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2.

Am nächsten Tag lief das Schiff aus. Mühsam quälte es sich den Strom hinab und erreichte das Meer.

Die Fahrt entlang der Küste begann. Für Peter und Lisa war sie nicht zu vergleichen mit dem Aufenthalt auf ihrem ersten Schiff. Dort hatten sie die Welt um sich herum und den Ablauf der Zeit vergessen. Hier aber wurden ihnen diese Umstände unablässig ins Gedächtnis zurück gerufen. Das Schiff war bis zum Rand vollgestopft mit Flüchtlingen: mit Menschen, die ihre Heimat verlassen hatten und einer ungewissen Zukunft entgegen fuhren. Ihre Anwesenheit sorgte dafür, dass die beiden ihre eigene Lage niemals vergaßen.

Sie konnten dankbar sein, dass sie zu den wenigen Glücklichen gehörten, die eine eigene Kabine besaßen. So hatten sie zumindest die Möglichkeit, sich zurückziehen zu können und die Tür hinter sich abzusperren.

Sie hatten kaum Umgang mit anderen Passagieren. Lediglich mit den Leuten aus der Kabine gegenüber kamen sie ins Gespräch. Das waren die Eheleute Padersen: Andere wie Lisa, im mittleren Alter. Herr Padersen war ein Geschäftsmann aus Delenden, der mit seiner Frau vor dem heranrückenden Krieg floh. Denn mit den Soldaten kamen auch die Schrecken der Verfolgung aller Anderen nach Delenden.

Es waren nicht viele Andere auf dem Schiff, und so hatte es sich ganz natürlich ergeben, dass die Padersens erst mit Lisa und über sie dann auch mit Peter ins Gespräch kamen. Doch eng wurde der Kontakt nicht; dazu hatte jeder zu sehr an seinem eigenen Schicksal zu tragen.

Peter und Lisa konnten sich nicht immer in ihrer Kabine aufhalten. An manchen Tagen war die Luft in dem engen Raum so von Maschinendämpfen erfüllt, dass sie es nicht aushielten und an Deck gehen mussten. Diese Ausflüge führten jedes Mal vor allem bei Lisa zu großer Niedergeschlagenheit. Sie sahen, dass es viele Menschen an Bord gab, denen es bedeutend schlechter ging als ihnen.

Neben den Flüchtlingen, die schon per Schiff nach Delenden gekommen waren, und denen aus der Stadt befanden sich auch Flüchtlinge an Bord, die aus dem Landesinneren kamen. Dort herrschte der Krieg schon seit Jahren. Diese Bedauernswerten besaßen keinerlei Habe außer dem, was sie auf dem Leib trugen. Und auch das bestand nur aus wenigen zerschlissenen, für die kühle Jahreszeit viel zu dünnen Kleidungsstücken. Es waren abgehärmte, halb verhungerte Gestalten, und nicht wenige waren durch kaum verheilte Wunden von Krankheiten oder Verletzungen gezeichnet.

Dieser Anblick deprimierte Lisa, weil sie darin eine mögliche Variante ihres eigenen zukünftigen Lebensweges sah, und sie drängte dann immer nach kurzer Zeit zurück zur Kabine.

Bei einem dieser Gänge an Deck erneuerten und vertieften sie eine Bekanntschaft, die sie in Delenden begonnen hatten.

Sie standen gerade an der Reling, neben einem der dort aufgehängten Rettungsboote, als sich eine kleine Gestalt neben sie schob und - ohne sie anzusehen- ebenfalls hinaus auf das Meer starrte.

Zuerst fiel sie ihnen nicht auf, denn alle Decks waren schwarz von Menschen. Es gab kaum einen Quadratmeter freien Bodens, und niemand achtete auf den Nebenmann. Aber dann bemerkte Lisa aus dem Augenwinkel, dass sich die Gestalt wie unabsichtlich näher an sie heran schob. Lisa wandte den Kopf und erkannte den kleinen Jungen mit dem wehenden blonden Haar, den sie vor dem Charterbüro in Delenden kennen gelernt hatten, und den sie auf dem Kai vor dem Schiff wieder gesehen und schließlich aus den Augen verloren hatten.

Der Junge tat noch immer, als sähe er hinaus auf das Meer. Lisa stieß Peter an und wies auf ihn. Auch Peter erkannte ihn. Erstaunt sahen sich die beiden an, hatten sie doch bis dahin geglaubt, er wäre in Delenden zurück geblieben, vielleicht sogar der Granate auf dem Kai zum Opfer gefallen.

