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1.

Der Junge lachte. Unkontrolliert zuckte sein Körper hin und her. Seine mageren Gliedmaßen zitterten. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, keuchend sagte er:

„Alfred, bist du Robert? - Oder bist du Alfred?“

Ein erneuter Lachanfall unterbrach ihn und schüttelte ihn durcheinander.

Sein Gegenüber hielt sich die Ohren zu. Er wich auf der steinernen Bank bis zur Wand zurück. Sein Körper war verdreht, das Gesicht hielt er gegen die Mauer gepresst. Aber der Junge, der lachte, gab ihm keine Ruhe. Er rüttelte ihn an der Schulter und erklärte glucksend:

„Oder soll ich dich Robfred nennen? Oder vielleicht - Alfbert?“ Er fiel vor der Bank auf die Knie, sein Körper wand sich unter dem neuen Anfall. Er japste nach Luft, noch immer lachend, und presste die Hände in die Seiten. Abwechselnd lachte und stöhnte er, während ihm die Tränen über das dünne, mit Sommersprossen besäte Gesicht rannen.

Am Horizont war die Küste zu sehen, als Lisa und Peter in der Dämmerung an die Reling traten. Seit Wochen waren sie nun schon auf See, doch sie verloren das Land nie aus den Augen. Alle zwei, drei Tage lief das Schiff einen Hafen an, um Ladung und Passagiere abzugeben und neue an Bord zu nehmen. Es blieb nie länger als einen Tag an einem Ort, so dass wenig Zeit für Ausflüge aufs Land blieb.

Die beiden kümmerte das nicht. Sie waren glücklich, miteinander auf dem Schiff zu sein. Jeder Tag, den die Fahrt länger dauerte, war für sie ein Geschenk. In den Häfen verließen sie das Schiff selten. Es war ihnen vertraut geworden und bot ihnen Sicherheit. Sie wussten nicht, was sie an Land zu erwarten hatten. Solange sie fuhren, hatte ihr gerade begonnenes gemeinsames Leben einen festen Rahmen. Das Ende der Reise dagegen verhieß erneute Ungewissheit.

Nun aber lag dieses Ende nicht mehr fern. In den letzten Tagen hatte das Schiff keine Häfen mehr angelaufen, und der Steuermann, mit dem sie sich angefreundet hatten, erklärte ihnen, dass man jetzt direkten Kurs auf Delenden genommen hätte.

Das war eine Änderung der ursprünglich geplanten Route, denn auf ihrem Kurs lagen noch mehrere Küstenstädte, die der Frachter auf früheren Reisen regelmäßig angelaufen hatte. Doch nun herrschte in diesem Land der Krieg. Er tobte schon seit Monaten, und niemand ging noch freiwillig dorthin.

Delenden selber, so erzählte der Steuermann, sei bis jetzt noch eine Insel des Friedens inmitten des Krieges. Aber niemand könne sagen, wie lange dieser Zustand anhalten würde. Es wäre gut möglich, dass sie die letzten Flüchtlinge wären, die noch auf dem Seeweg nach Truland gelangten. Denn wenn Delenden als Zwischenstation ausfiele, wäre damit die letzte bestehende Route unterbrochen.

Die Erzählungen des Steuermanns warfen einen Schatten auf das Glück der beiden jungen Menschen. Wenn sie sich auch weiterhin an Bord des Schiffes in Sicherheit befanden, so stand nun doch ständig als drohender Begleiter das Land des Krieges am Horizont.

Leicht glitten die Finger über die Tasten des Klaviers. In dem hohen Raum klangen die Töne verhalten, füllten ihn mit einem unsichtbaren Muster. In ihrem Netz gefangen hielten sie die willenlos sich der Musik unterordnende Gestalt der Tänzerin.

Der zierliche, feenhafte Mädchenkörper schien den Boden kaum zu berühren. Traumhaft schwebend glitt sie an den Tönen entlang durch den Raum. Jetzt stand die Gestalt hoch aufgerichtet, der Kopf in tiefer Konzentration geneigt. Schneller, härter wurde der Klang der Töne. Ein Ruck ging durch den Körper. Dem Zwang der Musik folgend wand er sich in schwindelnden Bögen. Dann wurden die Töne leiser. Die Gestalt des Mädchens sank langsam mit gekreuzten Armen zu Boden.

