten ihn wiederzusehen?“, fragte Amber unsicher.

„Nein so schlimm ist es glaube ich nicht. Es ist nur, bei dem Gespräch heute Morgen mit ihm hat Kerwin so etwas fallen lassen wie unausgereifter Idiot. Kurzum er scheint nicht viel von ihm zu halten.“

Amber machte die Aussage wütend. Wie konnte Kerwin sich so eine Meinung bilden. Nur weil er mit dem Verletzten recht hatte? Gideon war eben nicht so herzlos wie er.

„Und Du, was hältst Du von ihm“, fragte Amber weiter.

„Ich kenne ihn zu wenig, um mir eine Meinung zu bilden“, antwortete Berta: „aber das ist auch völlig egal. Entscheidend ist doch was Du denkst!“

Mit diesen Worten ließ Berta sie allein und wandte sich den gerade neu eingetroffenen Gästen zu. An diesem Tag hat Amber noch lange über alles nachgedacht, ohne aber ihre Gefühle ordnen zu können.


In den darauffolgenden Wochen kümmerte Amber sich intensiv um ihr Training. In dieser Zeit traf sie sich noch häufiger mit Gideon, der für sie zu einem echten Freund wurde. Mit ihm konnte sie über alles sprechen, denn er hatte für all ihre kleinen Sorgen immer Verständnis. Die Waldstadt wurde langsam zu ihrem neuen Zuhause, in dem sie inzwischen fast alle Einwohner kannte. Amber dachte immer seltener an ihr kleines Dorf und ihren Vater zurück und hatte inzwischen auch kaum noch Heimweh.

Eines sonnigen Tages, als Amber und Kerwin von ihrem täglichen Training zurückkehrten, merkte sie sofort, dass irgendetwas Besonderes passiert war. Die Menschen benahmen sich nicht wie sonst, sondern standen häufig zu mehreren zusammen und unterhielten sich. Amber hätte am liebsten jemanden gefragt, was denn los sei, aber Kerwin schien es ziemlich eilig zu haben. Daher folgte Amber Kerwin, der geradewegs zu Bertas Schänke lief.

Dort angekommen, wollte er direkt zu Berta nach unten gehen, blieb dann aber oben an der Reling stehen, als er die Fremden bei Berta entdeckte. Amber schien es, als ob Kerwin die Leute kannte und nicht gerade erfreut war, sie hier zu sehen. Sie stellte sich neben Kerwin an die Reling, um besser nach unten schauen zu können. Es waren 4 Personen zu sehen, die bei Berta standen und sich mit Ihr unterhielten. Berta war wie immer auffallend gekleidet. Heute hatte sie einen feuerrotes Kleid an, das mit beißend grünen Streifen durchzogen war. Es sah einfach lächerlich aus, aber Amber hatte in den paar Wochen, die sie hier schon verweilte, noch nie erlebt, dass Berta nicht lächerlich aussah. Trotzdem mochte Amber sie wirklich gerne. Sie sah in ihr so etwas wie eine Ersatzmutter, zumindest stellte sich Amber immer vor, ihre Mutter wäre auch so fürsorglich gewesen, hätte Amber sie jemals erlebt. Die anderen Personen waren allerdings fast ebenso auffällig gekleidet. Sie hatten Kleidung an, die aussah, als ob sie aus hunderten kleinen einzelnen Stofffetzen zusammengenäht waren und jeder Stofffetzen hatte scheinbar eine andere Farbe.

„Was sind das für Leute?“, fragte sie Kerwin.

„Das sind Gaukler und Spielmänner“, antwortete er und als Amber ihn fragend ansah, fuhr er fort: „Ich frage mich nur, warum sie gerade in dieses abgelegenes Nest kommen?“