Da der Junge noch immer keine Reaktion zeigte, es aber offensichtlich war, dass er nicht zufällig neben ihnen stand, blickte Peter ratlos Lisa an. Die lächelte und trat hinter den Jungen. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte ruhig, als begrüßte sie einen alten Bekannten:

„Hallo, wir kennen uns doch?“

Der Junge stand erstarrt unter der Berührung, als wollte er jeden Moment fliehen. Dann löste sich seine Verkrampfung. Er überwand den Fluchtreflex und drehte sich zu ihnen. Schüchtern lächelte er Lisa an.

„Ja, richtig“, meinte Peter, auf Lisas Tonfall eingehend, „in Delenden haben wir uns doch schon kennen gelernt, nicht wahr?“

Unter ihren ruhigen Worten verlor sich die Scheu des Jungen zusehends. Er folgte Peter und Lisa in ihre Kabine, wo sie ihm etwas zu essen gaben. Heißhungrig fiel er darüber her. Bis dahin hatte er kaum ein Wort gesagt, nun aber verlor er auch die letzten Hemmungen und beantwortete bereitwillig ihre Fragen.

Er hieß Bernd und war acht Jahre alt. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er schon immer in Delenden gelebt. Er war ihnen zum Schiff gefolgt, weil sie ihm zu essen gegeben hatten. Als er sah, dass sie an Bord gingen, hatte er ihnen folgen wollen, doch die Wächter ließen ihn nicht passieren.

Dann war die Granate explodiert. Alle Menschen auf dem Kai, auch die Wächter, hatten sich instinktiv zu Boden geworfen. Diesen Moment hatte er ausgenutzt, um auf das Schiff zu springen. In den Menschenmassen auf den Decks konnte er sich verborgen halten und war unbehelligt geblieben. Er hatte schon seit Tagen nach ihnen gesucht. Und heute endlich hatte er Erfolg gehabt.

Soweit sprach der blonde Junge bereitwillig über seine Erlebnisse. Doch als Peter und Lisa ihn nach seiner Herkunft und nach seinen Eltern befragten, wurde er schweigsam. Je mehr sie in ihn drangen, desto verstörter wurde er. Hatte er ihnen bisher wie ein Erwachsener Rede und Antwort gestanden, so kehrte er jetzt immer mehr das Kind heraus. Er gab vor, ihre Fragen nicht zu verstehen, und antwortete zusammenhanglos und verworren. Er wollte oder konnte sich nicht erinnern.

Als Lisa und Peter sahen, in welche Verwirrung sie Bernd stürzten, gaben sie ihre Fragen auf. Sie wussten nicht, was sie mit dem Jungen anfangen sollten, beschlossen aber, diese Frage bis zur Beendigung der Reise zurück zu stellen. Bis dahin konnte Bernie, wie sie ihn von nun an nannten, bei ihnen in der Kabine bleiben.

Auch in der Folgezeit erfuhren sie von ihm nichts über seine Vergangenheit. Den einzigen Anhaltspunkt lieferte die erste Nacht, als beide vom Stöhnen des Jungen geweckt wurden. Er schlief und träumte offenbar, denn sein kleiner Körper rollte hin und her, Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er murmelte vor sich hin. Doch sie konnten nicht verstehen, was er sagte.

Nur einmal wurde seine Stimme deutlich. Er rief nach seiner Mutter, sie solle nicht mit den Wächtern fort gehen. Dann wieder schien er sich in seinem Traum verzweifelt gegen die Wächter zu wehren. Schließlich hielt Lisa es nicht mehr aus, weckte und beruhigte ihn. Um ihn zu schonen, stellte sie ihm keine Fragen. In ihren Armen schlief er wieder ein.

Unermüdlich dampfte das alte Schiff die Küste entlang. Die Tage vergingen im eintönigen Gleichmaß, und so näherten sie sich langsam aber zielstrebig der Enge von Trandaron.

Bisher war von der Besatzung des Schiffes nicht viel zu sehen gewesen. Die Offiziere verließen die Brücke nicht. Nun aber verbreitete sich Unruhe unter den Matrosen, die auch auf die Flüchtlinge übergriff. Die Lautsprecher erwachten zu dröhnendem Leben und gaben unentwegt Verhaltensmaßregeln von sich. Überall auf den Decks waren die Matrosen zwischen den aufgeregten und verängstigten Passagieren anzutreffen, beschäftigt mit allerlei rätselhaften Vorbereitungen.