Mitten in der Nacht wachte Peter auf. Er wagte sich nicht zu rühren, denn Lisas Kopf lag an seiner Schulter, und er wollte sie nicht wecken. Sein Blick wanderte durch die enge Kabine. Der Widerschein der bewegten See fiel durch das offene Bullauge an die Decke.

Lisa seufzte im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Peter richtete sich auf und sah hinaus auf das Meer. Das Licht des Mondes spiegelte sich auf der weiten Wasserfläche, wurde tausendfach gebrochen und bildete ein gleißendes Mosaik. Hinter diesem flimmernden Spiegel erstreckte sich die langgezogene dunkle Silhouette der Küste, fern und doch nah, immer gegenwärtig.

Peter wandte den Blick ab und legte sich wieder hin. Er glitt enger neben Lisa, bis ihre Köpfe dicht beieinander lagen. Dann schlief auch er wieder ein.

Er hockte in einer Ecke des langen Flures, gegenüber dem letzten Zimmer. Er hatte die Beine angezogen, das Kinn auf die Knie gestützt. Unverwandt ruhte sein Blick auf der Tür. Nichts regte sich, bewegungslos hing die abgestandene Luft in dem engen Gang.

Weiter unten ging eine Tür auf und ein Lichtstreifen fiel auf die Holzbohlen. Doch niemand erschien. Nach einer Weile schloss sich die Tür wieder. Es war wieder dunkel im Gang.

Doch nun regte sich etwas in dem gegenüber liegenden Zimmer. Jemand ging auf und ab, sprach halblaut. Ein leises Wispern antwortete ihm, ein girrendes, spitzes Lachen ertönte. Dann liefen bloße Füße patschend über den Boden, verstummten. Es wurde wieder still in dem Zimmer.

Er hatte die Hände geballt und rieb sie aneinander. Aber es war nur eine unbewusste Reaktion. Der Blick seiner Augen unter den buschigen schwarzen Brauen war stumpf, sein Gesicht unbewegt, fast schläfrig.

Nach einiger Zeit wurde es im Zimmer wieder lebendig. Die Tür ging auf und ein Mann trat heraus. Er nahm keine Notiz von dem Jungen, sondern schritt eilig den Gang hinunter.

Der Junge hatte sich halb aufgerichtet. Er sah ihm nach, als wäre er unschlüssig, ob er ihm folgen sollte oder nicht. Dann erschien ein Mädchen in der Tür und nickte ihm zu. Darauf hin fiel er zurück in seine vorherige Stellung. Sein Gesicht zeigte wieder den desinteressierten abwesenden Eindruck. Das Mädchen trat zurück ins Zimmer und schloss die Tür.

Das Schiff wiegte sich in der langen Dünung. Die Neigung des Decks geschickt ausnutzend schlug Lisa den Puck nach vorn. Er schlitterte im Bogen über die polierten Planken, zwischen zwei Markierungssteinen hindurch.

„Geschafft!“ jubelte Lisa und warf den Schläger übermütig in die Luft. „Ich habe dir ja gesagt, dass es geht!“

„Du arbeitest mit allen Mitteln“, knurrte Peter gespielt mürrisch. „Ich gebe auf. Hab ja doch keine Chance gegen dich.“

„Du Feigling“, neckte sie ihn spöttelnd.

Er sah sie mit einem finsteren Stirnrunzeln an:

„Feigling? Ich werde dir gleich zeigen, wer ein Feigling ist.“ Dann lachte er. „Aber erst einmal sollten wir unter Deck gehen. Dahinten kommt schon die nächste Regenfront.“

Scheppernd fielen die Scherben zu Boden. Augenblicklich erstarrten die dunklen Gestalten zur Bewegungslosigkeit. Die Sekunden verrannen, aber im Haus blieb es still. Es kam wieder Bewegung in die Gruppe.

Der Lange, der die Scheibe eingeschlagen hatte, drehte sich um und winkte einen der kleineren Schatten herbei. Er hob ihn hoch, durch das Fenster. Der kleine Schatten verschwand im Inneren des Hauses. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür neben dem Fenster. Sie quietschte leise in den Angeln, und der lange Schatten machte verärgert eine Handbewegung. Sofort blieb die Tür stehen. Durch den schmalen Spalt zwängte sich der Lange ins Innere. Die übrigen folgten vorsichtig.

Durch das Fenster und die halb geöffnete Tür fiel genügend Licht, um das Mobiliar des Raumes erkennen zu lassen.

„Menschenskinder, das ist ja toll“, flüsterte eine erregte Knabenstimme. Der Lange fuhr herum und hob die Hand. Es wurde wieder still. Die Kinder sahen sich andächtig um.