Langsam gingen die beiden nach unten. Nachdem sie die Gruppe erreicht hatten, war zu erkennen, dass sich drei Männer und eine Frau mit Berta unterhielten. Als die beiden Neuankömmlinge bemerkt wurden, verstummte das Gespräch abrupt und alle wandten sich ihnen zu. Amber hatte eine gute Gelegenheit sich die Personen genauer anzusehen. Links stand ein sehr großer und massiger Mann mit dunklen kurzen Haaren, Amber schätzte ihn auf mindestens 42cm. Er war wie die ganze Gruppe in diesen Flickenteppich gekleidet. Rechts neben ihm stand eine Frau die im Vergleich richtig klein aussah. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht, lange schwarze Haare und große dunkle Augen. Am auffälligsten war aber der Mann direkt neben Berta. Er war von durchschnittlicher Größe, hatte aber seinen Kopf völlig kahl rasiert und vom linken Auge führte eine Narbe bis zu seinem Mund. Dieser wurde so verzogen, dass der Eindruck entstand, als ob er permanent schief grinsen würde. Im Gegensatz zu den anderen drei, wirkte der vierte Fremde richtig unscheinbar. Amber hätte ihn glatt übersehen können, wenn nicht dieser verächtliche, stechende Blick auf Kerwin geruht hätte.

„Kerwin, Du hier“, presste er hervor. „Der Irre ist also wieder aus seinem Rattennest hervorgekrochen. Keine Angst hier ganz alleine? Aber ich sehe ja, Du hast eine Beschützerin dabei!“, dabei blickte er abschätzend auf Amber.

„Wir können ja mal ausprobieren, wer den größeren Mut hat Farald“, antwortete Kerwin leise.

Amber bemerkte, dass Kerwin bei diesen Worten seine rechte Hand an den Schwertgriff legte und seine Körperhaltung sich leicht veränderte. Ein Blick zu Farald zeigte ihr, dass er es wohl auch bemerkt hatte, denn er macht unwillkürlich einen Schritt zurück und sein Gesicht verlor an Farbe.

In diesem Moment schob sich der massige Körper von Berta zwischen die beiden Männer: „Ich dulde keinen Streit in meinem Haus! Hier drin benehmt ihr Euch gefälligst oder ich schmeiße Euch alle raus!“

Es war bei allen Beteiligten Erleichterung zu spüren, die Spannung die kurz vorher noch in der Luft lag verblasste.

„Wir gehen jetzt alle zur Bar und ich spendiere eine Runde auf Kosten des Hauses und Ihr vertragt Euch wieder.“, mit diesen Worten machte sich Berta auf den Weg.

Amber wollte Berta schon folgen, als sie bemerkte dass Kerwin stehenblieb.

Sie blickte ihn unschlüssig an.

„Willst Du nicht mitkommen?“

„Nein“, kam die knappe Antwort.

Dann setzte er sich in Richtung eines Tisches in der Ecke in Bewegung. Widerwillig folgte Amber ihm. Kerwin setzte sich so hin, dass er den Raum gut überblicken konnte. Schweigend saßen sie beisammen, wobei Kerwin die Gaukler nicht aus den Augen ließ.

Nach einer geraumen Weile betrat eine hochgewachsene Frau mit langen blonden Haaren die Schenke. Sie gehörte offensichtlich zu der kleinen Gruppe, denn sie hatte die gleiche seltsame Kleidung an und gesellte sich zu dem Rest. Es schien so, als ob sie sich über Kerwin und Amber unterhielten. Jedenfalls warfen sie häufig Blicke in ihre Richtung. Plötzlich nahm sich die neuangekommene Frau einen Krug und mehrere Becher, dann schlenderte sie zu ihnen herüber.

„Kerwin, schon lange nicht mehr gesehen.“, mit diesen Worten setzte sie sich einfach zu ihnen, stellte die Becher auf den Tisch und goss erst mal den Wein ein.

„Auf unser Widersehen!“, prostete sie Kerwin zu. „Und auf neue Bekanntschaften“, fügte sie mit einem Blick auf Amber hinzu.

Nachdem alle den ersten Becher geleert hatten, fragte Kerwin: „Gwen, Du bist also immer noch mit der Truppe unterwegs, wie kannst Du es bei denen nur aushalten?“

„Ach, sie hassen ja schließlich Dich nicht mich.“, erwiderte Gwen gutgelaunt.

„Wenn ich es mir recht überlege, hasst Dich nur Farald. Der Rest mag Dich nur nicht. Und er hat schließlich einen guten Grund dafür, wie Du weißt.“

„Ich habe getan, was in meiner Macht stand.“, antwortete Kerwin.

„Wenn einer was hätte ändern können, dann Du. Die anderen sind keine Kämpfer, so wie Du einer bist und schließlich hast Du sie auch angeschleppt“, dabei schaute Gwen ihn durchdringend an.