Sie verhängten die Reling mit Planen, überprüften die Halterungen der Rettungsboote und verteilten eine kleine Anzahl von Schwimmwesten an die Flüchtlinge. Gleichzeitig gab der unsichtbare Kapitän über Lautsprecher bekannt, dass sie sich dem kritischen Teil der Reise näherten, der Meeresenge von Trandaron. Die neuen trandaronischen Behörden hätten jeden Flüchtlingsverkehr unter der Androhung drakonischer Strafen untersagt. Wachboote kontrollierten die Meeresenge. Es käme darauf an, im Verlauf der folgenden Nacht diese Stelle ungesehen zu passieren. Sollte sie aber doch ein Wachboot ausmachen, so wäre es unbedingt erforderlich, dass die Passagiere sich hinter den Planen verborgen hielten und sich nicht von der Stelle rührten.

Angstvolle Spannung befiel die Flüchtlinge, verstärkt durch das Gefühl, den kommenden Gefahren ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Bereitwillig folgten sie den Anweisungen der Besatzung und der Schiffsführung.

Dann kam die Nacht. Das Schicksal schien ihnen wohlgesonnen, denn eine dichte Wolkendecke hatte im Verlauf des Nachmittags den Himmel überzogen. Als die Dunkelheit hereinbrach und alle Lichter an Bord des Schiffes sorgfältig abgeschirmt wurden, konnte man kaum noch den Nebenmann an Deck erkennen.

Totenstille herrschte auf dem Schiff. Nur das leise Vibrieren der Maschinen erfüllte die Luft. An der Bordwand rauschte das Wasser vorbei - laut, viel zu laut erschien es den angstvoll Lauschenden.

Von der Meeresenge selbst sahen die Passagiere nichts. Nur einmal durchdrang ein schwacher Lichtschimmer aus der Ferne die Dunkelheit und enthüllte die dazwischen liegende Wasserfläche. Flüsternd verbreitete sich die Nachricht, dass das Trandaron war.

Sie passierten die Küstenstadt ohne Zwischenfall. Kein Wachboot kreuzte in dieser Nacht ihren Weg, und bald fielen die Lichter Trandarons hinter dem Horizont zurück.

Ein neblig-trüber Morgen dämmerte herauf. Dunstschwaden lagen über der See und verbargen die fernen Küstenlinien auf beiden Seiten der Meeresenge. Allmählich breitete sich Erleichterung an Bord des Schiffes aus. Die Anspannung ließ nach, man glaubte sich in Sicherheit. Die Besatzung allerdings folgte diesem Beispiel nicht. Für die Matrosen war die Gefahr noch keineswegs überwunden.

Und sie behielten Recht. Denn plötzlich wurde die Stille unterbrochen von dem heulenden Klang einer Schiffssirene, die voraus im Nebel ertönte. Sofort reagierte die Besatzung. Sie hieß die wenigen Passagiere, die eine Schwimmweste bekommen hatten, diese anzulegen, sich im übrigen aber ruhig zu verhalten. Dann verschwanden die Matrosen unter Deck. Als sie wieder empor kamen, trugen sie Gewehre in den Händen.

In der Zwischenzeit hatte das Schiff den Kurs gewechselt und lief auf die Küste zu. Der Nebel hatte noch zugenommen. Die Sicht wurde immer schlechter. Wieder ertönte schräg voraus die Schiffssirene. Dann ließ ein plötzlicher Windstoß die Nebelwand aufreißen, und sie erkannten nur wenige hundert Meter vor sich den grauen Rumpf eines kleinen, flachgebauten Schiffes. Dort hatte man sie im selben Moment gesehen, und sofort änderte das Wachboot den Kurs und hielt auf sie zu. Eine unverständliche Lautsprecherstimme dröhnte über das Wasser.

Die Nebelbank schloss sich wieder und trennte die beiden Schiffe. Der Flüchtlingsdampfer wich noch weiter zur Küste hin aus, gleichzeitig wurde auch seine Lautsprecheranlage lebendig und wies die Passagiere an, sich bereit zu halten, notfalls in die Boote zu gehen.