Sie befanden sich in der Küche des Hauses. Aber ihre Aufmerksamkeit galt einer zweiten Tür, die jetzt weit offen stand. Dahinter lag die Vorratskammer. Ihr Anblick hielt die Kinder gefangen, die seit Tagen nichts mehr gegessen hatten.

Aber noch traute sich keiner von ihnen vor. Sie warteten auf das Zeichen ihres Anführers. Der Lange sah sich nachdenklich um, dann wandte er sich an die schlanke Gestalt mit dem wuscheligen Haarschopf neben sich und zeigte auf die dritte Tür, die ins Innere des Hauses führte. Die Gestalt nickte und stellte sich neben die Tür. Sein Schatten verschmolz mit dem Dunkel der Wand hinter ihm.

Nun erhielten die übrigen freie Bahn. Sie stürzten sich in die Vorratskammer, rissen ihre Tragetaschen und Beutel auf, und stopften hinein, was sie erlangen konnten. Das alles ging schnell und fast ohne Geräusche. Keiner von ihnen aß dort in der Kammer.

Der Lange war ihnen als letzter gefolgt und beobachtete ihr Treiben.

Plötzlich trat ein Mann in die Küche. Aber er kam nicht aus dem Inneren des Hauses, sondern vom Hof her. Er stürzte in die Tür der Vorratskammer und versperrte sie mit seinem Körper. Wütend lachte er auf.

„Hab’ ich euch“, höhnte er, „ihr Tagediebe!“

Die jugendlichen Räuber schraken herum, starrten ihn entsetzt an. Der Kleinste von ihnen, ein Junge, fing an zu weinen. Der Lange aber sah an dem Mann vorbei.

Hinter dem erschien lautlos die schlanke Gestalt mit dem wirren Haarschopf. Sie hob beide Hände. Blitzschnell glitt eine Lederschlinge über den Kopf des Mannes und legte sich um seinen Hals.

Der Mann schrie erstickt auf. Seine Hände fuhren hoch und krampften sich in das Leder. Er taumelte zurück. Im gleichen Moment war die Horde über ihm, warf ihn zu Boden und trampelte über ihn hinweg.

Als der Mann endlich die Schlinge gelöst hatte und sich wieder aufrichtete, war die Küche leer.

„Dort“, sagte der Steuermann zu Peter und Lisa, „dort liegt Delenden.“

Die beiden folgten seinem ausgestreckten Arm mit den Blicken. Seit Stunden schon stampfte das Schiff einen breiten Strom hinauf, umgeben von flachem, fruchtbarem Land. Aber es war ein unbelebtes Land. Die Äcker lagen brach und auf den Weiden fand sich kein Vieh. Einmal hatten sie in der Ferne ein Dorf gesehen. Es war verlassen gewesen, ein Teil der Häuser abgebrannt oder zusammengestürzt.

Genau über die Bugspitze hinweg konnten sie im Dunst stecknadeldünne Türme erkennen. Eine dunkle Wolke hing über der Stadt.

„Das sieht nicht gut aus“, meinte der Steuermann. „Der Krieg ist auf dem Vormarsch. Bei unserer letzten Fahrt war das Dorf noch bewohnt gewesen. Nun wird wohl auch Delenden bald fallen.“

Der achtjährige Junge verstand nicht, warum die Wächter ihn von seiner Mutter fortnahmen. Er klammerte sich an sie, wollte sie fragen. Aber sie sprach nicht mehr zu ihm, seit Tagen hatte sie zu niemandem mehr gesprochen.

Er hatte Hunger, und sie hatte ihm nichts zu essen gegeben. Das verstand er nicht. Er sah in ihr Gesicht, aber ihre Augen blickten an ihm vorbei. Da bekam er plötzlich Angst vor seiner Mutter. Aber er wollte keine Angst haben. Sie hatte ihm immer wieder gesagt, er dürfte keine Angst haben.

Als der Wächter ihm unter die Arme fasste und hoch heben wollte, versteifte sich der Körper des Jungen. Er klammerte sich an der Mutter fest. Doch der Wächter riss ihn los. Zwei andere Wächter packten seine Mutter auf eine Trage, legten eine Decke über sie, zogen sie bis über den Kopf. Sie hoben die Trage hoch und wollten sie hinaus tragen.