„Ich war wohl etwas verblendet und wusste nicht was sie war. Und nein, ich konnte nichts mehr ändern. Das einzige was ich tun konnte, habe ich auch getan.“

„Ich weiß was Du getan hast.“, antwortete Gwen.

„Vielleicht hast Du ja Recht, vielleicht hättest Du ihn nicht retten können, aber Du hast es nicht einmal versucht!“

Amber, die die Unterhaltung zwangsläufig mit anhören musste, spürte wie stark Kerwin durch die Worte getroffen wurde. Man konnte ihm zwar nicht direkt etwas ansehen, aber sie war sich trotzdem sicher. Als Kerwin zu dem Weinbecher griff, meinte sie sogar ein leichtes Zittern der linken Hand zu bemerken.

„Kerwin, Du hast mir noch nicht Deine süße Begleiterin vorgestellt.“, wechselte Gwen abrupt das unangenehme Thema und schaute Amber an.

„Hallo ich heiße Gwen, wie Du wahrscheinlich schon mitbekommen hast. Kerwin und ich kennen uns noch aus alten Zeiten. Und wie kommst Du in die Gesellschaft von diesem Kerl?“

Amber war etwas erschrocken, als sie so plötzlich angesprochen wurde.

„Mein Name ist Amber und mein Vater hat mich ihm mitgegeben.“, stotterte sie schließlich. Die Antwort verblüffte Gwen total.

Entgeistert wandte sie sich an Kerwin: „Wie soll ich denn das verstehen? Ist sie Deine Dienerin oder so was?“

„Nein, Owen ihr Vater war schwer krank und daher hat er mir Amber anvertraut.“

Amber bemerkte, dass Kerwin wieder in der Vergangenheit von ihrem Vater sprach. Die weitere Unterhaltung bekam sie gar nicht mehr richtig mit. Sie grübelte nur darüber nach, wie es ihrem Vater wohl ging und ob er überhaupt noch lebte. Dabei überkam Amber so großes Heimweh, dass sie am liebsten laut los geheult hätte. Aber sie wollte sich hier keine Blöße geben und nahm sich vor, Kerwin bei nächster Gelegenheit nach ihrem Vater zu fragen.


Am darauffolgenden Morgen erfuhr sie beim Frühstück von Berta, dass es noch am selben Abend eine große Vorstellung geben sollte.

„Da zu solch seltenen Anlässen fast alle Bewohner der Waldstadt kommen, brauche ich noch Aushilfen. Wenn Du möchtest, kannst Du mir helfen. Ich werde Dich natürlich auch dafür bezahlen.“, fragend blickte Berta Amber an.

„Ich weiß nicht was Kerwin dazu sagt.“, antwortete Amber zögerlich.

„Mit dem habe ich schon gesprochen. Er hat nichts dagegen. Allerdings liegt die Entscheidung bei Dir.“

Als Amber nicht gleich antwortete, fügte Berta mit einem Augenzwinkern hinzu: „Gideon wird auch hier sein und mit anpacken.“

Ambers Herz tat einen Sprung und mit einem Lächeln antwortete sie: „Wenn das so ist, bin ich gerne bereit Dir zu helfen.“

Gleich am Vormittag ging die Arbeit los. Es war viel zu tun. Bier- und Weinfässer wurden herangerollt, massenhaft Fleisch und andere Essenssachen wurden geholt und schon mal zubereitet. Außerdem musste eine kleine Bühne aufgebaut werden.

Amber kam leider nicht dazu sich mit Gideon zu unterhalten. Sie konnte nur ab und zu einen Blick auf ihn erhaschen, wie er an der Bühne arbeitete. Auch bei der allgemeinen Mittagspause hatte sie nur die Gelegenheit ein paar belanglose Worte mit ihm zu wechseln. Ihre eigene Arbeit ließ ihr kaum Zeit mal eine kleine Ruhepause einzulegen. Sie machte zwar nur Handlangerarbeiten, aber davon gab es eine Menge.

Gerade kam sie mit einer Kiste voller abgewaschener Becher an die Bar und wollte sie in die Regale einsortieren, als sie angesprochen wurde.