Die Unruhe unter den Passagieren stieg. Erste Panikreaktionen zeigten sich. Ein Mann stellte fest, dass seine Schwimmweste verschwunden war, und fing an, seine Nebenleute des Diebstahls zu bezichtigen. Andere Leute redeten auf die Matrosen ein. Sie riefen, dass sie das Schiff nicht verlassen wollten. Sie müssten doch weiter.

Zum dritten Mal ertönte vor dem Bug die Sirene des Wachbootes. Ihr Ton war unheilvoll nah. Im gleichen Augenblick wandte sich der Kapitän des Flüchtlingsdampfers über die Lautsprecher an seine Passagiere und wies sie an, unverzüglich mit dem Ausbooten zu beginnen. Die Küste wäre nahe, und sie dürften sich nicht an Bord seines Schiffes befinden, wenn es vom Wachboot aufgebracht werden würde.

Nun brach unter den Flüchtlingen entgültig die Panik aus. Die meisten weigerten sich, das Schiff zu verlassen, und wandten sich drohend gegen die Besatzung. Die aber hatte sich auf wenige beherrschende Positionen zurück gezogen und ließ niemanden an sich heran kommen. Irgendwo fiel ein Schuss. Gleichzeitig sprach wieder der Kapitän, diesmal direkt zu seiner Besatzung. Er gab den Befehl, die Flüchtlinge von Bord zu schaffen.

Ein Aufschrei von Wut und Angst antwortete ihm. Eine Anzahl Passagiere drang auf die Matrosen ein, die ihnen die Gewehrläufe entgegen streckten. Sekundenlang zögerten die Herandrängenden, dann wurden sie von denen hinter ihnen weiter geschoben.

Nun eröffneten die Matrosen das Feuer. Sie schossen über die Köpfe der Herandrängenden, vereinzelt aber gab es auch gezielte Schüsse. Mehrere Männer brachen zusammen. Die Menge stockte, dann wich sie zurück.

In der Zwischenzeit hatte eine kleinere Gruppe von Flüchtlingen damit begonnen, Rettungsboote zu Wasser zu lassen, um sich und ihre Familien in dem allgemeinen Durcheinander in Sicherheit zu bringen. Als die Masse das erkannte, überfiel sie die Angst, keinen Platz mehr in den Booten zu finden, die nun schon zum größten Teil neben der Bordwand im Wasser lagen. Rücksichtslos einander zur Seite stoßend rannten die Flüchtlinge an die Reling, kletterten an den ausgehängten Netzen hinab oder sprangen einfach in die Tiefe.

Die Matrosen begannen damit, die Räume, Gänge und Decks des Schiffes zu durchstöbern, und holten aus allen Ecken und Winkeln Menschen hervor, die sich dort versteckt hielten. Erbarmungslos trieben sie sie vor sich her zur Reling und jagten sie über Bord.

Peter und Lisa hatten zusammen mit Bernd die Nacht in der Kabine verbracht. Am frühen Morgen war Peter einmal an Deck gegangen. Das war, als die meisten Flüchtlinge sich schon der Gefahr entronnen glaubten. Mit dieser frohen Nachricht war Peter in die Kabine zurück gekehrt und hatte sich mit Lisa, die wie er die ganze Nacht über kein Auge zugemacht hatte, Schlafen gelegt. Es war dann Bernie, der sie einige Stunden später weckte, als an Bord der erste Schuss fiel.

Alle drei gingen an Deck, wo sie fassungslos den Geschehnissen zusahen. Als sie endlich begriffen, was vorging, hastete Peter noch einmal zurück, um den Rucksack zu holen, der ihre gesamte Habe enthielt. Wieder an Deck zurück gekehrt, konnte er Lisa und Bernie in dem allgemeinen Durcheinander nicht sofort entdecken. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Matrosen bereits mit der Durchsuchung des Schiffes begonnen; die Mehrheit der Flüchtlinge war bereits über Bord oder befand sich an der Reling. Peter erhielt einen Schlag in den Rücken, als er sich noch suchend umsah, und wurde unsanft nach vorn gestoßen, in den brodelnden, um sich schlagenden, stoßenden und schreienden Menschenhaufen hinein.