Da begann der kleine Junge zu schreien. Sein zartes, mädchenhaftes Gesicht verzerrte sich. Er stieß, biss, spuckte und wand sich aus dem Griff des Wächters. Er trat um sich. Das feine aschblonde Haar flog um seinen Kopf. Er hing sich an die Tragbahre und versuchte sie zurück zu halten. Unwillig setzten die Träger ab und sahen ihn drohend an. Von hinten legte sich die Hand des Wächters auf seine Schulter.

Er bückte sich, schlüpfte unter dem Arm hindurch und rannte hinaus auf die Straße. Hinter sich hörte er die Rufe der Wächter, ihre genagelten Stiefel trommelten auf das Pflaster.

Die Mutter hatte gesagt, die Wächter wären an allem Schuld. Wenn es die Wächter nicht gäbe, hätten sie auch keinen Krieg und genug zu essen. Die Wächter waren die Bösen. Er wollte sich nicht von ihnen fangen lassen.

Er rannte die Straße entlang, huschte um die Ecken und drängte sich zwischen den Menschen hindurch. In einem dunklen Winkel verbarg er sich, und die Wächter rannten vorbei.

Peter schulterte den Rucksack, der noch immer ihr einziges Gepäckstück darstellte, dann schüttelte er dem Steuermann die Hand. Lisa stand bereits auf der Laufplanke, die zum Kai hinab führte. Beide warfen einen wehmütigen Blick zurück auf das Schiff, das ihnen ein lieb gewonnenes Heim geworden war.

Der Steuermann hatte ihnen den Weg zum Charterbüro erklärt. Dort sollten sie erfahren, welches Schiff sie weiter bringen konnte. Aber in dem Büro erwartete sie eine unangenehme Überraschung. Der Angestellte hörte sich ihre Wünsche an, ohne darauf einzugehen, nahm ihnen ihre bereits in Wiechenstadt erstandenen Tickets ab und stellte ihnen dafür eine Quittung aus. Auf Peters erstaunte Frage wies er ihn zur Kasse, wo er sich den Restbetrag auszahlen lassen könnte.

Das Geschehen bis dahin hatten Lisa und Peter verständnislos verfolgt. Nun verlangten sie wütend eine Erklärung. Der Angestellte sah sie nur erstaunt an und fragte nachsichtig, ob sie nicht wüssten, dass es keine Schiffsverbindung mit Truland mehr gäbe. Es müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass Trandaron dem Krieg zum Opfer gefallen wäre und als Zwischenstation ausfiele. Es gäbe nun einmal keine andere Möglichkeit, auf dem Seeweg nach Truland zu gelangen als eben durch die Meeresenge von Trandaron.

Fassungslos standen Peter und Lisa vor ihm. Ihre Bestürzung war so offensichtlich, dass das Gesicht des Beamten einen mitleidigen Ausdruck annahm. Er meinte, er könnte ihnen auch nicht empfehlen, hier in Delenden zu bleiben, denn die Soldaten des Reiches ständen bereits vor der Stadt. Seit Wochen schon dauerte die Belagerung an. Das Beste wäre es für sie, mit dem Schiff wieder zurück nach Wiechenstadt zu fahren.

Unwillkürlich schrie Lisa leise auf und klammerte sich an Peter. Der Beamte sah sie an und nickte verständnisvoll. Richtig, das käme für sie ja erst recht nicht in Frage. Er überlegte einen Moment, dann winkte er sie beiseite. In einer Ecke des Raumes flüsterte er ihnen zu, dass es noch eine Möglichkeit gäbe, nach Truland zu gelangen. Allerdings eine illegale und nicht ganz ungefährliche.

Natürlich griffen die beiden Flüchtlinge nach diesem Strohhalm und drangen in ihm fortzufahren. Daraufhin erzählte ihnen der Angestellte, dass es im Hafen Kapitäne gäbe, die gegen entsprechendes Entgelt bereit wären, Flüchtlinge nach Truland zu bringen. Das Gefährliche daran wäre das Passieren der Meeresenge von Trandaron, die die neuen trandaronischen Machthaber für jeden Flüchtlingsverkehr gesperrt hätten. Jeder Kapitän, der beim Transport von Flüchtlingen ertappt würde, landete unweigerlich im Gefängnis. Trotzdem fänden sich immer Waghalsige, deren Geldgier stärker war als die Angst. Er könnte ihnen einen dieser Männer vermitteln.