„Amber, kannst Du bitte den Spielmännern etwas zu trinken bringen?“, mit diesen Worten drückte Berta Amber ein Tablett mit einem großen Krug und fünf Bechern in die Hand. „Du findest sie oben im ersten Zimmer.“

Amber nahm das Tablett entgegen und machte sich auf den Weg nach oben. Es war schon später Nachmittag und der anstrengende Tag machte sich bei ihr bemerkbar. Es fiel ihr sichtlich schwerer als sonst die Treppen zu erklimmen. Zudem musste sie noch aufpassen nichts zu verschütten. Als sie am Eingang vorbeikam, warf sie noch einen Blick nach unten. Die Vorbereitungen waren praktisch abgeschlossen, es sollten jetzt auch bald die ersten Gäste kommen. Mit einem kleinen Seufzer machte sie sich weiter auf dem Weg zu den Gauklern und Spielmännern.

An der Tür angekommen, wollte sie gerade anklopfen, da vernahm sie eine laute Stimme von Innen.

„Du weißt was ich von ihm halte und Du willst ihn trotzdem bitten uns zu begleiten?“

Der Ton ließ darauf schließen, dass der Sprecher wirklich wütend war.

„Sei kein Dummkopf Farald. Die Gegend hier ist in letzter Zeit ziemlich gefährlich. Er soll uns nur bis zur nächsten Stadt begleiten.“

Amber war sich nicht ganz sicher, aber meinte, die Antwort käme von Gwen.

„Und Du glaubst, dass er uns beschützen könnte. Das ich nicht lache.“

„Kennst Du jemanden, der das besser könnte? Kannst Du es etwa?“, kam die Antwort von Gwen. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Du bist es doch, der immer behauptet Kerwin sei der Dunkle Schatten. Wer könnte also besser geeignet sein?“

„Ja, hinterrücks andere Leute ermorden, das traue ich ihm zu. Aber für einen Kampf von Angesicht zu Angesicht ist er zu feige!“, erwiderte Farald lauthals.

„Du weißt, dass das nicht stimmt!“

Jetzt war auch Gwens Stimme deutlich anzuhören, dass sie ebenfalls wütend wurde.

„Ach, scheiß drauf!“, mit diesem Ausruf riss Farald die Tür auf und hätte Amber fast umgerannt.

„Oh, wir haben hier eine kleine Spionin! Na, hat Dich Kerwin geschickt? Hast Du auch alles genau mitbekommen oder sollen wir unsere Unterhaltung für Dich wiederholen?“, wandte er sich an Amber.

Sie wusste nicht wie sie darauf reagieren sollte und merkte wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

Bevor sie aber irgendetwas sagen konnte, schritt Gwen ein: „Jetzt reicht es aber! Halt gefälligst Deine Klappe, du siehst doch, dass sie uns nur eine Erfrischung bringt.“

Und mit einem freundlicheren Ton lud sie Amber ins Zimmer ein. Der Raum war etwa doppelt so groß wie ihr eigener. Allerdings wurde er fast vollständig von den 3 Doppelstockbetten ausgefüllt.

Amber stellte das Tablett auf den einzigen kleinen Tisch ab und wollte schon wieder den Raum verlassen als Gwen sie ansprach: „Warte, nicht so schnell. Setz Dich und leiste uns noch etwas Gesellschaft.“

Amber schaute sich um, und entschied sich dann, wie die anderen Anwesenden, auf einem Bett Platz zu nehmen.

„Ich möchte mich für Farald entschuldigen. Die Begegnung mit Kerwin hat ihn etwas aus der Bahn geworfen.“, begann Gwen das Gespräch.

„Aber jetzt sollte ich Dir erst mal die anderen Mitglieder unserer kleinen Gruppe vorstellen. Die Schönheit hier ist Muriel. Sie ist eine fantastische Sängerin.“, dabei zeigte sie auf die schwarzhaarige Frau die Amber gegenüber saß.

Muriel war eine Frau mit ebenmäßigen Gesichtszügen und dunklen Augen. Amber musste zugeben, dass sie wirklich eine Schönheit war, auf die man neidisch werden könnte.

„Neben ihr sitzt unser Alleskönner Calvin. Er kann bald mehr Instrumente spielen, als es Bäume in diesem Wald gibt.“, fuhr Gwen fort.

Amber blickte Calvin an. Es war der Mann der ihr schon gestern wegen der langen Narbe im Gesicht aufgefallen war.