Über allem dröhnte ununterbrochen der Lautsprecher,klang die heulende Sirene des Wachbootes irgendwo aus dem dichten Grau des Nebels. Peter fand sich unvermittelt an der Reling wieder. Irgend jemand stieß ihn zur Seite, ein anderer schlug blindwütig auf ihn ein. Der Rucksack wurde ihm in dem Gedränge von der Schulter gerissen. Er bückte sich, um ihn aufzuheben. Sofort wurde er unbarmherzig zu Boden geworfen. Leute trampelten über ihn hinweg. Er fühlte einen stechenden Schmerz in der Brust, und von der Stirn lief ihm warmes Blut in die Augen.

Er trat ebenfalls zu, schlug um sich, bahnte sich mit dem Ellenbogen den Weg, und es gelang ihm, wieder auf die Füsse zu kommen. Wenige Meter entfernt entdeckte er nun Lisa, die , krampfhaft den Jungen umklammernd, gerade über Bord gedrängt wurde. Er warf sich nach vorn, spürte das harte Metall der Reling unter sich, zog die Füsse nach, dann fiel er.

Klatschend schlug er auf dem Wasser auf und tauchte unter. Als er wieder die Oberfläche gewonnen hatte, sah er sich hustend und spuckend um.

Er hatte sich ein Stück von der Bordwand entfernt. Rechts und links schwammen gleich ihm Flüchtlinge in dem kalten Wasser, immer mehr stürzten von oben herab. Er entdeckte Lisa. Sie schwamm auf eines der Rettungsboote zu, dabei hielt sie mit einer Hand immer noch Bernd fest an sich gepresst. Peter schwamm hinter ihr her. Rufen hatte in dem allgemeinen Toben keinen Zweck, so sparte er seine Kraft.

Er sah, dass sie das Boot schon fast erreicht hatte. Es lag tief im Wasser und war vollgepackt mit Menschen. Gleich Lisa schwammen von allen Seiten Flüchtlinge darauf zu, aber die Insassen des Rettungsbootes ließen niemanden mehr hinein klettern. Sie traten auf die sich anklammernden Hände, stießen die sich verzweifelt vorwärts werfenden Körper zurück, schlugen mit den Holzriemen auf die Schwimmenden ein.

Lisa jedoch hielt unbeirrt die Richtung bei, und nun erkannte Peter auch den Grund. Denn im Heck des Bootes saß in sich zusammen gesunken das Paar aus der Kabine gegenüber, Herr Padersen, neben ihm in eine Decke gehüllt seine Frau. Lisa schwamm direkt auf die Beiden zu, die sie noch nicht bemerkt hatten. Nun rief Lisa offenbar, denn die beiden sahen auf. Lisa streckte ihnen den freien Arm entgegen, aber der Mann stieß sie zurück und rief ihr etwas zu, was im Lärm unterging. Im gleichen Moment streifte ein Schlag mit dem langen Riemen ihre Schulter.

Lisa versank im Wasser. Nur der Kopf des Jungen blieb über der Oberfläche. Dann kam Peter heran. Er griff unter den Jungen, bekam Lisa zu fassen und hielt ihren Kopf hoch. Langsam trieb die kleine Dreiergruppe vom Rettungsboot weg.

Das Mädchen schüttelte den Kopf und spuckte Wasser. Sie sah sich verwirrt um, dann erkannte sie Peter und ein Ausdruck unendlicher Erleichterung erschien auf ihrem Gesicht. Sie fassten sich unter, den Jungen gemeinsam haltend, und entfernten sich weiter von der Bordwand des Frachters, der allmählich im Nebel verschwand.

Um sich herum hörten sie die Rufe und Schreie anderer Schwimmer, doch sie sahen niemanden mehr. Auch die Rettungsboote waren aus ihrem Blickfeld verschwunden. Es wurde ruhiger.

Peter hatte sich die ungefähre Richtung zur Küste eingeprägt. Er hatte aber keine Ahnung, wie weit sie entfernt war. Auch war er sich jetzt, im Nebel und nach all dem Durcheinander, über die Richtung keineswegs mehr sicher. Doch das ließ er nicht erkennen. Er ermunterte Lisa und den Jungen mit dem Hinweis, dass es nicht mehr weit wäre.

Noch waren ihre Kräfte ungebrochen, aber die Kälte des Wassers setzte ihnen zu, kühlte ihre Körper aus und begann sie zu lähmen. um sich warm zu halten, schwammen sie mit schnellen, kräftigen Bewegungen.