Peter und Lisa zögerten nicht, sahen sie hierin doch die einzige Möglichkeit, ihr Ziel zu erreichen. Sie boten dem Angestellten ihr gesamtes Geld an. Der meinte zwar, es wäre eigentlich nicht genug, aber da sie nun einmal nicht mehr besäßen, wollte er sein Glück versuchen. Er sagte ihnen, sie sollten sich am Mittag vor dem Büro mit ihm treffen. Dann wollte er mit ihnen hinunter zum Hafen gehen.

Die beiden ließen sich draußen in einem stillen Winkel neben dem Haus nieder. Keiner von ihnen hatte Lust, etwas zu unternehmen, bevor die Frage der Passage nach Truland geklärt war.

Vor ihnen lag die von unruhigem, quirligem Leben erfüllte Straße. In der Ferne ertönte dumpfes Grollen. Über den Hausdächern stieg eine dunkle Rauchwolke empor. Doch die Menschen um sie herum nahmen keine Notiz davon.

Peter und Lisa saßen dicht neben einander mit dem Rücken an der Hauswand. Den Rucksack hielt Peter zwischen den Beinen. Niemand kümmerte sie um sie. Plötzlich stieß Lisa Peter an und zeigte an der Hauswand entlang, wo einige Meter weiter eine Mülltonne stand.

Ein kleiner Junge mit langem blondem Haar hatte sich der Tonne genähert und ihren Deckel geöffnet. Er konnte nicht über den Rand sehen, aber seine Hände langten hinein und wühlten in den Abfällen. Von Zeit zu Zeit zogen sie einen Gegenstand heraus, den der Junge betrachtete. Doch jedes Mal warf er ihn enttäuscht zurück.

Mitleidig beobachtete Lisa ihn. Dann blickte sie Peter auffordernd an. Der nickte zustimmend, öffnete den Rucksack und holte ein Stück Brot und einen Apfel heraus. Lisa rief den Jungen an. Der wirbelte angstvoll herum, bereit zur sofortigen Flucht. Doch Lisa lächelte ihm freundlich zu und hielt ihm den Apfel entgegen.

Unentschlossen starrte der Junge sie an. Peter winkte ihm zu kommen. Noch zögerte der Junge, doch dann siegte der Hunger über das Misstrauen. Er kam heran, blieb außerhalb der Reichweite ihrer Arme stehen und streckte die Hand aus.

Lisa gab ihm den Apfel und das Stück Brot. Kaum hatte der Junge beides in seinen Händen, drehte er sich herum und rannte den Bürgersteig entlang, bis er um eine Hausecke verschwand. Traurig sah Lisa ihm nach. Doch ihre Aufmerksamkeit wurde auf den Angestellten des Charterbüros gelenkt, der aus der Tür getreten war und sich suchend umsah.

Hastig standen sie auf. Der Angestellte führte sie durch die Straßen hinunter zu einem abgelegenen Teil des Hafens. Hier erstreckte sich, direkt an die Kaianlagen anschließend, ein großer freier Platz: ein Fischmarkt, auf dem jetzt aber keine Waren angeboten wurden.

An den Kaimauern stießen sich dicht an dicht Fischkutter. Und mitten zwischen ihnen lag ein kleiner Frachtdampfer, baufällig und von wenig Vertrauen erweckendem Äußeren. Er hatte einen Liegeplatz direkt am Kai, den eine Reihe von bewaffneten Männern im Halbkreis abgeriegelt hielt.

Der Mann aus dem Charterbüro bemerkte ihr Erstaunen und erklärte, dass es sich trotz aller Verschwiegenheit offenbar doch herum gesprochen hätte, wohin das Schiff fahren wollte. Es gäbe viele Interessenten. Und wenn sich die Leute erst einmal an Bord befänden, wäre es schwierig, sie unter den zahlenden Passagieren heraus zu finden und zu entfernen.

Was er mit diesen Worten tatsächlich meinte, wurde den beiden erst klar, als sie, geleitet von dem Angestellten, an Bord des alten Schiffes gingen. Es war nämlich schon jetzt bis an die Grenzen seines Fassungsvermögens mit Menschen angefüllt, die es sich in allen Ecken und Winkeln eingerichtet hatten, auf dem Deck lagerten und die Laderäume besetzt hielten.

Der Angestellte führte sie zum Kapitän. Als Peter das Geld hervorholte, wurde man schnell handelseinig. Der Kapitän und der Angestellte teilten sich die Summe, dann verabschiedete sich der Mann aus dem Charterbüro und der Kapitän führte sie persönlich zu einer winzigen Kabine. Der enge, stickige Raum besaß außer der Tür und einer Lüftungsanlage keine Öffnung. Trotzdem war es Luxus gegenüber den Verhältnissen, unter denen die meisten der anderen Passagiere auf diesem Schiff hausen mussten.