„Und zum Schluss noch Brent. Er spielt Trommel und ist unser Mann fürs Grobe“, dabei zeigte sie auf den Hünen, der auf dem Bett nebenan saß, oder vielmehr sich wegen seiner Größe dort hingequetscht hatte.

Alle schauten auf Amber und ihr wurde bewusst, dass sie sich jetzt wohl vorstellen sollte. Mit der Zunge benetzte sie ihre trockenen Lippen.

„Mein Name ist Amber“, fing sie an und kam dann ins Stocken.

Was sollte sie schon über sich selber sagen. Sie hatte einfach keine Talente, mit denen sie diese Truppe beeindrucken konnte.

Nach kurzem Zögern fügte sie einfach hinzu: „Ich bin mit Kerwin hier.“

Gwen und die anderen schauten sie weiter an.

Als aber nach einer ganzen Weile keine weitere Äußerung kam, unterbrach Gwen endlich die Stille: „Ich freue mich Dich kennenzulernen. Wir alle kennen Kerwin von früher. Er ist ein alter Freund. Deshalb interessiert uns natürlich was er oder seine Begleiterin jetzt machen.“

„Gestern sah es aber nicht so aus, als ob er ein Freund von Euch ist.“, erwiderte Amber skeptisch.

„Du hast Recht. Es ist nicht mehr so wie in alten Zeiten.“, begann Gwen eine Erklärung.

„Du solltest wissen, dass er mal zu unserer Truppe gehört hatte. Bis zu jenem …Unglück.“

„Was ist denn passiert?“, fragte Amber neugierig nach.

„Die ganze Geschichte sollte Dir lieber Kerwin erzählen. Nur so viel, damals starb Faralds Bruder und Kerwin war indirekt schuld daran. Farald konnte ihm das nicht verzeihen, bis heute nicht. Kerwin hatte daraufhin unsere Truppe verlassen. Wir haben ihn nur sehr selten wieder getroffen und es war immer für alle unerfreulich.“

Gwen machte eine Pause währenddessen sie die Becher füllte und an alle verteilte.

„Ich bin der Meinung, dass es langsam Zeit wird den alten Groll zu begraben und wieder normal miteinander umzugehen. Die Gelegenheit dazu ist jedenfalls günstig. Die Gegend ist im Augenblick sehr unsicher und keiner von uns kann sich sonderlich gut verteidigen.“, dabei schaute sie nachdenklich zu dem Hünen hinüber.

„Außer Brent vielleicht. Aber auch er ist kein Vergleich zu Kerwin.“, ihr Blick richtete sich wieder auf Amber.

„Und da kommen wir auch schon auf den Grund, warum ich mit Dir sprechen wollte. Ich möchte ihn bitten uns bis zur nächsten Stadt Begleitschutz zu geben und bin mir nicht sicher, wie er auf mein Ansinnen reagiert. Wir würden ihn zwar bezahlen, aber die ... Feindschaft mit Farald wiegt schwer. Wahrscheinlich wird er uns erst gar nicht anhören.“

„Und was kann ich dabei tun?“, fragte Amber etwas verwirrt.

„Nun, ich möchte Dich bitten für uns ein gutes Wort einzulegen und ihm diese Botschaft zu übergeben.“, mit diesen Worten überreichte sie Amber ein zusammengerolltes Stück Papier.

Zögerlich griff Amber die hingehaltene Rolle.

„Bitte sage ihm auch. Gwen verbürgt sich dafür, dass es keinerlei Anfeindungen oder Übergriffe von einem unserer Truppe geben wird. Auch nicht von Farald.“

Beim Verlassen des Raumes, fragte Amber sich, was wohl die Zukunft bringen wird. Irgendwie hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass gerade etwas Entscheidendes passierte. Mit der Botschaft in der Hand machte sie sich auf die Suche nach Kerwin. Sie fand ihn am Ausgang, wie er scheinbar gedankenverloren in den Wald schaute. Langsam ging sie auf ihn zu.

„Hallo Amber, ist die Arbeit endlich abgeschlossen?“

Amber wunderte sich, wie er sie bemerkt hatte, schließlich stand er mit dem Rücken zu ihr.