Dann kam der Moment, an dem die Erschöpfung in ihnen zu stark wurde und die Hoffnungslosigkeit überhand nahm. Vielleicht hatte der Kapitän sie belogen und sie weit vor der Küste ausgesetzt. Vielleicht schwammen sie auch in die falsche Richtung. Noch immer lag der eintönige graue Dunst über dem Wasser und verhinderte jede freie Sicht. Längst hörten sie niemanden mehr um sich herum. Einmal war der Schatten eines Rettungsbootes aufgetaucht. Doch als sie riefen, entfernte es sich. Dann waren sie wieder allein.

Längst sprachen sie nicht mehr. Sogar das Denken versuchten sie zu vermeiden, denn die eigenen resignierenden Gedanken waren ihr schlimmster Feind. Sie hatten Mühe, den völlig erschöpften Jungen über Wasser zu halten, aber diese gemeinsame Aufgabe stachelte sie immer wieder an, sich noch einmal aufzuraffen und sich nicht aufzugeben.

Dann endlich setzte sich die Sonne gegen den Nebel durch. Der Dunst wurde lichter und hob sich von der Wasserfläche. Und sie sahen vor sich den Rettung verheißenden Strand.

Ein letztes Mal mobilisierten sie alle Energien, bis sie Grund unter den Füßen fühlten. Taumelnd stiegen sie aus dem Wasser und sanken auf dem Strand nieder.

Endlos lange Minuten lagen sie so, keuchend nach Atem ringend und unfähig zu sprechen. Sie starrten in den grauen Himmel über sich und nahmen sonst nichts von ihrer Umgebung wahr. Als sie soweit waren, dass sie wenigstens den Kopf bewegen konnten, wandten sie sich ihre Gesichter zu und sahen sich an, als wollten sie sich vergewissern, dass sie tatsächlich hier nebeneinander lagen.

Ein Kälteschauer schüttelte Peter. Die nasse Kleidung konservierte die Kälte des Wassers. Dazu kam eine kühle Brise, die beständig vom Meer her wehte. Er richtete den Oberkörper auf.

„Wir dürfen hier nicht liegen bleiben“, sagte er Lisa, „wir müssen uns unbedingt warm halten.“

Sie nickte nur, noch zu erschöpft, um zu sprechen. Dann sah sie sich nach Bernd um. Als sie aus dem Wasser kamen, war der Junge gleich ihnen auf dem Strand nieder gesunken. Inzwischen war er schon wieder aufgestanden und sah sich neugierig um. Lisa zog ihn zu sich heran. Mühsam fragte sie:

„Frierst du sehr?“

Er schüttelte verbissen den Kopf:

„Nein, gar nicht.“

Sie lächelte. Peter richtete sich auf und nahm den Jungen an der Hand:

„Na, komm, beweg dich ein bisschen. Das wird dir gut tun.“

Gemeinsam liefen sie über den breiten Strand und die anschließende Düne hinauf. Lisa folgte ihnen. Dann standen sie auf dem obersten Punkt. Vor ihnen lag das weite, von keiner Erhebung unterbrochene Land der Küstenregion, überwölbt von einem grauen Wolkenhimmel, den die Sonne nur an wenigen Stellen durchbrechen konnte. Es war ein trostloses Land, bewachsen von dürrem Gras, Flechten und vereinzelten verkrüppelten Sträuchern und Bäumen. Kein Weg zeigte sich, kein Haus war zu sehen, keinerlei Spuren menschlicher Besiedlung. Von den Menschen selbst ganz zu schweigen.

Bedrückt sahen die drei auf das Land hinter den Dünen. Nachdem die Erleichterung über die unmittelbare Rettung abgeklungen war, überfiel sie mit drückender Schwere die Erkenntnis ihrer Lage.

Außer dem, was sie auf dem Leibe trugen, besaßen sie nichts mehr: nur die feuchten, nasskalten Kampfgruppenuniformen, sonst nichts. Mit dem Rucksack hatten sie die Regenumhänge verloren, die Wolldecke, das so wichtige Messer und ihre gesamten Vorräte. Sie standen vor dem Nichts. Hinter ihnen lag das feindliche Meer, vor ihnen das unbekannte Land des Krieges.

Peter sah zum Himmel hinauf. Die Wolken verhinderten einen Blick auf die Sonne, aber aus der Helligkeit schloss er, dass es etwa Mittag sein musste. Es war ein wenig wärmer geworden - vor allem, weil sich die kühlende Seebrise gelegt hatte.

In den Zeiten des Krieges

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