Es war Peter und Lisa klar, dass sie diese Bevorzugung der Höhe des gezahlten Geldbetrages verdankten. Es war offensichtlich, dass bei weitem nicht jeder, der sich an Bord befand, soviel gezahlt hatte. Nun hätten sie den Handel gern rückgängig gemacht, um noch etwas Geld für Truland aufzusparen. Aber dafür war es zu spät.

Es hielt sie nicht in der engen Kabine, und sie gingen zurück an Deck.

Hatten sie angenommen, das Schiff wäre bereits überfüllt, so irrten sie sich. Zumindest schien der Kapitän nicht dieser Meinung zu sein. Immer mehr Passagiere wurden von verschiedenen Zuträgern durch den Kordon der Wachen geführt und an Bord gebracht. Auf den Decks herrschte drangvolle Enge, die Gänge waren nur noch mit Mühe passierbar, aber der Strom der Flüchtlinge ließ nicht nach.

Lisa und Peter hatten sich zur Reling durchgedrängt und sahen hinunter auf den Platz. Die Wachen hatten sich bis dicht an das Schiff zurückgezogen, denn die Zahl der Menschen, die ziellos auf dem Platz herum wanderten oder in kleinen Gruppen zusammen standen, war größer geworden und nahm immer weiter zu. Sie alle ließen das Schiff nicht aus den Augen.

„Sieh mal“, sagte Lisa und wies auf den Platz. Er folgte ihrem Blick. Inmitten der Menschenmenge war für einen Augenblick die Gestalt des kleinen Jungen zu sehen, den sie vor dem Charterbüro getroffen hatten. Er stand unbeweglich und starrte zu ihnen herüber.

„Er muss uns gefolgt sein.“ Lisa hob den Arm, um zu winken, ließ ihn aber im letzten Moment wieder sinken. Dann hatte sich die Menschenmenge vor den Jungen geschoben und ihn ihren Blicken entzogen.

Etwas später sahen sie ihn erneut. Dieses Mal hatte er sich unauffällig der Reihe der Wächter genähert. Doch als er zwischen ihnen hindurch huschen wollte, packte ihn einer der Männer am Arm und schleuderte ihn roh zurück. Ein Murren erhob sich in der Menge. Die Wächter packten ihre Waffen fester und ließen sie drohend kreisen.

Lisa sah Peter bestürzt an. Der hob resignierend die Schultern. Es gab nichts, was sie tun konnten.

Dann änderte sich die Situation schlagartig.

Schon seit geraumer Zeit war das Grollen in der Ferne stärker geworden. Immer öfter zeigten sich über den Dächern der Stadt schwarze Rauchwolken, hier und da sah man auch den rötlichen Widerschein flackernder Brände. Nun ertönte plötzlich in der Luft ein anschwellendes schrilles Heulen, das lauter wurde und sich in Sekundenschnelle näherte.

Den Menschen auf dem Platz war das Geräusch offenbar vertraut, denn sie begannen Schreckensrufe auszustoßen und nach allen Seiten auseinander zu laufen. Auch die Wächter gerieten in Bewegung und wichen zurück bis an die äußerste Kante des Kais. Das Heulen wurde lauter. Die Menschen rannten ziellos durcheinander, warfen sich zu Boden und kreischten in Furcht erfüllter Panik.

Dann explodierte mitten auf dem Platz eine Granate. Der harte Knall erschütterte die Luft. Fensterscheiben klirrten, eine schmutzigrote Glutwolke verbarg die Mitte des Platzes.

Als der Lärm der Explosion verebbt war, klangen schrille Schmerzensschreie über den Kai. Die Glutwolke stieg langsam nach oben und enthüllte einen tiefen Trichter. Seltsam verrenkte Gestalten lagen daneben. Überall auf dem Platz hatten Splitter ihr Ziel gefunden, wanden sich Verletzte auf dem steinigen Boden.

Entsetzt wandten sich Peter und Lisa ab und traten von der Reling zurück. Dann hielt Lisa inne. Sie zwang sich, noch einen Blick auf den Platz zu werfen. Sie suchte nach dem kleinen Jungen. Doch sie konnte ihn nicht entdecken. Peter und sie gingen zurück in die Kabine.

In den Zeiten des Krieges

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