„Ich glaube, es ist fast alles fertig.“, antwortete sie und fügte hinzu: „Ich habe hier eine Botschaft für Dich.“

Kerwin drehte sich zu ihr um und nahm das dargereichte Papier mit einem fragenden Gesichtsausdruck entgegen. Als er die Augen wieder von der Nachricht abwandte und Amber anschaute, wiederholte sie noch mal Gwens letzte Worte. Nachdenklich stand Kerwin da und Amber versuchte aus seinem Gesichtsausdruck zu lesen, wie er zu Gwens Ansinnen stand. Sie konnte aber beim besten Willen keine Reaktion erkennen.

Schließlich fragte er Amber: „Was meinst Du dazu?“

Überrascht überhaupt gefragt zu werden, antwortete Amber zögerlich: „Ich glaube Gwen meint es ernst. Sie will sich mit Dir wieder versöhnen.“

„Ja, …Gwen war schon immer auf Harmonie bedacht und das Geld können wir gut gebrauchen. Ich glaube ich sollte zumindest mal mit ihr reden.“

Abschätzend fügte er hinzu: „Aber was sollte ich dann mit Dir machen? Bist Du solch einer Anstrengung schon gewachsen oder wärst Du nur hinderlich?“

Bei diesen Worten kochte Amber innerlich vor Wut. Was glaubt er von mir, dass ich nur ein großer Trottel und Tollpatsch bin?

„Nimm mich mit und Du wirst sehen, dass ich eine Hilfe bin und keine Bürde.“, sagte sie aufgebracht.

Dann wandte sie sich ab und rannte, ohne sich noch mal umzudrehen, zurück in die Taverne. Deshalb bemerkte sie auch nicht, wie Kerwin ihr hinterherschaute und lächelte.

Amber war immer noch sauer auf Kerwin, als sie Berta im Schankraum über den Weg lief. „Was ist denn mit Dir? Du siehst ja nicht gerade glücklich aus.“, begrüßte sie Berta besorgt.

„Ach es ist nicht so wichtig. Es ist nur, Kerwin behandelt mich immer wie ein kleines Mädchen. Dabei bin ich schon 17.“, kam die etwas ungehaltene Antwort von Amber.

Das darauffolgende Lächeln von Berta machte Amber nur noch wütender.

„Was hat er denn gemacht?“

„Ach, Du nimmst mich ja auch nicht ernst.“, mit diesen Worten wendete sie sich zum Gehen.

„Amber, ich wollte Dir noch für Deine Hilfe Danken und Dir einen schönen Abend wünschen. Der Beste Platz die Show zu sehen, ist übrigens von der Treppe.“, rief ihr Berta hinterher.


Am Abend war Bertas Taverne völlig überfüllt. Es schien so, als ob wirklich jeder im Walddorf hierhergekommen war. Amber hatte sich, wie Berta vorgeschlagen hatte, einen Platz auf der Treppe gesucht. Von hier hatte sie einen hervorragenden Blick in den Schankraum und auf die aufgestellte Bühne. Sie fieberte schon dem Auftritt der Spielmänner entgegen. Bisher hatte sie so etwas noch nie miterlebt. In ihrem kleinen Heimatdorf kam niemals eine Truppe Gaukler oder Spielleute vorbei. Wahrscheinlich war das Dorf einfach zu klein. Neugierig beobachtete sie das Treiben dort unten.

„Hallo Amber! Ich habe Dir etwas zu trinken mitgebracht.“, sprach sie plötzlich Gideon an.

Überrascht schaute Amber zur Seite. An Gideon hatte sie bei der ganzen Aufregung gar nicht mehr gedacht. Mit einer leichten Verbeugung und einem Lächeln überreichte er ihr einen Becher mit Wein.

„Wie kommt es, dass so ein hübsches Mädchen ganz alleine ist. Darf ich mich zu Dir gesellen?“

Die Art von Gideon machte Amber wieder einmal verlegen. Sie merkte wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Zum Glück kamen gerade in diesem Augenblick die Spielleute auf die Bühne.

„Es scheint los zu gehen.“, Gideon setzte sich neben Amber.

Die Vorstellung war grandios. Amber hatte das Gefühl von der Musik in eine andere Welt getragen zu werden. Sie wusste, dieses Erlebnis würde sie ihr ganzes Leben in Erinnerung behalten. Nach etwa 2 Stunden hörte die Musik mit sehr sanften Klängen auf. Nur langsam wurde sich Amber wieder ihrer Umgebung bewusst. Erst jetzt merkte sie, dass sie nicht mehr einfach neben Gideon saß, sondern schon mehr in seinen Armen lag. Gideon hatte einen Arm um sie gelegt und Amber hatte sich scheinbar unbewusst an seine Schulter geschmiegt. Es war eine kurze Zeit ganz still, bis plötzlich ein ohrenbetäubender Applaus einsetzte, der minutenlang anhielt.

Als der Lautstärkepegel auf ein Niveau gesunken war, bei dem eine Unterhaltung wieder möglich erschien, beugte sich Gideon zu ihr rüber und flüsterte ihr ins Ohr: „Es ist ziemlich stickig hier. Willst Du nicht mit mir nach draußen kommen, frische Luft schnappen?“

Dabei strich er Amber mit der linken Hand sachte über ihren Arm. Alleine diese Berührung ließ sie erschaudern. Sie blickte ihn an und nickte nur.

Es war eine laue Sommernacht. Durch das Blätterdach leuchteten die Sterne und lieferten ein diffuses Licht. Amber lehnte an der Brüstung des Weges und blickte glücklich nach oben.

„Es ist einfach ein wundervoller Abend. Die Musik, die Vorstellung einfach alles!“, sagte sie leise zu Gideon und noch leiser fügte sie hinzu: „Und Du bist bei mir.“

Amber hoffte inständig, dass Gideon jetzt nicht loslachen würde. Aber stattdessen nahm Gideon sie sacht bei den Schultern, drehte sie zu sich um und küsste sie sanft auf den Mund. Amber meinte, sie müsste schmelzen und ihre Beine würden gleich nachgeben.

Nachdem sie sich voneinander lösten, erwiderte Gideon: „Ich bin auch froh bei Dir zu sein.“

Es entstand eine Stille, die Amber langsam peinlich wurde. Verzweifelt suchte sie nach einer passenden Erwiderung oder zumindest einem unverfänglichen Gesprächsstoff. Das Einzige was ihr aber im Moment in den Sinn kam, war das belauschte Gespräch von Farald und Gwen.

Und weil ihr einfach nichts anderes einfiel und für sie dieser Moment immer peinlicher wurde, fragte sie schließlich: „Du Gideon, darf ich Dir eine Frage stellen?“

„Aber sicher Amber, Du kannst mich alles fragen.“

„Was bedeutet Dunkler Schatten?“

Die Antwort von Gideon ließ auf sich warten und Amber biss sich auf die Lippen. Mit dieser dummen Frage hatte sie die Magie des Augenblicks zerstört. Sie hätte sich selbst ohrfeigen können.

„Ich weiß nicht wovon Du sprichst. In welchen Zusammenhang hast Du es denn gehört?“, erwiderte er endlich.

„Es war seltsam. Jemand hatte behauptet Kerwin sei der Dunkle Schatten und ich weiß einfach nicht, was damit gemeint sein könnte.“

Amber schaute Gideon ins Gesicht, aber bei den Lichtverhältnissen konnte man sowieso nicht viel erkennen.

„Nein, ich weiß auch nicht was es bedeuten könnte.“, sagte Gideon endlich und fügte hinzu: „Ich glaube wir sollten wieder rein gehen. Die Vorstellung geht bestimmt schon weiter.“

Die Stimme von Gideon klang nicht mehr so sanft und freundlich wie noch einen Augenblick zuvor. Mit einem miserablen Gefühl folgte Amber ihrem Begleiter zurück in Bertas Taverne. Wie kann man sich nur so ungeschickt anstellen. Vielleicht hatte Kerwin ja Recht und ich bin wirklich noch ein tollpatschiges Kind dachte sie niedergeschlagen.


Abends spät, als Amber noch wach im Bett lag, an die Decke starrte und über den Tag nachdachte, überkam sie ein Gefühl der Hochstimmung aber gleichzeitig auch der Traurigkeit. Die Vorstellung der Spielleute war einfach fantastisch gewesen. Nur, nach dem missglückten Gespräch, ist Gideon auch bald gegangen. Die Verabschiedung fiel ziemlich steif aus und Amber hoffte nun, dass sie sich die anbahnende Beziehung mit Gideon nicht komplett vermasselt hatte. Er hatte sich wohl mehr nach dem Kuss erhofft als dieses dumme Gerede. Mit solch gemischten Gefühlen schlief sie schließlich ein.

Kleine Ewigkeit

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